Letzte Woche hat er die Schweizer Erstaufführung von Philip Glass’ Oper Einstein on the Beach in Genf dirigiert, jetzt probt er in Berlin für das »Match Cut Festival« am 3. Oktober in der Berliner Volksbühne. Die Engagements des Dirigenten Titus Engel sind so vielseitig wie sein Background: Neben Dirigieren studierte er auch Musikwissenschaft und Philosophie. Im Gespräch erzählt er von kulturellen Kahlschlägen, die Vereinnahmung des Bürgertums durch die AfD und Oper als Kulinarik.

VAN: Du dirigierst momentan die Schweizer Erstaufführung von Einstein on the Beach in Genf. Was ist für Dich das Besondere an dieser Oper von 1976, die ja inzwischen Klassiker-Status geniesst?

Titus Engel: Das Werk ist ganz besonders, weil es vier Stunden dauert und aus ganz wenig musikalischem Material konstruiert ist. Es hat keine Narration, der Text besteht nur aus Solmisationssilben und Zahlen. Die Basis bildet Einsteins Grundthese: Die Zeit ist relativ und der Raum ist gekrümmt. Diese These ist in Musik gesetzt. Glass geht von einer rhythmischen Zelle aus und addiert einzelne Noten über sehr lange Strecken hinzu. Durch unzählige variierte Wiederholungen dieser Zellen entsteht für den Zuhörer eine ganz besondere Wahrnehmung der Zeit. So werden die vier Stunden zu einem echten Trip…

Was hast du dabei als Dirigent für Interpretationsmöglichkeiten?

Entweder spielt man das eher maschinell oder versucht, es von einem Groove her zu denken. So, wie wir Barockmusik heute spielen: mit Artikulation, mit Verläufen, mit Phrasierung. Dabei interessieren mich vor allem die Leichtigkeit, der Flow, der Groove. Ähnlich wie bei Barockliteratur ist die Partitur sehr unbezeichnet. Es fehlen Tempo- und Dynamikangaben. Glass und der Regisseur Robert Wilson haben das Stück zusammen entwickelt – es entstand als ein ›work in progress‹.

Hattest du während der Erarbeitung Kontakt mit Philip Glass selber?

Nur über seinen Assistenten, er wird sehr abgeschirmt. Die Antwort auf meine Fragen war immer: Machen Sie, was Sie wollen. Beschäftigen Sie sich mit Partitur und Originalversion und entscheiden Sie sich für eine Lösung, die für Sie stimmt. Das finde ich nicht unsympathisch.

Während Glass also nicht allzu viel Wert auf die ›Originalinterpretation‹ legt und den Interpret*innen grosse Freiheit gibt, wirken Karlheinz Stockhausens Partituren fast neurotisch. Du dirigierst im Mai 2020 INORI am Festival Acht Brücken in Köln und hast 2016 in Basel die Oper Donnerstag aus Licht geleitet. Wie gehst du mit dieser Musik um?

Stockhausen ist das pure Gegenteil: Die Partituren sind extrem detailliert – sie sind aber auch extrem gut notiert. Da ist man schon mehr Diener des Werks. Dennoch: Dirigiert man eine Partitur wie INORI, muss man sie so internalisieren, dass man sich frei fühlt bei der Aufführung. Ausserdem ist INORI ein Konzertstück, keine Oper. Es hat diese fast religiöse Komponente, und insofern macht es Sinn, so nahe an Stockhausens Vorstellung zu bleiben, wie möglich.

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Und bei Donnerstag?

Da hatte ich engen Kontakt mit Kathinka Pasveer, der langjährigen Lebensgefährtin Stockhausens. Auch da ging es oft darum, genau das zu machen, was in der Partitur steht. Aber letztlich ist es dann doch mehr: Kathinka bringt eine orale Tradition mit – und so merkte ich: Trotz der genauen Notation gibt es doch auch etwas Emotionales, Gefühlsmässiges in der Interpretation. Ausserdem ist es bei Opern wichtig, dass man sich auch von der visuellen Tradition löst. Wagners Ring wird auch nicht mehr in seinem Originalbühnenbild aufgeführt. Das fand ich toll an der Basler Version von Donnerstag: Es gab eine ganz besondere Bildsprache.

