Arno Lücker geht mit Thomas Ostermeier ins Konzert. Ostermeier Jahrgang 1968, in Soltau geboren, in Niederbayern aufgewachsen, ist seit 1999 der Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz und mit Frank Castorf zusammen der bekannteste Theaterregisseur Deutschlands. An der Schaubühne inszenierte er zuletzt Die kleinen Füchse – The Little Foxes von Lillian Hellman (2014), Richard III. von William Shakespeare (2015) (komplett bei Arte zu sehen) und Bella Figura von Yasmina Reza (2015). Genau eine Woche vor seiner eigenen Premiere von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi erlebten Ostermeier und unser VAN-Autor in der Philharmonie Christian Thielemann, Gidon Kremer und in der »Late Night« Simon Rattle und die Sopranistin Barbara Hannigan. Es spielten jeweils die Berliner Philharmoniker. Einmal in großer, einmal in kleiner – mit Gästen durchmischten – Besetzung.
Es ist ein verhältnismäßig milder, etwas feuchter Samstagabend im Berliner Dezember. Ich bin an einer stattlichen Männererkältung erkrankt. Schon zum x-ten Mal dieses Jahr. Vermutlich Vorzeichen einer bald eintreffenden, fatalen End-Diagnose, die mich aber nicht abhält, Thomas Ostermeier zu treffen, den ich vor vier Wochen bei einer Fernsehsendung kennengelernt habe.
Am Bahnhof Zoologischer Garten kommt der 200er-Bus nicht. Immer, wenn ein Konzert in der Philharmonie ansteht, tummeln sich die älteren Herrschaften schon Minuten vor Ankunft des Doppeldeckerbusses hier in freudig-hassender Haltestellenbereichsaggressionsbereitschaft. Während der Einstiegssituation werden die Ellbogen präsentiert als gälte es, Berlin doch noch ein allerallerletztes Mal vor den Russen zu verteidigen. Jedes Mal nehme ich in solchen Situationen mehr Abstand von dem Wunschgedanken eines längst nicht mehr existierenden Poesiealbums, klassische Musik mache rücksichtslose Menschen zu guten Wesen für ein Leben in Frieden und Gesundheit.
Der 200er kommt tatsächlich gar nicht! Auf der Suche nach einem Taxi drängeln sich ebenfalls Senioren mir vor, ein Taxifahrer drückt mich sogar auf der App weg. Vor dem Waldorf Astoria, immer noch ein 450-Millionen-Fremdkörper hier in der einstigen Hood von Christiane F., erwische ich dann einen Wagen und bin acht Minuten vor dem Konzert da. Bei der Ankunft entschuldige ich mich bei Ostermeier und seiner Freundin, einer Geigerin und Performerin. »Nicht nötig«.
Ostermeier hat sich schon informiert, meint, Freunde, die im gestrigen Konzert gewesen seien, hätten ihm geflüstert, der Bruckner sei »kein Muss«. Gemeint ist Anton Bruckners dritte Messe, die Christian Thielemann zusammen mit Solisten, dem Rundfunkchor und den Berliner Philharmonikern nach der Pause geben wird.
Zunächst steht Sofia Gubaidulinas zweites Violinkonzert In tempus praesens auf dem Programm. Gubaidulina hat ihr erstes Violinkonzert Gidon Kremer (Offertorium, 1980) und ihr zweites Anne-Sophie Mutter (2007) gewidmet. Kremer spielt interessanterweise aber Mutters Konzert, nicht das seinige. Wie bei der schönen Verdrehung des Botho-Strauß-Titels neulich beim zum Heulen schönen Marthaler-Abend in der Volksbühne – Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter – verlangt es hier nach der Frage, ob Anne-Sophie Mutter auch gleichzeitig irgendwo auf der Welt dann Kremers Konzert spielt. Aber so konsequent ist man in der Klassikwelt ja leider nicht. Ich freue mich auf den Abend mit Ostermeier, denn ich finde die Theaterszene manchmal so viel lebensvoller als meine großartig glatte E-Musik-Sparte.
