Der Eine so, der Andere so
Letztens schrieb Hartmut Welscher in einem umfangreichen Artikel Erzähl doch mal was von dir, dass der Klassikkultur bei der Denkmalwerdung die Ich-Erzählungen abhandengekommen seien. Dem entgegnete ergänzend Holger Noltze, Ich-Erzählungen gebe es mehr als genug und Immer die alten Geschichten seien auch keine Lösung, der klischeebeladene Biographismus von Klassik-Expertendarstellern ein dem Wesentlichen, dem Entdecken der Musik, im Weg stehendes Hindernis. Ja was denn nun?
Ist es legitim, David Bowie mit Pierre Boulez zu vergleichen? Ja, unbedingt! Beide waren faszinierende Künstler, in ihren jeweiligen Bereichen radikale Avantgardisten, haben sich immer wieder neu erfunden und in den unterschiedlichen Schaffensphasen ihres Lebens Musikgeschichte geschrieben. Dass die öffentlich zur Schau gestellte Trauer ihrer Anhänger so unterschiedlich ausfiel, muss jedoch differenzierter betrachtet werden, als Welscher es getan hat. Freilich spiegeln sich Kulturen »in der Trauer um ihre verglühten Helden«, doch lassen sich die Reaktionen nicht nur auf allgemeine Unterschiede zwischen sogenannter Pop- und Klassikkultur zurückführen.

Bowie war bei seinem Tod gerade erst 69 Jahre alt geworden, die Generation seiner Fans – in der Pop- und Rockmusik in der Regel jünger als ihre Idole – großteils noch mitten im Leben und von dem unerwarteten Tod des Stars überrascht. Seine West-Berliner Lebensphase, aus der eine ikonische Alben-Trilogie hervorging, ist zudem als Sinnbild eines lokalen und zeitgeschichtlichen Mythos im Moment schwer angesagt: Mit Bowie starb auch ein Stück der guten, wilden (Berliner) Zeit – und somit auch ein Teil jener beharrlich aufgewärmten Geschichten, wie sie sich eigentlich nur noch in den längst verbürgerlichten Milieus zwischen Mitte und Kreuzberg erzählt werden.
Boulez dagegen dürfte im hohen Alter von 90 Jahren die meisten Menschen seiner Generation überlebt haben und starb nach langem Leben sowie am Ende auch langer Krankheit. Dass in der Hauptstraße 155 im Berliner Stadtteil Schöneberg nach der plötzlichen Mitteilung von Bowies Tod haufenweise Blumen, Plattencover und Abschiedsnachrichten abgelegt wurden, im gediegenen Baden-Baden für Boulez dagegen eher nicht, verwundert insgesamt also kaum.
Pop vs. Klassik?
Fair enough, Hartmut Welscher will schließlich auf Größeres hinaus. Eine seiner Kernthesen lautet, dass die Popkultur für privatistische Ich-Erzählungen generell anschlussfähiger sei als die Klassik, dass also Geschichten von der Art wie »David Bowies Musik hat mir einmal das Leben gerettet« oder »Mit den Smiths habe ich meinen schlimmsten Liebeskummer kuriert« in erster Linie vom Pop, nicht aber von der klassischen Musik gefördert würden. Für Welscher hat das vor allem mit der Weise zu tun, wie über verschiedene Arten von Musik gesprochen und geschrieben wird, oder mehr noch: welche Formen der persönlichen Äußerung von ihren Anhängern akzeptiert und kultiviert werden. Dabei scheint für ihn die Popkultur einen freundlichen, offenen, noch die schlichteste Privatanekdote herzlich begrüßenden Diskurs zu führen, während »die Klassik-Fans« eine Festung bewohnen, deren schwere Zugbrücke nur für die Würdigsten unter den Würdigen heruntergelassen wird.
Mainstream oder Nische?