Du sagtest, dass Oper ›eine Mischung aus Überforderung und Unterhaltsamkeit‹ sein soll. Kannst du das erläutern?

Es ist mir wichtig, Opern nicht als reine Kulinarik anzusehen, sondern als Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Sei es, um zu hinterfragen, was ihre Mythen bedeuten oder auch, um den Kanon zu öffnen, es werden viel zu oft dieselben Werke gespielt. Musiktheater soll nicht nur unterhalten, aber auch – gerade bei neuen Stücken – nicht nur überfordern. Mit dieser Balance muss man sorgfältig umgehen.

Welche Verantwortung haben in dieser Balance das Publikum, die Institutionen und Intendant*innen?

Man muss Neues wagen. Das Theater muss Utopien formulieren. Es muss für eine offene Gesellschaft stehen und über den Tellerrand hinausblicken. In Genf wurde das toll gemacht: Es war unmöglich, nicht mitzubekommen, dass der neue Intendant Aviel Cahn seine erste Saison mit Einstein on the Beach eröffnet, er hat die ganze Stadt ins Einstein-Fieber gesetzt.

Hast du den Eindruck, dass sich diesbezüglich in den letzten Jahren etwas verändert hat?

Ich glaube schon. Es wird viel in Education und Kommunikation investiert. Doch wir als Musiker, Dirigenten, Künstler sind quasi das Ende der Nahrungskette. Es ist schwer, jemanden von null auf zu begeistern. An der Basis, also bei Kindern und Jugendlichen, wird zu wenig gemacht. Musikschulen haben zu wenig Geld. In der Schweiz beispielsweise bedeutet der Lehrplan 21 mehr Unterrichtslektionen und weniger Freizeit. Das heißt, im schulischen Bereich ist für die Kinder zu wenig Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als nur Lernen. Dabei ist es so wichtig, dass die Gesellschaft nicht zu sehr ökonomisiert wird und nur noch das Nützliche fördert.

Was müsste sich ändern?

Man muss in Kunst und Kultur hineinwachsen, dafür müssen viele niederschwellige Angebote verfügbar sein. Ich persönlich hatte Glück: Meine Eltern waren musikalisch interessiert und ich war auf einem Gymnasium, in dem Musik eine große Rolle gespielt hat – ohne, dass das zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Musik war ein selbstverständlicher Bestandteil.  

Und was beobachtest du heutzutage?

Ich habe in den frühen 00er-Jahren in Dresden studiert. Damals ist ein extremer kultureller Kahlschlag passiert: Viele Orchester wurden fusioniert oder gleich ganz abgeschafft. In der DDR lief gerade im Musikbereich unglaublich viel, auch wenn das politisch nicht unbehaftet war. Nach der Wende wurde das dann sehr schnell zusammengespart; damit ist auch das Bürgertum weggebrochen. Und jetzt versucht die AfD, die Bürgerlichkeit neu für sich zu vereinnahmen. Das ist fatal, dem müssen wir uns entgegenstellen, auch indem wir wieder großzügig in Kultur investieren, wie man es beispielsweise im Ruhrgebiet gemacht hat.  

Aber es werden doch regelmäßig neue Säle gebaut, die Elbphilharmonie ist ständig ausverkauft, und bald beginnt der Bau für das neue Münchner Konzerthaus.

Es gibt die Tendenz, große Institutionen zu bauen – und ich meine vor allem baulich, und nicht so sehr inhaltlich.  Ich glaube, man muss aufpassen, dass die Paläste, die gebaut werden, nicht zum Symbol dafür werden, in der Breite nichts mehr zu fördern. Das ist ein Problem der Kulturpolitik: Es ist sehr einfach, kurzfristig zu sparen, aber sehr schwer, etwas wieder aufzubauen – gerade Niederschwelliges und leicht Zugängliches.

