Das Moskauer Konservatorium, Großer Saal. Bis Neujahr sind es nur noch wenige Tage. Die Zeit der Nussknacker-Vorstellungen und der überteuerten Eintrittskarten ist eine des Sehens und Gesehenwerdens. Natürlich kann man sich auch weiterhin mit diesem verknöcherten Mainstream zufriedengeben, aber die Moskauer und deren Gäste haben längst ein Näschen für neue Trends entwickelt. Vor allem, wenn sie ihnen so mundgerecht serviert werden wie im Fall von Teodor Currentzis.

Hier knallt es nicht nur zwischen den Sätzen. Mit dem leichtesten Pianissimo beginnt das Invasionsthema im ersten Satz von Schostakowitschs 7. Sinfonie. »Die Kenner«, die offenbar beschlossen haben, die Musik sei vorbei, machen plötzlich so viel Lärm, dass diese gestoppt wird. Der Bogen des Konzertmeisters ruft das Publikum zum Schweigen auf wie eine Hiebwaffe. Nach einiger Zeit wird das Spiel wieder aufgenommen.

Solch ein Benehmen ist für Moskau nicht neu; es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Klassikkonzert in die Kulisse einer mondänen Party verwandelt. Der Erfolg im Westen und die mediale Hysterie haben den talentierten Dirigenten zum Gegenstand des eitlen Interesses gemacht. Die Großen verneigen sich vor ihm und suchen seine Freundschaft – von der einst umstrittenen TV-Diva und jetzigen Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak über den milliardenschweren Oligarchen Roman Abramowitsch bis hin zu Popstars wie Dima Bilan. So viel Interesse zieht noch mehr Aufmerksamkeit an.  

Immer weniger sind bereit, Currentzis und seiner Musik wirklich zuzuhören. Statt »wer und wie« ist »wer« schon gut genug. Hauptsache, man hat ihn gesehen, wird mit ihm gesehen oder kann seine rebellischen und/oder philosophischen Worte zitieren.

»Das ist ein ausschließlich großstädtisches Phänomen«, sagt Currentzis in einem Interview. »Ich bin in Moskau lange nicht aufgetreten, daher die Aufregung. Die Leute kommen nicht wegen Mozart oder Mahler ins Konzert. Sie wollen wissen, was heute in der Welt populär ist.«

Wie die Opposition zum Mainstream zu einem neuen Mainstream wurde

Currentzis wird in Russland eigentlich schon lange für seine musikalische und kreative Individualität geschätzt. Zu Beginn wurden seine Moskauer Konzerte von Musikern, Kritikern, Kunstmusik-Liebhabern und Leuten aus der Kulturszene besucht. »Bei Mahlers Sechster im Sommer 2016 gab es viel frisches Blut, darunter Hipster und Intellektuelle, und die Atmosphäre war durch die Neuheit sogar angenehm«, erzählen die alten Anhänger. »Heutzutage ist es extrem schwierig, von der Hegemonie, von Pathos und Glamour zu abstrahieren und sich auf die Musik zu konzentrieren.«

Die Organisatoren der Konzerte haben offenbar erkannt, welche Vorteile man aus dem Schillern einer kreativen Persönlichkeit ziehen kann. Wer sonst steht so offen für den Rückbezug auf die dionysischen Wurzeln der Musik? Warum kann ein Dirigent kein Sexsymbol sein? So wird die Komplexität des Phänomens vereinfacht und in die Sprache der elitären Massenkultur übersetzt – einer Massenkultur, deren Individuen Angst davor haben, für spießbürgerlich gehalten zu werden.

Auch das Bolschoi-Theater, die Konzerte von Matsuev und Netrebko und seit kurzem auch die von Kissin können der Vorherrschaft des Glamours kaum widerstehen. Von Auftritten ausländischer Künstler wie David Garrett oder Vanessa May ist man das gewöhnt, sie haben ihre popkulturelle Ausrichtung nie verborgen. In der Kunstmusik aber lockt in der letzten Zeit gerade der Name Currentzis die unterschiedlichsten panem-et-circenses-Sucher an.

»Der größte Rockstar des Landes«, »der einzige geniale Student von Musin«, »der Retter der klassischen Musik« – lange genug haben die einheimischen Medien das Image des Revolutionärs und Erneuerers ausgebeutet, schmerzlich fast. Doch wie sonst sollte man heute die Arbeit mit »Konsumenten« produktiv gestalten, wenn man nicht deren etablierten Geschmack herausfordert? Niemand will den Geruch der Vergangenheit mit sich schleppen, zu den Rückständigen und Konservativen gehören – jeder will außergewöhnlich und fortschrittlich sein, jeder will Aufmerksamkeit.

