»Mal ein Beethoven hier, mal ein Programm da, das interessiert mich nicht«, sagte der Pianist Igor Levit vor fünf Jahren. Stattdessen wolle er Meinungsführer werden. So wie Dylan. Leute wie der hätten in den 60er Jahren den Anspruch gehabt, nach ganz oben zu kommen. »Seine eigene Stimme so stark werden zu lassen, dass sie Deutungshoheit erlangt.« Das war kurz vor Fake News, Alternativen Fakten und dem Zeitalter der Politik-Clowns. Es klang damals, in einem kleinen Café in der Nähe der Hannoveraner Musikhochschule, nach dem sympathischen Schnabelaufreißen eines außergewöhnlich talentierten Musikers, der die Sphäre der Politik als Möglichkeit der Individuation entdeckt hatte. Levit war es zu eng geworden in der Rolle, in die er hineingewachsen war, und der Anerkennung, die sie bereithielt. Seine PR-Agentur bot damals Interviews an mit dem Zusatz: »Igor Levit hat zu vielen Dingen eine Meinung, nicht nur zu Musik.«
In den letzten Jahren konnte man beobachten, wie erfolgreich Levit der klassischen Musikwelt entwachsen ist. Er redet bei Maybrit Illner über Hass im Netz, mit Wolfgang Schäuble über 70 Jahre Grundgesetz und mit Robert Habeck über Kunst und Politik. Er wird zum Klimagipfel befragt, zum richtigen Umgang mit der AfD, zu seinen Lieblingsbüchern und zum Idealgewicht. Er macht Projekte mit Künstler*innen und Comedians, tritt im Bundestag und beim Bundesparteitag der Grünen auf. Seine mediale Präsenz hat dabei die kritische Masse erreicht, bei der Präsenz zu immer mehr Präsenz führt. In deutschen Feuilletons und Kultursendungen wird dabei oft das Bild von Levit als Solitär gezeichnet: der einzige politische klassische Musiker, der Seelenverwandte Beethovens, der einzige Musiker, der twittert. Tatsächlich aber sticht Levit innerhalb der Klassikwelt vor allem deshalb heraus, weil er wie kaum ein anderer das Singularitätsgebot der Spätmoderne verkörpert. »Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert«, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in Die Gesellschaft der Singularitäten. Levit will »nicht nur der Mann sein, der die Tasten drückt.« Er möchte auch ein besonderer Klimaschützer und Konsument, Friedensstifter und Aktivist, Bürger und Künstler, Staatsmann und Rebell sein. Und er möchte, dass die Welt ihm dabei zusieht. »Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden«, so Reckwitz. »Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv.« Auf dem hart umkämpften Sichtbarkeitsmarkt ist Levit der Prototyp des erfolgreichen ›Kulturunternehmers‹ geworden, der die unterschiedlichsten Aspekte seiner Persönlichkeit zu einer authentischen Marke formt.
»Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen.« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches)
»Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen«, schreibt Georg Franck in seinem Entwurf einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. »Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.« Der Mensch möchte im Bewusstsein möglichst vieler eine möglichst große Rolle spielen, und er möchte dabei gefallen. Das ist nicht anrüchig, sondern conditio humana: Aus der aufmerksamen Wertschätzung anderer ziehen wir unseren Selbstwert. I exist but only if you notice me. Wer nichts darauf gibt, gesehen zu werden, ist entweder Zen-Meister*in oder der Welt entrückt. Trotzdem wird ein am Gewinn von Aufmerksamkeit interessiertes Handeln in der Klassikkultur entweder geleugnet oder als Anomalie betrachtet, die mit dem »wahren Kern«, dem auf sich selbst gerichteten Musikmachen, nichts zu tun hat. Die Interpretierenden, die sich ganz in den Dienst der Werke stellen – das ist eine Erzählung, die Musiker*innen selbst gerne weitergeben. Als ginge es Politiker*innen nicht auch um Macht, sondern nur um gute Gesetzesvorlagen, Fußballer*innen nicht auch um Ruhm, sondern ausschließlich um den perfekten Außenrist-Pass. In der Klassikwelt ist der Verdacht, ein*e Musiker*in tue etwas, um Gefallen oder Anerkennung zu finden, nach wie vor ein Vorwurf. Das führt für Musiker*innen zu einem Double Bind – um erfolgreich zu sein, müssen sie in der Aufmerksamkeitsökonomie performen, gleichzeitig aber so tun, als ginge es ihnen nur um die Musik.

