Der Konzerttechniker Torben Garlin im Interview

Text und Fotos · Datum 28.3.2018

Kantstraße 17 in Berlin-Charlottenburg. Unweit vom Zoologischen Garten. Es schneit noch ein letztes Mal, bevor es nächste Woche über 15 Grad warm werden soll. Berlin sonnt sich wolkenbehangen in seiner grauen Hässlichkeit. Hier auf Höhe der Uhlandstraße steht das 1999 eröffnete stilwerk-Gebäude, in dem Wohn-Design auf ganz hohem Niveau präsentiert wird. Alles sehr schick. In der vierten Etage trifft man auf ganz andere Arten von »Einrichtungsgegenständen«. Hier residiert C. Bechstein. Zahlreiche Flügel sind ausgestellt, es ist still, modern und freundlich. Hier treffe ich den Konzerttechniker Torben Garlin zu einem Interview.

VAN: Wo kommt die Klavierfirma Bechstein eigentlich her?

Torben Garlin: Aus Berlin! In Kreuzberg gab es damals ein schönes altes Backsteingebäude. Da sind jetzt irgendwelche Loft-Studios drin. Kurz vor der Wende ging es dann an den Moritzplatz, in ein Gebäude, in dem sich jetzt der Aufbau-Verlag befindet. Nach der Wende gab es mehrere Möglichkeiten. Bechstein übernahm damals die Klaviermarke Zimmermann, die vorher der staatlichen VEB Deutsche Piano-Union gehört hatte. Und seitdem werden unsere Instrumente im sächsischen Seifhennersdorf hergestellt.

Torben Garlin über seine Tätigkeit bei C. Bechstein

Zwei Männer im grauen Blaumann schieben einen großen neuen Flügel in den Präsentationsbereich und beginnen ihn auszupacken. Das ist relativ laut und so wechseln wir den Ort und gehen rüber in den anderen Teil der großzügigen Dependance.

Ich habe mal gehört, dass es sowohl bei Flügeln als auch bei allen Orchesterinstrumenten keines gibt, das ›vegan‹ ist. Stimmt das?

Ja. Das ist richtig. Es gibt ganz viele tierische Anteile! Früher waren die Tasten ja aus Elfenbein – und sind es zum Glück nicht mehr, worüber sich auch niemand beschwert. Die Führung der Tasten, damit die seitlich nicht schlackern, ist aus Filz oder Leder. Auch in der gesamten Mechanik findest du viele tierische Anteile. Da gibt es mittlerweile Ersatzprodukte, die weniger Abrieb haben. Für die Hammerköpfe beispielsweise wird allerdings immer noch Schafwolle verwendet.

Was ist hier bei C. Bechstein deine genaue Aufgabe?

Ich leite den Konzerte- und Institutionsservice. Das heißt, ich arbeite beispielsweise mit Hochschulen zusammen, wo Instrumente stehen, kümmere mich um den Service, leite den technischen Hochschulvertrieb und bin für alle Konzerte unter dem Label C. Bechstein zuständig. Ich betreue außerdem CD-Aufnahmen und schule Konzerttechniker.

Als Kind hatten wir das Buch deines berühmten Klavierstimmer-Kollegen Franz Mohr, inzwischen 90 Jahre alt, im Bücherschrank stehen: ›Große Pianisten, wie sie keiner kennt‹ (Basel 1993). Vor allem erinnere ich mich, wie Mohr die Erlebnisse mit Vladimir Horowitz beschrieb. Rollt jemand wie du mit den Augen, wenn es um solche Klavierstimmer-Anekdoten geht?

Nein. Überhaupt nicht. Ich freue mich darüber. Das lenkt mal den Fokus auf unsere Arbeit, denn man sieht und hört uns ja nie, jedenfalls nicht bewusst. Und diesen Konzerttechniker-Superstars, denen kann man ja nacheifern. Es ist toll, wenn man es erst einmal geschafft hat, für berühmte Pianisten zu arbeiten. Da entstehen dann persönliche Beziehungen mit den Künstlern. Kit Armstrong ist so jemand, der sehr gerne auf C. Bechstein spielt. Da hat sich eine Freundschaft entwickelt. Das hat auf der einen Seite viel mit der eigenen Persönlichkeit zu tun und auf der anderen Seite natürlich mit der Qualität deiner Arbeit. Deshalb sind Franz Mohr und Co. Werbung für unsere Zunft. Da rolle ich nicht mit den Augen. Eher dann, wenn die Frage kommt, ob ich denn ein absolutes Gehör habe…

…Hast du denn ein absolutes Gehör?