So wurde die Opposition des Mainstreams zu einem neuen Mainstream: für Snobs, für die »Auserkorenen«. »Das Exklusivkonzert für die Auserwählten« – so wurde die Aufführung von musicAeterna in der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis in Moskau vorgestellt. Die Agentur »Volkov pro« vermittelt die Konzerte des Ensembles in Moskau und Sankt Petersburg – ein Blick auf das Firmenprofil zeigt schnell, dass sie mit klassischer Musik nicht viel am Hut hat: Konzerte von Popstars, große Shows und – Currentzis. Es ist alles nur eine Frage von Angebot und Nachfrage.

Tickets für Currentzis‘ Konzerte werden in Moskau und Sankt Petersburg nicht mehr über die Webseiten oder an den Abendkassen der Konzerthäuser verkauft – sie laufen ausschließlich über Drittanbieter. Die Eintrittspreise starten bei 8.000 Rubel (etwa 110 Euro) und sind nach oben hin offen, für das Konzert in der Kathedrale waren es 35.000 Rubel, für Mozarts Requiem im Juni 2017 wurden mehr als 100.000 Rubel gezahlt. An der Abendkasse des Moskauer Konservatoriums nimmt man dazu kein Blatt vor den Mund: »Das Konzert ist kommerziell, Tickets bekommen Sie bei Drittanbietern«.

Einige kommen im Maybach, tragen Diamanten und Louboutin High Heels, applaudieren zur falschen Zeit und seufzen so, als wäre ihnen der Besuch aufgezwungen worden. Andere sind einfacher gekleidet, aber nicht weniger am perfekten Instagram-Moment interessiert.  Sie sind Stammgäste der angesagten Fitness-Studios und Bars, am Nachmittag wird der Körper trainiert, am Abend der Geist, bei einem Currentzis-Konzert. »Wie cool, dass er die ganze Zeit die schwarze Lederjacke anhat«, schreibt »Volkov Pro« in den sozialen Netzwerken. »Einer der besten zeitgenössischen Maestri wird ein Märchen für Mädchen dirigieren«, wirbt eine Vorschau zur konzertanten Aufführung von Prokofjews Cinderella. »Kein Pathos, nur die Liebe«, versprechen sie.

Die ganze Sache scheint Currentzis allerdings kaum zu stören. »Muss ich denn eine Gesichtskontrolle in der Halle organisieren?«, erwidert er in einem Interview. Der Dirigent ist sich sicher: Man kann während Mahlers Sinfonien SMS schreiben und trotzdem eine emotionale Verbrennung erfahren. »Wer sind wir, andere zu verurteilen?«, fährt er fort. »Wer das Bild des Dirigenten der Musik vorzieht, für den ist es an der Zeit, seine Liebe zu mir zu vergessen. Ab jetzt werden die Programme komplexer: Berio, Newski, Lachenmann.«

Wen Frauen wollen

»Wenn ich Liebe mache, will ich die Frau zum Orgasmus bringen«, lässt uns der Maestro 2014 in einem Interview wissen. »Für mich ist das wichtig. Aber leider gibt es heute in der Musikwelt keinen Platz für den Orgasmus. Schönheit macht uns Angst.« Natürlich war das nicht das erste Mal, dass er die Musik mit der Liebe verglich. Und nicht das letzte.

Die private Philharmonie »Triumph« in Perm, im Oktober 2017. Kurz vor Mitternacht haben sich in der Halle mindestens 300 Menschen versammelt, darunter aber nur drei Teilnehmer des Dirigentenworkshops. Der Rest sind Journalisten, einige Männer und – zahlreiche Frauen. Junge Mädchen genauso wie Damen im respektablen Alter. Wie viele von ihnen interessieren sich für das Dirigieren eines Sinfonieorchesters?

»Ich muss so nahe wie möglich dran sitzen«, hört man von einigen, »ich muss ihn sehen, hören ist nicht notwendig«. Die großen Damen des Parketts und Boudoirs sind immer einen Schritt voraus.

Im November desselben Jahres, Sankt Petersburg: Ein Treffen mit Currentzis und Alexander Sokurov zur Eröffnung des Festivals »Diaghilev P.S.« steht an. Die kostenlose Registrierung endet gleich – die Glücklosen sind sogar bereit, den Eintritt zu bezahlen. Einige von ihnen kommen aus Moskau, wo gerade das erste Moskauer »Labor des modernen Zuschauers« stattgefunden hat. Höhepunkt der Veranstaltung war die Gelegenheit, der Aufnahme von Mahlers Erster Sinfonie zu lauschen. Und auch hier: so gut wie ausschließlich Frauen.  