Das Konzert beginnt. Romanautor und Hobbykritiker Albrecht Selge grüßt mich winkend von ein paar Plätzen weiter in derselben Reihe. Kremer und Thielemann treten auf. Ein paar zu spät kommende Herrschaften werden in den Saal geführt und nehmen ihre Plätze rechts in der ersten Reihe ein. Thielemann dreht sich zu ihnen um – und mit beschwichtigenden Gesten bedeutet er den Senioren, alles ganz ruhig angehen zu lassen. Ich ertappe mich wieder einmal dabei, Thielemann eigentlich ganz süß und sympathisch zu finden. Das Violinkonzert beginnt. Früher hätte ich so einer Musik gar nicht wirklich aufgeschlossen zugehört, dachte zwanghaft, zeitgenössische Werke müssten immer hart, geil und »aktuell« wie Xenakis klingen. Aber die Gubaidulina kann schon was. Ich bin froh, dass ich so viel entspannter geworden bin. Wie gesagt: Wahrscheinlich, weil ich aller Voraussicht nach bald sterben werde.
In der Pause steht Ostermeier in der Nähe der Garderoben auf der ersten Philharmonie-Etage ganz nah vor mir und beantwortet meine Fragen. Ich will ihn nicht anstecken, doch bin ich auch beeindruckt von seiner Präsenz und Offenheit.
Ostermeier: Bevor ich drüber rede, hätte ich gerne noch zwei, drei Informationen, wie das Stück von Gubaidulina entstanden ist. (lacht)
VAN: Das ist jetzt zu spät, Herr Ostermeier!
Ja, ich bin ganz schlecht vorbereitet.
Ich kenne auch nur den Titel des Werkes: In tempus praesens… Haben Sie denn überhaupt ein konkretes Verhältnis zur zeitgenössischen Musik?
(Antwortet nicht.)
Oder mögen Sie zeitgenössische Musik nicht?
Äh, wieso? Nein, total! Ich fühle mich ein bisschen unberufen, darüber zu sprechen, aber ich habe eine große Faszination dafür. Und ich versuche so langsam, mich da reinzuarbeiten und das zu verstehen. Aber die meiste zeitgenössische Musik, die ich mir in Konzerten anhöre, höre ich mindestens genauso aufgeschlossen und interessiert wie die klassischen Werke. Oder sogar noch aufgeschlossener. Die Emotionen, die bei zeitgenössischer Musik bei mir ausgelöst werden, sind mir oftmals näher als die angesichts des klassischen Kanons.

Jetzt ist dieses Stück von Gubaidulina ja sehr klangvoll, sehr farbenfroh…
… farbig, aber nicht sehr farbenfroh! (lacht)
Ja, aber doch kupfer- und goldfarben!
Ach ja?
Ihnen hat es also nicht gefallen?
Doch! Mir hat es total gefallen. Nur, alles, was man jetzt in Worte fassen würde, erreicht natürlich nicht das, was man gerade erlebt hat. Und ja, es ist einfach wahnsinnig schwer, über Kunst an sich zu sprechen. Und über Musik insbesondere. Denn ansonsten bräuchte man ja auch keine Musik schreiben, wenn einem die Worte darüber so leicht fielen… Ich fand das Stück von Gubaidulina eher apokalyptisch. Für mich hat es, ungeachtet der Farben, ein Gefühl der Endzeitstimmung ausgedrückt.
Aber nicht unbedingt in negativen Farben, oder? Wenn wir mal »apokalyptisch« voraussetzen: für mich klang es so, als seien die Menschen hier der Endzeit eher freundlich zugetan. Es gab so viele Dur-Klänge, voller Gold. Diese Harfenklänge, diese schöne Mischung mit der Bassklarinette an der einen Stelle. Apokalypse: ja, aber eher so in einem friedlich sich aufgebenden Sinne…
Nee, ich fand es gar nicht friedlich. Ich kenne ja nicht die musikalischen Ausdrücke, aber wenn die Streicher dieses… (ahmt Glissandi nach) machen…
… Glissandi …
…da hatte ich immer Assoziationen von Flugzeugen. Von Krieg sogar. Aber wie gesagt, ich habe mich mit dem Werk nicht beschäftigt. Vielleicht wollte Gubaidulina das friedlich abrunden. Im hinteren Teil wurde es ja tatsächlich etwas ruhiger. Aber diese eruptiven Streichermotive in der Mitte des Werkes … die fand ich schon sehr bedrohlich und unheimlich. Unheilvolles Verkünden. Das wurde allerdings konterkariert durch die Solo-Geige. Obwohl, das, was Kremer darüber gespielt hat, ja auch nicht unbedingt glücksverheißend war.