Ganz so simpel ist es aber nicht. Denn weder lässt sich die Popmusik-Hörerschaft rückstandslos auf eine fröhlich-affirmative Groupie-Schar verniedlichen, noch besteht die Klassik-Szene mitsamt ihren Anhängern ausschließlich aus Denkmalschützern oder intellektuellen Extremsportlern. Auf die gemeinen Hit-Radio-Hörer schauen die Diederichsen-lesenden Fans kalifornischer Acid-Punk-Bands mit vierstelligen Facebook-Likes in der Regel mindestens ebenso verächtlich wie Neue-Musik-Aficionados auf die Besucher eines Arena-Konzerts von Anna Netrebko. Die Distinktionsmanöver, die Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede aufgezeigt hat, funktionieren auch innerhalb der Milieus selbst und perforieren zugleich deren Grenzen. Zwischen Fans der Pop-Avantgarden und Boulez-Connaisseuren oder Besuchern von HipHop-Jams und dem Publikum von Opernhäusern bestehen dabei mehr Ähnlichkeiten, als man zunächst glauben mag. Sprache, Habitus oder schlicht Kleidung wirken dabei immer zugleich gemeinschaftsstiftend und ausschließend. Wer dazugehören und im jeweiligen Milieu nicht auffallen will, passt sich einfach an, verkleidet sich entsprechend.

Exklusion inklusive
Einer der beiden Autoren dieses Textes hatte vor einigen Jahren bei seinem spontanen Erstbesuch der Bayerischen Staatsoper – auf dem bisher mit Abstand teuersten Opernticket seines Lebens für Petrenkos und Warlikowskis Frau ohne Schatten von Richard Strauss – das Vergnügen, beim Aufsuchen seines wunderbaren Platzes mitten im Parkett von mehreren feinen Damen und Herrschaften besorgt gefragt zu werden, ob er sich nicht verirrt hätte, und sich mal so richtig schön underdressed zu fühlen in Pulli und Jeans. Dieses Erlebnis unterschied sich allerdings kaum von der eisigen Ablehnung, die ihm beim ersten Besuch eines HipHop-Jam in der schwäbischen Provinz widerfuhr, wo der naive Lateinschüler auf Suche nach zeitgenössischen Alternativen zu Ovids Metamorphosen unterwegs war.
Man könnte das werten und beklagen. Man könnte aber ebenso feststellen, dass kulturelle Soziotope und ihre Ausschlussmechanismen ja auch ihr Gutes haben. Sie schaffen Orientierung und dienen im besten Fall der Pflege, ja dem Schutz der jeweiligen Subkultur und ihrer Inhalte, auch wenn das nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Auch Fuck tha Police und die entsprechende Attitüde ist von der Style-Polizei vehement verteidigt worden.
In eine ähnliche Kerbe wie Welscher schlug zuletzt Berthold Seliger, Autor des Buches Klassikkampf. In einem Interview kritisierte er die ideologische Funktion der klassischen Musik: »Sie ist eine Art Fake, eine Konstruktion der Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] Zur Absicherung der Herrschaft benötigte die herrschende Klasse verschiedene Instrumente der Loyalitätssicherung, und dazu gehört eben auch die kulturelle Hegemonie.« Gleichzeitig aber beklagt Seliger, dass die jungen Leute wegbleiben: »Vierundneunzig Prozent der unter 25jährigen haben im letzten Jahr weder Opernaufführungen noch Klassikkonzerte besucht.«
Doch ist es nicht genau der (ab)wertende Ton dieses Lamentos, dieser Bildungszwang zum Wahren, Schönen und Guten bekehrt werden zu müssen, der junge Menschen die Klassik und ihre oftmals leicht muffig wirkende Sphäre meiden lässt? War es schädlich, als Kind der 90er Jahre bei »Alban« eher an »Dr.« (It’s my life) statt an »Berg« (Sieben frühe Lieder) gedacht zu haben, um dann erst als über 25jähriger der Faszination von Wozzeck und Lulu zu erliegen und zum Opernjunkie zu werden? Durchschaut man in jungen Jahren nicht bereits die Leichtigkeitslüge (siehe auch das gleichnamige Buch von Holger Noltze), die einem von anbiedernden Vermittlern aufgetischt wird und verschiebt möglicherweise unbewusst bestimmte Inhalte auf später im Leben?