In dieser Welt der klar definierten Rollenerwartung reicht schon minimale ästhetische Abweichung aus, um maximales Aufsehen zu erregen: Currentzis’ Springerstiefel, Yuja Wangs Minirock, Kopatchinskajas Barfußspiel. Im Falle Levits liegt der Musterbruch in der konsequenten Darstellung des eigenen affektiven Erlebens. Eine Kultur, der das Ich-Sagen traditionell verdächtig erscheint, kehrt Levit um in die permanente Ich-Botschaft. Wo andere Musiker*innen ein Über-das-Werk-Stellen tabuisieren, sagt Levit: »Was wären die Komponisten ohne uns?« Während andere Pianist*innen Werktreue fordern, sagt er: »Das Werk ist 50 Prozent, die anderen 50 Prozent bin ich.« Wo andere den Weg zu einem Werk noch in der Partitur suchen, findet Levit ihn schon in sich selbst. »Das ist Musik, in der so unglaublich viel auf engstem Raum passiert! Genau das entspricht mir. So bin ich, so ist meine Persönlichkeit: sehr schnell im Kopf und im Handeln.« Wo andere peinlich darauf bedacht sind, bloß nicht »vulgär« zu klingen, sagt Levit: »Es ist so unheimlich geil«. Bisweilen führt das zu einer Authentizitätsrhetorik, die das Triviale als starke Aussage verpackt: »Ich mag Fragen mehr als Antworten.« »Ich verändere mich die ganze Zeit.« »Beethovens Musik erzählt von uns Menschen.« Als klassischer Musiker wird er damit jedoch anschlussfähig für all diejenigen hyperkulturell ambitionierten aber popkulturell sozialisierten Metropolenmenschen, für die echte Hochkultur Distinktionsgewinn bereithält, denen aber gleichzeitig ein echter klassischer Musiker noch nie untergekommen ist. Levit begegnet ihnen dort, wo auch sie sich aufhalten.
Auch in der Klassikwelt galten seit jeher die Gesetzmäßigkeiten der Economics of Superstars: Es gab immer schon wenige, die viel, und viele, die wenig bekommen haben. Dass es nicht reicht, einfach gut Musik zu machen, ist ein Allgemeinplatz. »Künstler haben immer schon […] für zweierlei Märkte gearbeitet. Auf dem einen wird Leistung, etwa in Form von Kunstwerken oder Entdeckungen, gegen Geld gehandelt. Auf dem anderen Markt wird Meinung gegen Aufmerksamkeit gehandelt.« Nur hat die Aufmerksamkeitsökonomie der digitalen Moderne neue Gesetzmäßigkeiten entwickelt: Die Verfügbarkeit von Aufmerksamkeit ist konstant geblieben, steht aber einer immer größeren Anzahl von Verwendungsmöglichkeiten gegenüber. In den Blick geraten dabei nur jene, die ihre Profile laufend aktualisieren und immer neu Zeugnis von sich ablegen.
Im Wettkampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit verhält es sich zwischen Levit und seinen Kolleg*innen bisweilen wie bei Hase und Igel: Er ist immer schon da. Während manch Musiker noch auf die alten Marktplätze der Aufmerksamkeit baut, hat Levit sich schon die neuen erschlossen. Während manch Musiker*in noch um einen Platz im Morgenmagazin kämpft, sitzt er schon in der Talkshow zur Prime Time. Während manch Musiker noch über die Notwendigkeit einer eigenen Website nachdenkt, hat Levit sich schon von den Edel-Gestaltern Meiré und Meiré einen neuen Look verpassen lassen. Während manch Musikerin sich noch fragt, ob sie sich zu einem Thema äußern soll, hat Levit es schon auf Twitter abgeräumt.