In einem Interview hast du gesagt, dass es wichtig sei, dass sich Musikstudierende gerade heute auch geistig gut bilden. Was schlägst du vor?

Ich finde, dass die Ausbildung zu monospezifisch ist. Dass man das Instrument lernt, aber nicht vorbereitet wird auf die kulturelle Welt. Das ist im angelsächsischen Raum besser; dort studiert man neben Musik meist auch ein geisteswissenschaftliches Nebenfach. In Deutschland werden sehr viele Musiker*innen ausgebildet für sehr wenige Stellen, gerade da ist es wichtig, breit zu bilden. Zudem bemerke ich oft: Die Menschen, die spannende Künstler*innen geworden sind, haben meistens verschiedene Interessen. Man braucht mehr als einfach nur Skills auf seinem Instrument.

Stichwort ›monospezifisch‹: Du hast Musikwissenschaft, Philosophie und Dirigieren studiert, dirigierst Musik aus vielen Jahrhunderten bis in die unmittelbare Gegenwart. Wie erlebst Du den ›Markt‹: Ist es immer nur ein Vorteil, so breit zu arbeiten wie Du? Oder leben wir eher in Zeiten von hochspezialisierten Monokulturen?

Mir wäre es nicht genug, nur eine Sache zu tun. Die Neue Musik war der Anfang meiner Laufbahn und ist nach wie vor eine große Leidenschaft. Dieses Repertoire hat mir Türen geöffnet. Inzwischen habe ich viele Aufträge für klassische Musik und das ist mir auch wichtig. Nur Neue Musik zu machen wäre einschränkend für die Interpretationen. Wie ich vorher erwähnte: In Philip Glass’ Komposition erkenne ich Parallelen zum Barock und umgekehrt. Aber es stimmt schon: Unsere Zeit versucht immer, Spezialist*innen zu orten. Ich höre oft die Frage: ›Sie sind doch der Spezialist für Neue Musik?‹ – Ja, stimmt, dagegen habe ich ja nichts. Aber ich wehre mich dagegen, dass ich mich darauf beschränke. Ich verweise dann jeweils auf meinen Kalender [lacht].

In zwei Wochen dirigierst Du in Berlin das ›Match Cut Festival‹ an der Volksbühne. Wie laufen die Vorbereitungen?

Ich habe gerade die letzten Partituren bekommen, zwei tolle Stücke von Mischa Tangian und Sinem Altan, die auf ganz spannende Weise die Musik des Orients und des Okzidents verbinden. Es ist sehr reizvoll, dass die Musik, die wir da spielen werden, total frisch ist.

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Wie kam es zu diesem Engagement?

Die Musiker*innen des Zafraan Ensembles, die das Festival produzieren, sind Freund*innen von mir, mit denen ich schon sehr lange zusammenarbeite. Ich vertraue ihnen voll und ganz, und so habe ich ganz spontan zugesagt, als sie mich angefragt haben. Das Zafraan Ensemble ist sozusagen ein ›traditionelles‹ Neue-Musik-Ensemble. Für das ›Match Cut Festival‹ verbündet es sich mit zwei anderen Ensembles: dem Babylon Orchestra, das sich musikalisch zwischen Orient und Okzident bewegt, und Sollmann & Gürtler, die von der elektronischen Musik kommen.

Es ist die zweite Ausgabe des Festivals. Was macht es besonders?

Das Festival an der Volksbühne ist ein gutes Beispiel dafür, dass man Neue Musik nicht nur in ihrem Ghetto spielen lassen muss. Denn sonst kommen oft nur Leute hin, die selbst zum Zirkus gehören. Und die Verbindung der drei Ensembles ist ein Abenteuer, das total vielversprechend ist: Auf ihre Weise spielen sie alle Neue Musik – aber man muss sich überraschen lassen. ¶