Für Currentzis muss es schwierig sein, den Effekt zu ignorieren, den jeder seiner Sätze – sei es über altgriechische Philosophie, den orthodoxen Glauben, esoterische Einflüssen oder Abschnitte aus dem Tagebuch eines Sexologen – auf eine durchschnittliche russische Frau ausüben kann. Die Qualität des musikalischen Produkts ist für sie nur eine angenehme Ergänzung zu Qualitäten ganz anderer Art.

Eine echte russische Frau war nie zu anspruchsvoll. Historisch betrachtet war sie bereit, dem Geld, der Macht und dem schönen Schein einen armen Meister vorzuziehen, der Gottes Wahrheit zu seiner Mission verkündet hat; einen Kenner der menschlichen Seele mit einem tragischen Schicksal, der seine metaphysischen Erfahrungen in besonders poetische Formen zu hüllen weiß; einen frei denkenden Romantiker, der statt des Körpers die Seele entblößt. Fakt ist aber, dass beim Kauf des Abonnements »Сurrentzis« die Mehrheit – bewusst oder unbewusst, zweckdienlich oder selbstlos – ein Pauschalangebot erhält, all inclusive: die Möglichkeit, sich intellektuell zu entwickeln und sich verführen zu lassen; sowohl den aufklärenden Apollo als auch den sinnlichen Dionysos; einen Musiker, einen Dichter, einen Philosophen; Offenbarungen und Spiritualität; mal feinen künstlerischen Genuss, mal gut verdauliche Massenware.

»Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er für mich die Welt der klassischen Musik wiederbelebt hat«, sagt eine seiner Moskauer Verehrerinnen. Sie folgt seiner Kunst seit mehr als 12 Jahren – also schon von den Zeiten an, in denen er noch unbekannt und die Hallen halb leer waren. Doch sie wollte ihn nie persönlich kennenlernen. »Wozu? Ich schätze ihn zutiefst als Künstler, teile seine Weltanschauung. Mehr brauche ich nicht.«

Von denen, die mehr wollen, gibt es mehr als genug. Sie schminken ihre Lippen scharlachrot, schleichen sich nach den Konzerten in seinen Ankleideraum, stellen philosophische Fragen, umarmen und küssen ihn. In seinem Arbeitszimmer in Perm, in den Kissen liegend, empfängt sie der Maestro mit wahrhaft christlicher Geduld und Räucheraromen. Langjährige Fans sind sich sicher: Weihrauch ist einfach notwendig für jemanden, den die nach Schönheit suchenden Frauen nicht in Ruhe lassen.

Einige verlieren vor Liebe ihren Verstand: »Er ist der Engel, der uns vom Himmel gesandt wurde.« Für die Kennerinnen der Kunstmusik, die ihn nicht als Philosophen akzeptieren, manifestiert sich seine Kraft nur in seiner Musik. Alles andere sei billiges, romantisches Pathos, nebenmusikalischer Rummel. Sie glauben ihm nicht und suchen doch nach seiner Aufmerksamkeit.

»Der größte Schock ist es, aufrichtig zu sein. Das überrascht manche so sehr«, meint Teodor Ioannovitisch. »Der Grund für solch ein hohes Interesse liegt daran, dass niemand ihn völlig versteht«, sagt eine Frau, die ihn 2016 mit Mahlers Sechster gehört hat.

Was will er? Wie Lew Tolstoi scheint er eine Vielzahl von Kulturen in sich aufgenommen zu haben, bezeichnet sich aber gleichzeitig als orthodoxer Gläubiger. Heute liest er religiöse Literatur, schreibt Gedichte und spricht über Feinstoffliches. Morgen lässt er Luxusparfums mit seinem Namen anfertigen, sich halbnackt für Magazine fotografieren und tanzt zu »Too drunk to fuck«. Widersprüche, die Michail Jurjewitsch Lermontow seinem »Helden unserer Zeit« nicht umsonst verliehen hat. Sie ziehen an.

»Genau deshalb fühlt er sich so gut in Russland: Als Land der Widersprüche passt es perfekt zu ihm. Hier kann er mal Heiliger, mal Räuber sein«, sagen die loyalen Zuhörer und fügen hinzu: »Wo immer er auch hinginge, er würde überall Anhänger und Hasser haben. Aber so wie in Russland wird man ihn sonst nirgendwo lieben.« ¶