Natürlich ist Levit nicht der einzige klassische Musiker, der den Sichtbarkeitsmarkt bespielt. Aber Celebrity Culture ist in der klassischen Musik oft schematisiert. Viele Musiker*innen konzentrieren ihr Impression-Management auf den Lifestyle-Bereich: die mondäne Abendgarderobe, der große Auftritt, der Jet Set, die Behauptung der permanenten Freude. Gleichförmige Bilder ohne Meinung und Distinktionsanspruch sind in puncto Sichtbarkeit allerdings nur die halbe Miete. Sie garantieren Faszination, aber keine mediale Präsenz, erst recht keine »Deutungshoheit«. Dafür muss man auf den Markt gehen, auf dem Meinung gegen Aufmerksamkeit gehandelt wird. Kaum ein anderes Medium organisiert dieses Tauschgeschäft so effizient wie Twitter. Das Soziale Netzwerk ist auch deshalb ein aufmerksamkeitsökonomischer Gate Opener, weil sich dort überproportional jene aufhalten, die den Sichtbarkeitsdiskurs strukturieren: Journalisten, Politikerinnen, Kolumnistinnen, Meinungs-Influencer. In seiner demographischen Zusammensetzung ist Twitter wenig repräsentativ. Das Meinungsbild wird bestimmt von einer Minderheit hyperaktiver User mit vergleichsweise radikaleren politischen Ansichten. Es gibt allenfalls einen losen Zusammenhang zwischen Twitter-Diskursen und öffentlicher Agenda. Wie wenig Twitter ein gültiger Referenzrahmen für gesellschaftliche Realität ist, hat unlängst die Wahlniederlage Jeremy Corbyns gezeigt. Es sei angesichts dessen erstaunlich, wie weit verbreitet der Einsatz von Twitter als Mittel der Recherche und als informelles Stimmungsbarometer öffentlicher Meinung trotzdem sei, schreibt der Medienforscher Sascha Hölig. Wer zu viel Zeit auf Twitter verbringt, gerät in Gefahr, irgendwann in Platons Höhle gefangen zu sein: Die Schatten an der Wand erscheinen als Abbild der Wirklichkeit. Scheindebatten werden dann zu gesamtgesellschaftlich relevanten Diskussionen hochgejazzt.
Igor Levit ist einer der wenigen klassischen Musiker*innen, die auf Twitter hyperaktiv sind und den Reichweitenspielregeln konsequent folgen. Mit seinen 46.000 Followern (Stand 12. Februar 2020) hat Igor Levit im deutschsprachigen Twitter Goldstatus erlangt. Dies ist auch deshalb eine Machtposition, weil andere etwas von seiner Aufmerksamkeit abhaben wollen. Mit vielen »Influencern« bildet Levit auf Twitter eine Bedarfsgemeinschaft aus Geben und Nehmen, zahlreiche (Musik-)Journalist*innen scheinen dort mit Levit sehr gut befreundet, man spielt sich die Bälle zu. Nähe zwischen Schreibenden und journalistischem Gegenstand wird durch die geteilte Sicht der Dinge hergestellt – und das gemeinsame Sichtbarkeitsinteresse. [Zwar sind deutschsprachige Medien, was die Richtlinien für den Umgang mit Sozialen Medien angeht, weniger trennscharf als die New York Times. Trotzdem würde wohl kaum ein*e Politikjournalist*in auf Twitter mit Heiko Maas oder Christian Lindner anbandeln.] Während viele Musiker*innen darauf warten, von Journalist*innen oder einer Agentur »entdeckt« zu werden, hat Levit erkannt, dass der beste Weg, sich Beachtung zu verschaffen, der ist, das Bedürfnis anderer nach Beachtung zu bedienen.
