Vom Blatt gespielt heißt: die Themen, die wir in VAN abbilden, in eine erweiterte Perspektive setzen. Sichtweisen miteinander verknüpfen mit Leuten, die was zu sagen haben und tief in der Musik verwurzelt sind. Das Format ist nicht neu. Bereits im Herbst 2014 spielten wir mit Tabea Zimmermann vom Blatt. Die dabei erwähnten Texte aus der damaligen App sind inzwischen auch hier im Webmagazin enthalten und können über die Links nachgelesen werden.

VAN: Wir haben uns zuletzt in zwei Beiträgen mit Alfred Schnittke beschäftigt, der letztes Jahr 80 geworden wäre: Der Dirigent Frank Strobel schreibt über Schnittkes Filmmusik, und wir sprachen mit Jürgen Köchel, einem langjährigen Freund und Wegbegleiter Schnittkes, der sein Werk beim Sikorski Verlag betreut hat. Schnittke hat auch zwei Werke für Solo-Bratsche geschrieben, sind Sie ihm einmal begegnet?
Tabea Zimmermann: Ja, ich habe Schnittke in Lockenhaus kennengelernt, beim Festival von Gidon Kremer. Die Tonsprache kenne ich gut, ein sehr persönlicher Stil, ich glaube man muss bei Schnittke immer so eine Doppelbödigkeit suchen. Auf den ersten Blick ist manches plakativ, wenn man aber genau hinschaut, sieht man eine ganz starke, vielleicht auch zynische Seite, ein Herausbürsten von Verletzungen und Aggressionen, die gegen einen süßen Klang gestellt sind. Und da kommt es sehr darauf an, wie man es mit seiner eigenen Ästhetik hinbekommt, dass es ehrlich rüberkommt, ohne kitschig zu sein. Ich empfinde das Bratschenkonzert zum Beispiel als ein solches Werk: tiefempfunden; und der langsame, letzte Satz, eine Stille mit einem inneren Beben, das ist großartig, wie er geschafft hat, das auszudrücken. Ich hielt ihn immer für einen tollen Komponisten und als Menschen sehr beeindruckend in der Abkehr vom Äußerlichen. Und dass man seine Tonsprache als ›äußerlich‹ missverstehen kann, fand ich immer komisch. Vielleicht hat mir auch geholfen, ihn als Menschen zu sehen, vielleicht hilft das manchmal doch.

Sie haben das Äußerliche angesprochen: Volker Schmidt geht der Frage nach, wie stark eigentlich die Optik ins Gewicht fällt bei der Rezeption klassischer Musik. Es gibt da einige interessante Experimente, die eigentlich immer als Resultat haben, dass der optische Eindruck alleine viel stärker ins Gewicht fällt, als viele, auch viele Musiker, vielleicht meinen; teils sogar stärker als der musikalische. Wie geht man als Musikerin damit um? Es gibt ja einige, die das sehr bewusst einsetzen.
Ich glaube es ist wichtig, dass wir Künstler uns dessen bewusst sind, dass wir alle möglichen Sinne anregen wollen, wenn wir auf die Bühne gehen und dass wir uns der Situation Bühne auch bewusst sind; aber nicht im Sinne einer Inszenierung, sondern im Dienst der Musik, um einfach ein möglichst komplettes Bild davon zu zeigen. Bleiben wir mal bei Schnittke: Wenn in einem tragischen Moment der Musik die falschen Bewegungen auf der Bühne stattfinden, dann hat der Hörer fast keine Chance mehr, meine Interpretation wahrzunehmen, die Musik so zu hören, wie ich sie eigentlich spiele. Das hat auch mit einer gewissen Selbstkontrolle und Disziplin zu tun.
Jeder geht damit anders um, jeder bringt seine eigenen Stärken und Schwächen anders ein, aber wenn der Künstler auf die Bühne geht und so spielt wie zu Hause beim Üben, dann ist er selbst Schuld, wer sich die Bühne nicht auch zu Nutze macht, als Gespräch mit dem Hörer. Ich kann einen Ton auf der Bratsche, der definitiv nicht mehr gespielt wird und nicht mehr klingt, mit dem Bogen bewusst ›verlängern‹. Ich kann einen heftigen Gefühlsausbruch im Sinne eines starken Akzents natürlich auch durch eine Geste noch verstärken, obwohl meine Bratsche rein akustisch nicht mehr hergibt. Ich finde das legitim. Das muss geradezu sein, das ist ein Gesamtkunstwerk.
Sie unterrichten schon lange – inwiefern spielt so etwas in ihrem Unterricht eine Rolle?
Das spielt eine große Rolle: Wie stark identifiziere ich mich mit dem, was ich da lese, und wie weit kann ich mich dabei bei voller Hingabe gleichzeitig auch von außen sehen. Wenn ich den letzten Satz aus der Schostakowitsch-Sonate spiele, da kann ich ›Lebensende‹, ›Weltende‹, ›Schmerz‹, ›Sibirien‹ oder wer weiß was denken, das bin trotzdem nicht ich. Ein Gedanke, der mich gerade extrem beschäftigt, eigentlich täglich und bei jedem Ton den ich spiele: Wo ist die ideale Mitte zwischen Drinsein und doch beobachten, was da gerade passiert, auch noch Raum für den Hörer lassen, den mit einbeziehen, so wie beim Theater: einen Gedanken so zu formulieren, dass man noch etwas zum Weiterdenken mit nach Hause nimmt. Das verhindert die Routine.

