Zuerst ging es nur um einen Happen nach dem Konzert und die Wüste mitten in Berlin. Dann geriet Volker Hagedorn ins Grübeln über kryptoprotestantische Vorbehalte gegenüber der Nähe von Kunst und Labung. Wie sedativ ist Pausenwein, wie affirmativ das Schnitzel danach? Sehr deutsche Fragen, auf die Gioacchino Rossini eine bessere Antwort gibt als Gottfried Benn.
Berlin, Potsdamer Straße, 22.40. Mein Koffer rappelt über das Trottoir, die Kollegin muss nur ein Täschchen tragen. Wir haben beschlossen, noch etwas zu essen. Nach dreieinhalb Stunden Benvenuto Cellini in der Philharmonie kann man nicht einfach ins Bett fallen. Es geht gar nicht darum, Konzerteindrücke zu besprechen. Man ist aufgekratzt und strapaziert, hungrig und durstig und überhaupt nicht müde. Man bedarf, als Reisender erst recht, nach so einem Musikabenteuer der temporären Festigung. Mit Boulette und Bier oder ein paar Tortellini könnten wir auch den wilden Cellini füttern, den Hector Berlioz und die fantastischen Musiker uns mitgegeben haben, und über die Welt reden.
Muss man das erklären? Muss ich im Ernst begründen, warum Leute nach Aufführungen egal welcher Art gern in ein Lokal gehen, sich wo auch immer kommunizierend stärken möchten, ohne dafür weit gehen oder planen zu müssen? Ja, das muss ich wohl. Erstmal die Praxis: Der 1000-Meter-Radius um die Berliner Philharmonie ist am späten Samstagabend eine Wüste, wobei ich bekenne, dass wir das Glas-und-Betongebirge am Potsdamer Platz gar nicht erst in Erwägung gezogen haben. In dieser Shareholderarchitektur frösteln Geist und Seele, anders als in der lauschigen Joseph-Roth-Diele. Nach 800 Metern ist sie erreicht – und sieht aus, als sei sie für immer geschlossen. Was nicht stimmt, sich in diesem Stadium aber so anfühlt. Samstag und Sonntag: Ruhetage!
Selbst wenn Lust und Etat zu Jakobsmuscheln für 25 Euro im Golvet passen würden – da wäre schon Küchenschluss. Wir laufen weiter. »Irgendwo hier gibt es auch einen Franzosen mit Käseplatten«, murmele ich, »aber…« Es ist kurz vor elf. Ich hatte nicht mal ein Bier in der Pause! Döner im Neonlicht scheidet aus. »Da drüben, Dalmacija Grill!«, ruft meine Kollegin. Schnell über die Straße, da sitzen noch welche. Die Dame an der Theke bekommt bei meinem Anblick das schon halb tadelnde Lächeln, das Frage wie Antwort vorwegnimmt: Nein, leider, die Küche hat gerade zugemacht.
Zur Ehrenrettung der hippen Metropole sage ich gern, dass wir dann im Hotel nicht nur eine geöffnete Bar, sondern sogar Wiener Schnitzel fanden, bezahlbar. Vergleichbar froh war ich nicht mehr seit der Ruhrtriennale 2013, als ich nach Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern im scheintoten nächtlichen Bochum zufällig den Spanier »Una Más« fand, wo die Begrüßung schon etwas von einer Lebensweisheit hatte: »Wenn Sie sich schnell entscheiden, können Sie alles haben.« Solche Erlebnisse verknüpfen sich für immer mit der Musik, dem Theater davor. Keineswegs verstopfen Tapas oder Schnitzel rückwirkend die Abgründe und Weiten der Kunst, und ein Pausenwein ist kein Sedativum.
Genau dieser Verdacht spukt aber restidealistisch durch die deutsche Kunstrezeption, in der »kulinarisch« immer noch ein Kritikerschimpfwort für allzu leicht Konsumierbares ist. Er prägt sogar die Foyergestaltung vieler Häuser, in denen haltungsschädigende Stehtischchen sterile Kongressatmosphäre verbreiten und schon die Brezelpreise zur Buße mahnen. Gottfried Benn wäre das nicht weit genug gegangen. Er schrieb 1936: »Die Foyers allein richteten die ganze Epoche. Ein Publikum, das, um sich von den Schrecken der Tragödie zu erholen, zwischendurch 20 Minuten an Ständen mit Schinkenbroten und Weinbrandflaschen vorbeiflanieren muss, ist guillotinereif.«
Während er solchen Gedanken nachhing, genoss der Oberstabsarzt der Wehrmacht seinen Feierabend im hannoverschen Weinhaus Wolf. Sein radikaler Spruch hat mich früher beeindruckt, ich sah darin das Existentielle der Kunst verteidigt gegen rülpsende Affirmation. Aber ohne diese Polarisierung, ohne die brillante Polemik sieht man den protestantischen Pfarrerssohn mit schlechtem Gewissen, wenn er es sich auch mal gut gehen lässt. Nicht nur Benns Epoche, sondern alle Kulturen von der Antike bis heute wären »gerichtet«, wenn das Interesse an »Schinkenbroten« das an der Kunst nicht berühren dürfte.
Ich sympathisiere eher mit Gioacchino Rossini, der zur Uraufführung seiner Petite messe solennelle 1864 überhaupt nichts dagegen hatte, dass es vor dem »Credo« ein gediegenes Büffet gab – und der mit dieser Messe eine der berührendsten Sakralmusiken komponiert hat, dazu die lebensklügste. Vor Benns »Schinkenbroten« hätte er sich gegraust, aber nicht aus moralischen Gründen. Für mich müssen es nicht gleich aspiküberzogene Hühnerbrüste in der Pause sein, aber ich möchte es selbstverständlich und nicht bloß »verständlich« finden dürfen, dass man zwischen zwei Arien oder inmitten eines Spektralklangs mitunter an ein kaltes Bier denkt. Dass es nicht in die Dekadenz führt, sondern zum Diskurs, wenn man nach einem Konzert gemeinsam was essen geht. Oder, wie im Muziekgebouw Amsterdam, in der Pause einen Wein gereicht kriegt, gratis, einfach so – kommunikationsbefördend. ¶