Die Ideologie der Authentizität – der Nicht-Darstellung, des Nicht-Aufmerksamkeit-sondern-nur-Musik-machen-Wollens – ist so tief in der Klassikkultur verwurzelt, dass die Darstellungsmuster ihrer Stars in der medialen Darstellung oft einfach gespiegelt werden. Bei Interviews mit Levit hat man manchmal das Gefühl, Interviewer*in und Interviewter strickten arbeitsteilig am gleichen Narrativ. Levits Tendenz, Behauptungen zu widersprechen, bei denen nicht ganz klar ist, wer sie aufgestellt hat (»Musik kann kein Ersatz dafür sein, Rassismus Rassismus zu nennen.«; »Was ich mir wirklich wünschen würde ist, dass wir endlich aufhören Musik als Ersatz für politisches Handeln zu begreifen.«) wird meistens bestärkt. Es erinnert an jenes Privileg des »Genies«, das Georg Franck für Albert Einstein beschrieben hat: »Einstein hat die Rolle des originellen Genies gern gespielt und sich über Gott und die Welt geäußert, weder kompetenter noch tiefgründiger als andere. Aber weil er Einstein war, wird das gern zitiert und als Aussage einer Autorität beachtet, auch wenn er seine Autorität auf einem völlig anderen Gebiet erworben hat.«
Auch Levits Selbstbeschreibung, als politischer Musiker eine Ausnahme innerhalb einer apolitischen Zunft zu sein, wird von der Berichterstattung oft eins-zu-eins übernommen. (Tatsächlich gibt es viele andere Beispiele politisch engagierter Musiker*innen wie Iván Fischer, Gabriela Montero, Sarah Maria Sun, Valery Gergiev, Patricia Kopatchinskaja, Daniel Barenboim, Lisa Batiashvili, Yo-Yo Ma, Fazil Say, András Schiff, Alban Gerhardt, Ensembles, Orchester, Opernhäuser, Laienensembles …)
»Er versteht es als Bürgerpflicht, sich nicht in die Musik zu verkriechen«, heißt es in einem Beitrag der ARD-Sendung titel thesen temperamente. »In der Klassikszene ist er damit eine Ausnahmeerscheinung.« Für 3sat gehört er zu den prägenden politischen Stimmen seiner Generation. »Manchmal scheint es so, als wolle er das Schweigen seiner Kollegen kompensieren, indem er sich besonders häufig einmischt«, schreibt die Zeit. »Levit, der, was sehr selten im Klassik-Musikbusiness ist, dezidiert seine politische Meinung kundtut, der die Botschaft und den Ausdruck der Musik ins Zentrum stellt«, heißt es in der Ankündigung eines von Arte und rbb koproduzierten Dokumentarfilms.

»Die meisten [von Levits] Kollegen halten sich aus der Tagespolitik heraus; sie geben sich apolitisch, sicherlich auch aus Karrieregründen«, mutmaßt die Süddeutsche Zeitung. Wenn Karriere auch ein Resultat von Sichtbarkeit ist, dann ist mittlerweile das Gegenteil wahr: Die besten Chancen, medial vorzukommen, haben diejenigen, die tagespolitisch Stellung beziehen oder ihre künstlerischen Prozesse an politische Themen anbinden. Deutsche PR-Agenturen berichten mittlerweile von einem »Levit-Effekt«: Interviewanfragen an Musiker*innen zu tagespolitischen Themen. Der in der Sowjetunion aufgewachsene Geiger über Putin, die in Deutschland lebende ukrainische Pianistin über die Krim, der in den USA lebende deutsche Geiger über Trump. Wenn Künstler*innen sich nicht äußern wollen, wird die Anfrage oft zurückgezogen. Die Verschränkung zwischen der Politisierung der Kunst und einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die heute auch einen monetären Tauschwert hat, berührt noch andere Fragen. Wenn Politik auf Bekenntnispolitik reduziert wird, gerät zum Beispiel das An-Sich-Politische von Kunst ins Hintertreffen, öffentlich einen Freiraum für das Zerbrechlichste zu verteidigen, für das Anti-Statement, für Seelensachen, die – im Sinne einer Be- und Verwertungslogik – »nicht zählen«. Was macht es mit der politischen Kultur, wenn der Eindruck entsteht, sich tagespolitisch äußern zu müssen, um Beachtung zu finden? Und ist nur derjenige politisch, der das auf den medial wahrgenommenen Sichtbarkeitskanälen tut? So scheint zumindest die Schlussfolgerung eines ttt-Beitrags zu lauten: »Igor Levit ist der politischste unter den Klassikstars – denn er mischt sich per Twitter in aktuelle Debatten ein«.
Wie jede kapitalistische Ökonomie erzeugt auch die der Aufmerksamkeit Asymmetrien.
»Das, was nicht singulär sein kann, will oder darf, wird abgewertet bleibt unsichtbar im Hintergrund und erhält – wenn überhaupt – nur minimale Anerkennung. Es scheint wertlos«, schreibt der Soziologe Reckwitz. Hinter den als singulär sich inszenierenden/inszenierten Klassikstars erscheint alles standardisiert und von der Stange, eine amorphe Masse unpolitischer Musikmaschinen. Die Asymmetrie wird weiter befeuert durch einen Angebotsüberhang auf dem Klassikmarkt: Immer mehr gut ausgebildete Musiker*innen betreten einen Markt, der weitgehend gesättigt ist und dessen Preise immer weiter sinken.