(lacht) Nächste Frage.

Wie sieht so eine Zusammenarbeit mit einem Pianisten wie Kit Armstrong konkret aus?

Das ist eine Ganztagsbetreuung des Instruments im Austausch mit dem Künstler. Der Flügel wird angeliefert oder ist bereits vor Ort. Ich bereite das Instrument vor, dann wird der Flügel eingespielt. Ich bin bei der Probe mit dabei und immer in der Nähe, um auf Wünsche zu reagieren. Meine eigentliche Aufgabe ist ja, dass sich der Musiker durch meine Arbeit so wohlfühlt, dass er sich nicht mehr auf das Instrument konzentrieren muss. Denn sobald es dort minimale Unterschiede in der Spielart oder der Intonation gibt und der Musiker merkt, dass es etwas anders klingt als gewünscht, dann ist er aus der Musik raus. Und das soll nicht passieren.

Wie kommt es dann, dass es tatsächlich CD-Aufnahmen gibt, bei denen der Flügel richtig verstimmt ist?

Das hat mit dem Gesamtkontext zu tun. Wenn du eine CD-Aufnahme machst, dann mietest du dir einen Saal und entweder steht da ein Flügel drin oder du musst dir einen mieten. Der Flügel wird dann erst einmal morgens und dann in der Aufnahmepause gestimmt. Wenn du einen Partner findest, zum Beispiel einen Hersteller, dann bleibt der Klavierstimmer den ganzen Tag mit dabei und kann dann reagieren. Aber letztlich ist es auch eine Geldfrage. Es ist ja nicht so, dass man von den Labels eine CD-Aufnahme geschenkt bekommt. Viele Pianisten investieren eigenes Geld für eine Produktion.

Was kannst du über die perfekte Intonation des Instruments hinaus tun, damit sich der Pianist mit seinem Flügel wohlfühlt? Kannst du beispielsweise den Tastenanschlag einfach schwerer oder leichter machen?

Die Kommunikation mit dem Künstler funktioniert auf einer ganz bestimmten Ebene. Kein Pianist sagt: ›Kannst du diese Taste mal etwas leichter machen?‹ Es geht um das Gefühl beim Spielen. Um die Verbindung von Klang und Mechanik. Wenn du einen bestimmten Ton hast, dann hat der ein bestimmtes Spektrum, vom Pianissimo, über das Mezzoforte bis hin zum Fortissimo. Du musst die Taste auf bestimmte Weise drücken, um eben das dynamische Spektrum hervorzukitzeln. Wenn der Hammerkopf jetzt sehr viel weicher ist, dann musst du, um den Klang, den du im Ohr hast, zu produzieren, doller drücken. Und dann hast du das Gefühl, die Tasten seien schwerer. Wenn der Hammerkopf sehr hart ist, dann fühlt sich der Anschlag leichter an, obwohl an der Klaviatur überhaupt nichts gemacht wurde.

Was wünscht sich denn ein Pianist wie Kit Armstrong für einen Klang? Über was redet ihr an einem Konzert- oder Aufnahmetag?

Das ist meistens ziemlich abstrakt. Kit sagt Dinge, wie: ›Ich möchte, dass die untere Lage eher wie ein Männerchor klingt. Die Mittellage stelle ich mir vor wie von einem Cello gespielt. Und nach oben hin soll es wie eine Oboe klingen.‹ Und dann bin ich dran. Und das funktioniert, weil man über die Zeit der Zusammenarbeit eine gemeinsame Sprache entwickelt hat. Durch das gemeinsame Verstehen in der verbalisierten Klangvorstellung.

In dem besagten Franz-Mohr-Buch ist mir eine Szene in Erinnerung geblieben: Horowitz wollte wohl immer, dass die Tasten sich geradezu ›klebrig‹ anfühlen, bis Mohr einmal, mehr aus Verzweiflung, weil Horowitz schlecht gelaunt war, Haarspray auf die Klaviatur sprühte. Hast du schon einmal den Wunsch eines großen Pianisten ausgeschlagen, weil du das vor dir selber und deiner Handwerkskunst nicht verantworten konntest?

Eher nicht. Es gibt schon bestimmte Grenzen, die ich nicht überschreiten würde und man rät schon mal von bestimmten Dingen ab. Zum Beispiel, wenn jemand einen ganz besonders weichen Klang möchte… Da besteht die Gefahr, dass so ein Klavierhammer totgestochen wird…

Was heißt das: ›Klavierhammer totstechen‹?

