Sylvain Cambreling ist seit einem Jahr Chefdirigent der Symphoniker Hamburg (»ein Glücksfall«, schreibt das Hamburger Abendblatt über die Verbindung), jetzt ist er aber auf dem Sprung nach Donaueschingen, wo er das Klangforum Wien mit Alberto Posadas’ Poética del espacio leiten wird. Seine Aufnahme von Gérard Griseys Quatre Chants pour franchir le le seuil höre ich seit 2011 immer noch regelmäßig. Ich kriege das Arbeitstier trotz Donaueschingen-Vorbereitungen ans Telefon.
VAN: Ist es Ihnen schon mal passiert, dass Sie ein neues Stück überhaupt nicht mochten? Was machen Sie dann?
Sylvain Cambreling: Natürlich ist mir das schon passiert. Wir tragen eine Verantwortung, wir müssen allem eine Chance geben, wirklich versuchen, das Beste draus zu machen. Manchmal ist die Idee sehr gut, aber die technische Umsetzung nicht perfekt. Man kann dann mit der Komponistin oder dem Komponisten diskutieren und Verbesserungsvorschläge machen. Ich bin nur ein Medium, um die Werke hörbar zu machen. Es ist meine Aufgabe, seriös zu arbeiten. Auch in einem nicht perfekten Stück gibt es immer etwas zu retten.
Etwas zu retten in einem nicht perfekten Stück – wie kann ich mir das vorstellen?
Es hat etwas mit dem Vokabular zu tun. Manchmal fällt es den Komponierenden schwer, die richtige Notation zu finden. Eigentlich ist das heutzutage klar, wie man Vierteltöne oder zum Beispiel Multiphonics für Holzbläser schreibt. Wenn es da in der Notation Fehler gibt, kann man das diskutieren. Manchmal muss man fragen: Was haben Sie sich dabei gedacht? Das ist nicht spielbar. Geht es eher um den Effekt und darum, das Tempo beizubehalten? Oder sollen wir wirklich jeden einzelnen Ton spielen?
Wissen immer alle Komponist*innen, welchen Effekt sie erzielen wollen?
Gerade bei jungen Komponist*innen ist es manchmal so, dass sie sagen: Ich habe diesen Klang im Kopf, aber nicht die richtige Sprache gefunden. Und da muss man dann helfen.
Es gibt eine Aufnahme von Ihnen mit Stücken von Rameau bis Grisey, Sie decken also einen sehr großen Zeitraum ab. Können Sie zwischen diesen Stilen sofort wechseln oder brauchen Sie Zeit, um sich auf die andere Sprache einzustellen?
Für mich ist das kein Problem. Ich versuche immer, mich auf den musikalischen Text zu konzentrieren, zu schauen, wie etwas zusammengeht, woher es kommt. Das braucht aber sehr viel Zeit. Die Art zu arbeiten ist bei jedem Stück anders, das muss man als Dirigent heutzutage akzeptieren, gerade wenn man Neue Musik machen will. Auch, wenn die Notation nicht besonders kompliziert ist, ist es bei jedem Stück eine andere Art der Arbeit. Ich mache das schon seit mehr als 40 Jahren und ich liebe das. Es ist extrem viel Arbeit, aber ich mag das.
Wie war Gérard Grisey eigentlich als Mensch?
Ich habe ihn sehr gut gekannt. Er hat 8 Jahre in Brüssel gewohnt und in der Zeit haben wir uns sehr viel getroffen. Ich habe viele Stücke von ihm dirigiert und wir haben viel gesprochen, über seine Musik, über die Musik von anderen. Er war extrem intelligent und sehr kultiviert, ein Philosoph. Er liebte Literatur und Malerei, war ein Poet, aber in seinem Kopf war alles trotzdem perfekt organisiert. Seine Musik ist komplex, seine Notation extrem präzise und seine Musik bewegt trotzdem viele, auch ›normales Publikum‹, sie ist nicht nur für Spezialist*innen. Sie hat einen besonderen Charme.
Sie sind seit der letzten Saison Chefdirigent der Symphoniker Hamburg. In Hamburg arbeiten jetzt also Kent Nagano, Alan Gilbert und Sie. Sind das nicht zu viele tolle Dirigenten für eine Stadt?
Ich hoffe nicht. Hamburg ist groß genug für drei gute Orchester und drei gute Dirigenten. Ich glaube, es ist das Ziel der Hamburger Kulturpolitik in dieser Stadt, ein breites Musikleben zu schaffen. Alle drei Orchester haben ihr eigenes Profil. Und dann haben wir noch zwei besondere Säle, die Elbphilharmonie und die wunderbare Laeiszhalle, in der wir vor allem spielen. Wir als öffentlich finanziertes Orchester tragen meiner Meinung nach die Verantwortung, ein breites Repertoire, viele Uraufführungen zu spielen.
Wie genau sehen Sie das Profil Ihres Orchesters? Was wollen Sie mit diesem Orchester aufbauen?
Der Klang, den ich mitbringe, ist transparent und leicht. Natürlich kenne ich auch das französische Repertoire besonders gut. Auch die Flexibilität, sowohl barocke als auch zeitgenössische Musik zu spielen, versuche ich zu stärken. Und die gute Beziehung zu den Musiker*innen ist mir sehr wichtig, gegenseitige Sympathie, Spaß an der Zusammenarbeit und ein humorvolles Miteinander.
Wenn ich im Konzert Neue Musik höre, merke ich es manchmal, dass an einem bestimmten Punkt die Aufmerksamkeit im Publikum nachlässt. Bekommen Sie das auch mit, wenn Sie dirigieren?
Wenn sowas passiert, müssen wir uns fragen: Warum? Weil wir technisch nicht gut genug gespielt haben oder nicht engagiert oder sensibel genug? Ich glaube, die Haltung der Musiker*innen auf der Bühne und auch des Dirigenten ist ein Teil unserer Botschaft. Ich wende mich manchmal auch direkt an das Publikum. Die Beziehung zwischen dem Orchester und dem Dirigenten ist wichtig, aber die Beziehung zum Publikum ist genauso wichtig.
Spielen Sie noch manchmal Posaune?
Nein. Seit 45 Jahren nicht mehr.
Sind Sie besonders nett oder streng mit den Posaunist*innen im Orchester?
Nein, ich bin sowieso nicht streng. Ich verlange sehr viel, aber ich bin nicht streng oder aggressiv. Manchmal gebe ich den Posaunist*innen eine spieltechnische Idee. Aber ich kann auch mit den Streicher*innen über die Flageoletts sprechen. Ich glaube, die Musiker*innen spüren, dass ich mich für alle Instrumente interessieren. Sie fragen mich auch manchmal: ›Wie finden Sie das, sollen wir lieber so oder so spielen? Machen Sie einen Vorschlag.‹ ¶