Mal zu Ihnen und der Rolle von Musik in Ihrem Leben. Haben Sie eigentlich ein Instrument gelernt? So klassisch mit sechs Jahren Klavier oder gar BLOCKFLÖTE?
Nee, ich wollte immer in einer Rockband spielen. Bevor ich dann wirklich in einer Rockband gespielt habe, wollte ich Klavier lernen. Aber das Geld war nicht da, um ein Klavier zu kaufen und auch nicht, um den Unterricht zu bezahlen. Ich habe mich schließlich gegen meine Eltern durchgesetzt und habe den Sommer durchgearbeitet, um E-Bass zu lernen. Dann habe ich in verschiedenen Bands gespielt. Und als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich auch noch Kontrabass angefangen. Aber auch eher im Jazz-, im experimentellen und im Crossover-Bereich. Ich wäre viel lieber Musiker geworden als Theatermacher. Aber es hat nicht gereicht. Meine Fertigkeiten am Instrument waren im Verhältnis der Konkurrenz in Berlin, auch gerade, was den Rock-Bereich angeht, nicht ausreichend. Ich habe zwar in der ein oder anderen Rockband gespielt, aber das war nie so großartig… Wir haben jetzt Flea (den Bassisten, Trompeter und Sänger Michael Balzary; d. Red.) von den Red Hot Chili Peppers kennen gelernt. Wenn ich so spielen könnte, dann wäre ich wahrscheinlich beim Bass spielen geblieben.
Wenn Sie vom Bass reden: Denken Sie, wenn Sie Musik hören, von der BassLinie her?
Wenn ich in Konzerte gehe, dann erwische ich mich dabei, dass ich immer kurz davor bin, gewisse typische Kopfbewegungen eines Bassisten zu machen… Ja. Ich versuche immer so einen Beat zu finden. Aber das ist mir heute nicht passiert. Und das finde ich eigentlich ganz angenehm. (lacht)
Wenn Sie inszenieren, da steht dann ja immer »Musik: …« auf dem Programmzettel. Also gemeint ist der, der für die Musik in einer Schauspielinszenierung zuständig ist…
Ja, Sie sagen es: »zuständig«. Was ich ein bisschen schade finde ist, dass es sich im Theater durchgesetzt hat, dass die Kollegen, die für die Musik »zuständig« sind, unter »Musik« auftauchen, aber dass die Werke, die sie verwenden, meist überhaupt nicht genannt werden. Da muss ich gerade an unsere Produktion jetzt denken. Da haben wir Stücke von John Cage und John Adams genommen. Existierende Aufnahmen, die dann aber weitergeführt, verändert werden …
Noch einmal zum Bass. Ich erlebe Ihre Inszenierungen so, dass Sie im Grunde immer eine Basslinie haben. Eine Stimmung, ein Gefühl, das den Abend durchzieht… Als Basso continuo der Emotionen sozusagen…
Das, was ich mache, ist: am Rhythmus arbeiten. Meine Inszenierungsarbeit ist musikalisch. Deswegen habe ich auch so große Berührungsängste mit dem Thema »Oper«, weil ich da auf den Rhythmus nur ganz wenig Einfluss habe. Das heißt, das, was hoffentlich die ein oder andere gelungene Aufführung von meinen Arbeiten ausmacht, ist, ein Rhythmus… In Frankreich wird das immer sehr genau beschrieben. Da spricht man von einem »Ostermeier-Tempo«, das eben ein bisschen schneller und abwechslungsreicher ist als das übliche Tempo im Theater. Das hat viel mit Sprachbehandlung, viel mit abgehörter Wirklichkeit, mit gedanklicher Durchdringung, mit einer großen Abneigung gegenüber theatralen Tönen zu tun. Ich versuche sozusagen, die Musik, den Rhythmus der Wirklichkeit wiederzufinden. Wir befinden uns ja gerade in Endproben, haben in einer Woche Premiere mit Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi. In drei Tagen ist eine Voraufführung. Also, ich weiß gar nicht, was ich hier mache… (lacht) Ich arbeite mit Textdurchdringung, mit der Frage nach den Inhalten. Das sind für mich die Basics. Aber ich hoffe, dass meine Arbeit eigentlich die »Musik« der Aufführung ausmacht.