Der Sänger Mathias Monrad Møller schreibt in einem Beitrag über eine Generalpause in Händels Ode To The Birthday of Queen Anne: ›Alles, was nicht Musik ist, ist plötzlich Teil des Stücks. Ein Schnitt, gerade als die Musik am lautesten tobt. Ein Vakuum, das mich einsaugt.‹
Die erste Pause, die mich erschüttert hat, habe ich mit Krystian Zimerman erlebt, und zwar als wir 1982 oder ’83 auf einem Festival das Forellenquintett gespielt haben. Da wurde im letzten Satz eine Pause einfach etwas überdehnt, wo man aber denkt: Jetzt ist gerade die Zeit stehen geblieben. Das kann eine Erschütterung bedeuten, solch eine Pause. Meine Lieblingsgeneralpause gibt es in einem relativ jungen Bratschenkonzert von Georges Lentz, Monh, das Klänge aus dem Himmel über der australischen Wüste beschreibt. Es gibt einen riesigen Aufbau aus dem absoluten Nichts einer sternenklaren Nachtstille, über vielleicht zwanzig Minuten, der sich wie eine Naturgewalt in ein Gewitter oder einen Vulkanausbruch entlädt. Und dann kommt eine Stille von fast einer halben Minute. Und da ist zum Beispiel auch das Optische wieder eine Frage: Was macht man in der Stille? Und interessant ist, was Dirigenten dann machen. Letztens habe ich mich mit einem Dirigenten angelegt, der diese Pause einfach durchdirigieren wollte. Es ist gigantisch, was eine Pause bewirken kann, ich habe das Stück jetzt vielleicht 15 Mal gespielt, und niemals hat jemand gehustet. Vor den ersten Aufführungen hatte ich Angst und habe immer gedacht: Irgendwas muss passieren, die Leute halten das nicht aus. Aber es hängt davon ab, was vor der Stille ist. Die Stille, die Pause steht unheimlich in Bezug zu der Spannung, die wir vorher aufbauen können, die der Komponist vorher angelegt hat.
Stichwort ›Dirigent‹ …
… schwieriges Thema …
… wir haben in letzter Zeit einige Porträts und Interviews mit Dirigent/innen in VAN gehabt, zum Beispiel über den Schweizer Mario Venzago oder mit der Australierin Simone Young.
Ich kenne beide nicht aus der Arbeit, das ist jetzt vielleicht ganz gut.