Kritik der Kritik: eine Kritik
Vielleicht geht es insgesamt doch eher um Sprach- und Vermittlungsprobleme: Wenn Hartmut Welscher etwa schreibt, dass zahlreiche »Eigenschaften von Pop in der klassischen Musikkultur getilgt« seien und als Beispiele hierfür den Mangel an »Verführung«, »Überwältigung« und »Identifikation« nennt, dann muss man erwidern: Sie sind nicht getilgt, es fehlt nur an einem geeigneten Vokabular, sie zu beschreiben. Das aber ist kein Problem des klassischen Musikbetriebs, sondern eines des traditionellen Musikjournalismus und wahrscheinlich auch der Musikwissenschaft. Keine Frage: Das »bürgerlich-formalisierte Konzertformat«, von dem Welscher schreibt, ist eine Herausforderung, gerade weil es allein die Musik sprechen lassen will. »Musik allein« gibt es aber nicht. Jedes öffentliche Musizieren ist immer auch ein performativer Akt, jedes Konzert, jedes Programm eine Setzung – mitunter sogar eine politische.
Wie Welscher auch anmerkt, zeigt die Musikkritik alter Schule an den performativen, dramaturgischen und politischen Elementen des klassischen Konzertbetriebs aber nach wie vor ein erstaunlich geringes Interesse – und verengt damit wiederum den Kanal, über den sich so etwas wie Verführung, Identifikation oder Überwältigung auch jenseits des reinen musikalischen Materials erleben ließe. Dennoch ist generell eine Öffnung und Fortentwicklung zu beobachten – dank der medientechnischen Revolution des Internets, das jenseits altbewährter Leitmedien vielfältigste Verbreitungsmöglichkeiten geschaffen hat, nicht zuletzt für Online-Magazine wie dieses oder Blogs wie Mehr Ausdruck der Empfindung als Kritik. Und was ist eigentlich schlecht an Internet-Fan-Foren voller Ich-Botschaften, Holger Noltze?
Identifikationspotentiale
Die Faszination des Pop besteht darin, dass seine Erzeugnisse in erster Linie nicht als »absolute Musik«, sondern vielmehr in ihrem Strukturzusammenhang funktionieren, meist auch verkörpert in der Einheit von Komponist, Werk und Interpret. Pop ist immer auch Musik über andere Musik, Reflexion, Aneignung, Geste, Destruktion und Rekonstruktion. Michael Jackson bedeutet immer auch »Schwarz und Weiß«, David Bowie immer auch »Gender«: Themen, die das Identifikationspotential erheblich erhöhen.
In der klassischen Musikkritik und -wissenschaft ist es hingegen noch immer das scheinbar monolithisch auf die Erde gestürzte »Werk«, dem alle Aufmerksamkeit gilt. Wer sich demgegenüber anschickt, etwa von Tschaikowskis Homosexualität ausgehend auf die Gestaltung seiner Symphonie Nr. 6 Pathétique zu schließen, wird noch immer als unwissenschaftlicher Anekdotenonkel abgestempelt. Aber Tschaikowski konnte diese letzte Symphonie nur schreiben, weil er schwul war. Genauso wie David Bowie Heroes nur schreiben konnte, weil er in West-Berlin gelebt hat. Nicht ausschließlich deshalb, aber eben auch nur deshalb. Die Musik selbst erzählt diese Geschichten. Nur das öffentliche Nach- und Forterzählen fällt vielen anscheinend noch schwer.

Andererseits: Ist nicht die Abstraktion in der klassischen Musik, die Trennung von Komponist, Werk und Interpret, ihre große Stärke? Bietet nicht gerade die Erfahrung von Überzeitlichkeit, der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit(en) und Gegenwart das Faszinierende und Identitätsstiftende an dieser Musikkultur? Dass Gefühle und Gedanken, in Noten verschriftlicht, Jahrhunderte überdauern können, musikalische Mitteilungen genauso aus dem Jenseits wie von Zeitgenossen empfangen werden können? Braucht es zwingend all die Geschichten drumherum, wenn die eigentliche Botschaft durch die Musik direkt empfangen und individuell verstanden werden kann? Das ist es, was Holger Noltze als »aufregend«, als »Begegnung mit einem Anderen« bezeichnet.
Im besten Fall hat man das Glück, durch packende Aufführungen sowie Aufnahmen verführt und überwältigt zu werden, so dass gar eine dreifache Identifikation oder auch Auseinandersetzung mit Komponisten, Werken und Interpreten möglich ist. Was will man mehr? Lassen wir doch jeden nach seiner Façon glücklich werden, ob im Mainstream oder als Nischen-Nerd, ob mit Klassik, Pop etc. und trauen wir uns, noch mehr über unsere Hingabe zu Musik zu erzählen. »Es gibt nur cool und uncool, und wie man sich fühlt.« ¶