Es ist ein bisschen eine Markus-Lanz-Frage. Aber Sie haben es gesagt: In einer Woche haben Sie Premiere. Können Sie da hier im Konzert »abschalten« oder fällt Ihnen plötzlich etwas beim Hören der Musik ein, was Sie an die Arbeit an Ihrer Inszenierung gemahnt?
Wir hatten gestern einen ganz guten Durchlauf. Ich habe den Kollegen zwei Tage freigegeben. Dadurch geht das. Und da ich den ganzen Tag ohnehin abschalten konnte, war das für mich hier eigentlich ein super Anlass, sich mit anderen Sachen zu beschäftigen. Ich merke das momentan sowieso häufig, dass der Abstand zu der eigenen Arbeit sehr wichtig ist. Dann kann man danach mit einem frischen Blick draufschauen. Da kann die Beschäftigung mit einer Musik, wie wir sie gerade erlebt haben, wahnsinnig hilfreich sein. Aber es ist nicht so, dass ich dann für meine Arbeit hier konkret etwas mitnehme. Doch! Eine Sache! Die Tatsache, dass Gidon Kremer so unsentimental spielt …
… das ist ja so sein Stil …
Ja, aber das live zu erleben ist schon etwas besonderes. Das hatte ja fast etwas von einem Chirurgen …
Sie sprechen auf das weiSSe, lang über die Hose hängende Hemd von Kremer an …
Genau, auch vom Outfit her. Das Sujet, an dem ich gerade arbeite, hat ja mit dem Ärzte-Milieu zu tun. Das inspiriert mich schon. Diese analytische Klarheit, diese unsentimentale Art und Weise, sich als Medium zur Verfügung zu stellen… Manchmal kommt man da zu größeren Erlebnissen als wenn man versucht, das zu fühlen. »Da fühlt mir jetzt einer was vor!« Als wenn das Gefühl in mir entsteht und er eigentlich nur wie ein Chirurg feinjustiert… Da kann ich mich für meine Arbeit inspirieren lassen und auch meinen Schauspielern etwas von erzählen.
Mögen Sie in der Musik grundsätzlich eher die »kühlen« Interpretationen, zum Beispiel die Spielweise von Glenn Gould?
Ich habe mir vor einem Jahr den ganzen Glenn-Gould-Schuber geleistet. Gould höre ich, ja. Aber ich bin ein totaler Laie. Ich fange erst jetzt durch meine Freundin, die Musikerin ist, an, zu verstehen, wie stark die Musik von dem Interpreten abhängt. Das war mir so in dem Ausmaß nicht bewusst. Also: in der klassischen Musik! Deshalb kann ich dazu jetzt gar nichts Kluges sagen, weil ich diese ganze Bandbreite der unterschiedlichen Interpreten und Instrumente noch gar nicht richtig wahrgenommen habe.
Man kann zum Beispiel hervorragend Glenn Goulds Interpretation des ersten Satzes von Mozarts B-Dur-Sonate KV 333 neben die von Vladimir Horowitz stellen. Gould diktiert die Sonate völlig kühl in die Tasten, während Horowitz sich verträumt und mit Pedaleinsatz dem Gesang hingibt. Oder noch krasser, wie Gould den ersten Satz von Mozarts a-Moll-Sonate mechanisch abspulen lässt…
Ich weiß nicht, ob man das wirklich »mechanisch« nennen kann. Ich glaube, das ist eine Frage von interpretierender Kunst. Schauspieler sind ja auch Interpreten von anderen, die etwas aufgeschrieben haben. Für mich ist eine ganz große Frage, wonach ich beim Interpretieren eigentlich suche. Ganz oft ärgere ich mich darüber, dass Leute, ohne das Werk durchdrungen zu haben, schon anfangen zu »fühlen«, als Attitüde. Das kann man jetzt den von Ihnen genannten Interpreten sowieso nicht unterstellen. Aber Schauspieler werden häufig gar nicht mehr darin geschult, wie wichtig ihre Kunst der Interpretation ist – und wie sie an verschiedene Sachen herangehen sollten. Deshalb ist dieser Diskurs bei Schauspielern viel wichtiger. Schauspieler suchen beim Spielen immer nach dem Moment, in dem sie sich im Gefühl verlieren können. Aber das ist völliger Schwachsinn. Da kommt ganz oft einfach nur Schmalz und Kitsch bei raus.