Werden Dirigenten überbewertet und überschätzt?
Ja und nein. Die wenigen großen Dirigenten, die wissen, wie wenig man machen muss, um die Leute zum Zuhören zu bewegen und die Ohren zu öffnen, die sind nie überbewertet. Die kommen wirklich Magiern gleich. Aber so lange das nicht stattfindet, finde ich sie, in der ganzen hierarchischen Struktur betrachtet, extrem überbewertet. Das ist ein Riesenthema für mich. Als Solistin ordne ich mich einem Dirigenten sofort und gerne unter, wenn ich in der ersten Minute verstehe, dass der mehr weiß als ich. Und mehr weiß, als die Musiker, die da sitzen. Dann bin ich kooperativ und alles. Aber wenn da jemand steht, der meint, nur weil er ›Dirigent‹ heißt, hätte er was zu sagen, mehr Erfahrung, mehr Wissen, dann werde ich tatsächlich etwas unangenehm. Die Hierarchie des Systems finde ich furchtbar, ich glaube, es ist kein Zufall, dass es immer noch so viel mehr Männer gibt als Frauen. Das ist ein Thema, was in unserer Gesellschaft noch lange von Interesse sein wird. Nicht nur, dass man die Frauen da nicht hinlässt, sondern dass Frauen auch wenig Interesse daran haben, diese Rolle so auszuführen, wie sie der Tradition entspricht. Ich denke, man könnte da eine Menge anders machen.
Ich habe ein bisschen den Eindruck, je mehr ein junger Dirigent tänzelt und große Gesten macht, desto mehr wird er gerade hofiert, weil für einige die Gleichung gilt: Je größer die Geste, desto größer die Musik. Vermutlich ist es als junger Dirigent aber auch sehr schwierig, das Gefühl loszuwerden, sich jetzt erstmal beweisen zu müssen?
Wer sich beweisen will, kann gleich zu Hause bleiben. Ich finde das ganz bedenklich. Mein Verständnis eines großen Dirigenten ist jemand, der mit einem unendlich großen Wissen und einer Erfahrung – vielleicht hat das dann doch etwas mit Alter zu tun – den anderen zu Wort kommen lässt. Er erklingt ja nun mal nicht selber, und wenn jemand glaubt, er kann mit mehr Bewegung mehr Klang erzeugen, liegt er einfach falsch. Die Rolle des Dirigenten, egal ob weiblich oder männlich, ist doch ohnehin in unserer Gesellschaft heute zu diskutieren. Wie passt das in unsere Zeit? Oder passt es gerade wieder rein?

Zu unserem Namenspatron (Interview mit Karlheinz Essl): Der hat ja nichts Solistisches für die Bratsche geschrieben, dafür aber zum Beispiel sechzehn Streichquartette.
Für mich persönlich ist Beethoven immer noch ein Buch mit vielen Siegeln. Ich bin da noch beim Einarbeiten, da erscheint vieles sperrig, es fließt mir nicht so zu. Ich empfinde es als Geschenk, dass ich mich jetzt an den späten Streichquartetten abarbeiten muss, da habe ich bisher einen Bogen drum gemacht. Die Suche nach der Mischung von Kopf, Dickschädel und Naturverbundenheit, die aber nicht natürlich rüberkommt, das irgendwie zusammenzubekommen, da beiße ich mir gerade die Zähne aus. Aber reden wir doch in fünf Jahren noch mal darüber, ob ich mich mit Beethoven anfreunden konnte.

Gibt es Werke, für die Sie gerne einmal im Orchester spielen würden?
Ich habe Mahlers Dritte (Artikel von Arno Lücker in VAN) erst vor einer Woche in Berlin gehört, gigantisch und großartig. Vielleicht ist dies eines der wenigen Stücke, bei denen ich auch mal gerne im Tutti mitspielen würde, weil die Masse hier tatsächlich eine Qualität hat, die ich in der Kammermusik einfach nicht erleben kann. Ich finde es unheimlich schön, dass Mahler in den letzen 50 Jahren, vielleicht seit der Arbeit von Bernstein, so ins Blut der Hörer und Musiker übergegangen ist. Wir hören das heute einfach als großartige Sinfonie und stehen nicht mehr so verwundert davor. Man sieht daran, was Zeit für ein Stück bewirken kann, wenn es oft genug gespielt wird. Das gilt natürlich auch für zeitgenössische Musik, die wir zu schnell bewerten, weil wir sie nicht 20 Mal gehört haben. ¶