In den Filz des Klavierhammers, der sich über dem Holzkern befindet, kann man mit einer Nadel kleine Löcher stechen. Da gibt es bestimmte Spannungsbereiche im Filz. Wenn ein Hammer im Pianissimo die Seiten berührt, dann tut sich nicht viel. Wenn man lauter spielt, dann wird der Filz gebalgt wie ein Ball. Der Filz muss also elastisch sein. Und eben das kann man dadurch einstellen, indem man mit der Nadel in den Filz sticht und so die Spannung herunternimmt, weil die Struktur des Stoffes etwas weicher, etwas lockerer wird. Wenn man das übertreibt, dann zerstört man die Struktur und das Ganze verliert an Elastizität. Dann hast du quasi einen Wattebausch, der die Saiten berührt.

Lernt man eigentlich als Klavierbauer gleichzeitig das Klavierstimmen?

Richtig. Das gehört mit zur Ausbildung. Und wird bis zu einem bestimmten Grad auch geprüft. Wofür man sich dann genau entscheidet hat natürlich mit der Veranlagung zu tun. Klavierstimmen ist ja eine künstlerische Tätigkeit. Du kannst mit einem guten Gehör dabei auch einfach zur Handwerkskammer gehen und sagen, dass du dich ohne Ausbildung als Klavierstimmer selbständig machst. Und dann kannst du theoretisch loslegen.

Über die Realisierung von gutem Klavierklang

Berlin ist ja die Stadt der Künstlerinnen und Künstler und leider auch der Dumpinghonorare. Ich kenne Klavierstimmer, die für 40 Euro Instrumente stimmen.

Es gibt immer welche, die irgendetwas billiger machen. Du musst halt selber bewerten, wie dein Klavier sich nach dem Stimmen anfühlt und ob da jemand einen guten Job gemacht hat. Manche machen das mit einem Stimmgerät, manche ohne. Vor allem kommt es darauf an, dass die Stimmung lange hält. Du musst gewährleisten, dass das, was du von dem Ton hörst, durch deinen Arm und den Stimmhammer in den Stimmwirbel und damit in die Saite geht und dort Bestand hat.

Aber warum genau hält dann eine Klavierstimmung länger als die andere?

Zum Beispiel wegen der Art, wie du den Stimmwirbel, um den die Saiten gewickelt sind, ›setzt‹. Wenn du die Saite von unten hochziehst und dann auf dem im Grunde korrekt gestimmten Ton stehen bleibst, dann klingt das im Piano okay. Wenn du dann aber laut drauf spielst, dann sackt der Ton wieder ab. Du musst also etwas mit dem Stimmwirbel machen, damit dieser ausbalanciert ist. Das ist beim Stimmen das Wichtigste, sonst kann das während des Konzerts die Intonation kaputtmachen. Du setzt dich als Konzerttechniker ins Publikum und hörst plötzlich: Da fängt etwas an zu wackeln. Das ist natürlich der Super-GAU und darf überhaupt nicht passieren.

Du trittst also mit dem Stimmwirbel quasi in eine Schwingungskommunikation ein?

Genau. Ich gehe mit der Stimmung ein wenig nach oben, dann wieder nach unten und so weiter. Das ist eine Verbindung von Drehung und Biegung. Das braucht extrem viel Übung. Die eine Sache ist, das alles auf einen Ton ziehen. Und die Ausbalancierung des Stimmwirbels ist der nächste Schritt.

Nicht-vegane Musikinstrumente, nachhaltiges Klavierstimmen und das Totstechen von Hämmern in @vanmusik.

Es gibt also so etwas wie eine ›Nachhaltige Klavierstimmung‹?

Richtig. Und so eine nachhaltige Stimmung kann auch bedeuten, dass du ein Instrument zwei Mal hintereinander stimmen musst…

also: Einmal am Anfang, dann Pause – und dann einfach noch einmal?

Genau, du musst Stabilität in ein stark beanspruchtes und lange nicht gestimmtes Instrument reinbekommen.

Wirst du dann dafür auch nur einmal bezahlt?

Ja. Aber dafür bin ich dann sicher, dass das Instrument gut klingt und stabil die Stimmung hält.

Abschließende Frage: Gibt es eigentlich Klavierstimmer-Witze?

(denkt nach). Nee, nur so Blödsinn: ›Ihr Klavier ist verstimmt!‹ – ›Worüber denn?‹ Tiefgründiger wird es nicht. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.