Aber beim Klavierspielen ist es doch genauso! Stellen wir uns dEN JUNGEN vor, dER sich beim Klavierspielen von eineR schönen PrinzeSSIN träumend – und dabei Chopin spielend – »verliert«…
Da können Sie berufener drüber reden. Ich kann das eben nur über Schauspieler erzählen und fragen: »Wo soll denn das Gefühl eigentlich entstehen?« Es ist aber auch eigentlich schon eine traditionelle Ansicht, dass das Gefühl im Zuschauerraum entsteht… Gestern hat mir ein Schauspieler, der ganz toll spielt, in der Probe erklärt, wie er dazu kommt und warum er das jetzt genau so macht… Und ich sagte nur: »Du, das ist mir eigentlich scheißegal, wie du dazu kommst. Wenn du es jedes Mal so spielst, dann ist es genial. Du kannst meinetwegen auch an grüne Frösche denken währenddessen.« Ich bin ja so fanatisch fasziniert von menschlichem Verhalten, wie das funktioniert, wie Menschen sich ausdrücken. Und wenn man das genau beobachtet, dann ist es in der Wirklichkeit in den seltensten Fällen so, dass man fühlen »will«. Gefühle entstehen ja, und wenn sie forciert werden, dann sind sie ja gar nicht mehr authentisch. Das, was ich mit meinen Leuten versuche, ist, zu sagen: Haltet euch an den Rhythmus, den ich festlege. Und im besten Fall erlebt ihr was. Und wenn ihr durch diese rhythmische Abfolge von Handlungen und Texten und der Musik darin etwas erlebt, dann kann es sogar sein, dass ein Gefühl entsteht. Und dieses Gefühl kann euch dann durch den Abend tragen. Aber wenn es nicht da ist, ist das auch nicht schlimm. Denn der Rhythmus und das Gerüst des Ganzen tragen euch sowieso.
Also gibt es diese professionelle Ebene bei Schauspielern, die ohnehin funktioniert – und im besten Fall geht es noch tiefer… Der Schauspieler durchlebt ein Gefühl…
Er erlebt es. Ich weiß nicht, ob man es wirklich durchlebt…
Den Eindruck habe ich bei Ihren Inszenierungen aber durchaus manchmal …
(lacht) Na ja. Man ist ja nie die Figur! Man erlebt etwas. Durch die Interaktion – und das ist für mich eigentlich das Wichtigste – kommt man auf Ebenen mit dem jeweiligen Partner, die ich nicht präfiguriert habe, bei denen ich mir also nicht vorher gesagt habe: »Da erlebst du dann genau das!« Im Moment entsteht eine Interaktion, die sich so weder der Schauspieler noch der Regisseur vorher ausdenken konnten. Und dann ist das auch ein authentischer Moment! Denn ihm, dem Schauspieler ist es dann ja wirklich passiert! Er hat es ja nicht erzwungen.
Es hat zum dritten Mal zur Pause gegongt. Wir sollten wieder in den Saal.
Sollen wir nicht lieber etwas essen gehen und dann zur »Late Night« wiederkommen?
Okay. Wie Sie wünschen.
Anschließend sind wir mit der immerwährenden Frage eines Philharmonie-Besuchers konfrontiert: Wo kann man hier in der Nähe gut und gemütlich einkehren? Die Joseph-Roth-Diele hat am Wochenende geschlossen. Wir gehen ins »QIU« in der Potsdamer Straße 3, also in eine, laut Internet »elegante, stylish beleuchtete Lounge mit goldenem Wandmosaik, Cocktailbar und feinen Speisen aus aller Welt«. Thomas Ostermeier und seine Freundin sind gut gelaunt. Ostermeier raucht auf dem Weg in Richtung Berlinale-Palast eine Zigarette ohne Zusätze.
Gleich nachdem der Wein da ist, reden wir über die Theaterszene in Berlin, über Herbert Fritschs Pfusch an der Volksbühne und dass Fritsch nun – nach dem Intendantenwechsel am Rosa-Luxemburg-Platz – künftig an der Schaubühne inszenieren wird. Dazu habe ich einige Fragen. Bald schon schlägt Ostermeier vor, ich könnte doch das Aufnahmegerät ausmachen. Dem komme ich nach.