Für Musiker*innen birgt das Singularitätsgebot auch Frustpotential: Jetzt habe ich jahrzehntelang an meinem musikalischen Besonders-Sein gearbeitet – nur um festzustellen, dass es nicht reicht, sondern ich mich auch darüber hinaus permanent inszenieren und performativ selbstentfalten muss.
Nur auf musikalische Qualität zu setzen, war schon immer eine naive Wette. Aber zu warten, bis man jemandem auffällt, ist auch deshalb riskanter geworden, weil es immer weniger gibt, denen man auffallen könnte. Klassische Musik ist in den klassischen Medien weitgehend marginalisiert. »Nur« über (klassische) Musik zu sprechen gilt schon lange als Rohrkrepierer, Kritiken sind Click-mäßig betrachtet ein Totalausfall, der Druck, sich auf die Superstars der Branche zu konzentrieren, ist auch in Feuilletons und Kultursendungen groß. Wenigen festangestellten Musikjournalist*innen steht eine große Zahl prekär bezahlter Freier Redakteur*innen gegenüber, die sich oft in eine Abhängigkeitsfalle begeben, weil sie nebenbei noch für Konzerthäuser, Labels und einzelne Künstler*innen arbeiten müssen. Je mehr die »Instanzen der Urteilsbildung« wegfallen, desto mehr muss ich es als Musiker*in selbst in die Hand nehmen, wie ich gesehen werde: Investive Statusarbeit betreiben, sich einen eigenen Resonanzraum schaffen, radikal öffentlich sein – das alles kostet Zeit und Energie. Die wenigsten können es so gut wie Levit, der einer »Avantgardestrategie« (Reckwitz) folgend »selbstbewusst auf eine eigene Vision setzt, um mit ihr das möglicherweise zunächst skeptische Publikum zu provozieren – und damit entweder zu scheitern oder in besonderem Maße zu reüssieren«.

Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeitsökonomie in der Kultur hierzulande nicht alleine bestimmt durch das freie Spiel der Kräfte, in dem sich Künstler*innen durchsetzen müssen. Mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat sich Deutschland bewusst eine Struktur geschaffen, die ein Regulativ sein soll zur reinen Marktlogik der öffentlichen Kommunikation. Im Bereich der klassischen Musik lässt sich allerdings beobachten, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk »Winner-Takes-All«-Prozesse oft noch verstärkt. Insbesondere im Fernsehprogramm finden sich fast ausschließlich die bereits marktetablierten Stars der Branche. Auch ein Igor Levit ist als »Botschafter Beethovens« (Arte) nirgendwo so präsent wie dort. Die Grenzen zwischen Kultur und Kommerz, Journalismus und Marketing sind dabei nicht immer leicht zu erkennen. So läuft bei BR-Klassik derzeit ein 32-teiliger Podcast, in dem Levit mit Anselm Cybinski über Beethovens Klaviersonaten spricht. Produziert wird der Podcast »in Kooperation« mit Levits Label Sony, wo vor einigen Monaten auch seine Einspielung der Sonaten erschienen ist. Zusätzlich zu den eigenen gebührenfinanzierten Verbreitungskanälen wurde eine PR-Agentur engagiert, um Podcast und Album (»eine der wichtigsten Veröffentlichungen zum Beethoven Jubiläumsjahr 2020«) weiter bekannt zu machen. Eine bessere verkaufsfördernde Maßnahme kann man sich schwer ausdenken.
Die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten zwingt viele Musiker*innen zu einer Strategie, und sei es, weil sie sehen, wie die Konkurrenz ihre Aufmerksamkeitsbeschaffungspraktiken professionalisiert. Allerdings kann auch die konsequente Verweigerung eine Strategie sein. Der Rückzug auf ein »ich spreche alleine durch die Musik« lässt seinerseits aufmerken, weil es dem »Musiker im Dienste der Musik« zur Renaissance verhilft. Und in der Dauersendung anderer klingt die Stille umso lauter. »Reden kostet nur Zeit«, sagt der Dirigent Kirill Petrenko, der seit zehn Jahren keine Interviews mehr gibt. Das kann sich vielleicht aber nur der leisten, dessen Aufmerksamkeitskonto so gut gefüllt ist, dass es sich von alleine verzinst. ¶