Just Mitte November erhielt Ostermeier für seine Verdienste um das europäische Theater die Ehrendoktorwürde der University of Kent. Er zeigt mir von der Zeremonie in der Kathedrale von Canterbury ein paar Bilder auf seinem Smartphone. Eingebettet war das Ganze in die feierliche Überreichung der Abschlusszertifikate an die Absolventen des College of Arts. Diese traditionelle Art der Zeremonie hätte ihn sehr berührt, sagt Ostermeier. Diese gegenseitige Wertschätzung von Professoren und Studenten. Ich erwähne bei der Gelegenheit, wie mich eine ähnliche Szene in dem Film Die Thomaner einst zu Tränen gerührt hätte. Der Abend wird angenehm persönlich.
Um 22 Uhr sind wir wieder in der Philharmonie und hören das letzte Werk des 1998 überraschend verstorbenen Gérard Grisey: Quatre chants pour franchir le seuil für Sopran und 15 Instrumente. (Youtube-Link) Mir scheint, dass Rattle sich ganz absichtsvoll hervorragende Spezialisten für zeitgenössische Musik zu ein paar Mitgliedern seiner Berliner Philharmoniker dazu geholt hat, so beispielsweise den Trompeter William Forman, der einfach unvergleichlich hoch und leise Trompete spielen kann. Rattle hält eine kurze Ansprache vor dem Konzert. Er liest seinen Text vollständig ab, doch trotzdem wirkt das, was er zu sagen hat, aufrichtig, ja, fast so, als wolle er mitteilen, dass ihn vielleicht keine andere Musik so sehr bewegt wie diese. Dann tritt Barbara Hannigan auf – und singt, dass man selbst verstummen möchte. Diese Gesänge über, ja, man muss es so sagen: verschiedene Todesarten, Todesvorstellungen oder Todesvisionen… Die Instrumente dämmern vor sich hin, suppend, stammelnd, kindlich wiegend – und das Ganze doch im zeitgenössischen Gewand. Gequälte Engel, aber auch plötzlich eine optimistische Eingebung… Hannigan ist die perfekte Interpretin für dieses Stück. Völlig ohne forcierte Emotionen, sondern sich ganz fallen lassend und doch sich selbst emphatisch beteiligt mitteilend … Dann diese unglaublich fein ausgehörten Kombinationen von hohen Soprantönen mit Klängen der Trompete – nach Verklingen des letzten Klangs erlebe ich eine Stille, wie es sie wahrscheinlich seit Abbados Mahler-Aufführungen in der Philharmonie nicht mehr gegeben hat. Ich liebe es, wenn mehr als tausend Menschen gleichzeitig den Mund halten. Niemand atmet. Auch meine Erkältung ist kurz einfach weg. Vor Glück.

Entsprechend ist diese Situation nicht eben der Anlass, das Aufnahmegerät direkt nach dem Konzert wieder investigativ anzuschalten. Unsere kleine Gruppe, inzwischen ist ein mit Ostermeier befreundeter Dramaturg aus Frankreich zu uns gestoßen, verschwindet in der Philharmonie-Kantine. Bald stehen Ostermeier und Hannigan zusammen. Die beiden scheinen sich ohnehin zu kennen. Man diskutiert bereits rege.

Irgendwann verlassen wir als Gruppe mit Hannigan die Philharmonie und gehen wieder in die QIU-Bar, trinken Cocktails. Es entsteht eine hochinteressante Diskussion über die Schwierigkeit, wirklich lebendig mit Opernsängern schauspielerisch zu arbeiten. Oder liegt es doch an den Opernstoffen? Wie die Figur der Lulu in Alban Bergs gleichnamiger Oper als Prototyp der Femme fatale, als »ewige Hure« verstanden werden müsse, das schreckt Ostermeier eher ab, diese Oper einmal zu inszenieren. Ähnlich sei es mit Zimmermanns Die Soldaten. Großartige Musik. Aber die Handlung? Die vergewaltigte Frau, die ebenfalls zur Hure wird? Nein. Ich schlage Adriana Hölszkys Bremer Freiheit als Operndebüt-Werk vor. Aber Hannigan und Ostermeier diskutieren schon ganz andere Werke …
Gegen zwei Uhr verlassen wir die Bar. Es regnet ziemlich stark. Alle schauen nach einem Taxi. ¶
