TRANSIT – der Übergang vom Gestern ins Heute, der Blick zurück nach vorn findet sich immer wieder in der Musik des 20. Jahrhunderts: in Schönbergs mit über 400 Sängern und Musikern opulent besetzten Gurreliedern oder Stockhausens im Vergleich dazu geradezu asketisch wirkenden Kontra-Punkten (1953) für zehn Instrumente, in Alban Bergs Oper Wozzeck oder dem großen, 1990 uraufgeführten Orchesterwerk passage/paysage von Mathias Spahlinger. All diese Gratwanderungen werden, neben zahlreichen Uraufführungen, bei der 9. Ausgabe des NOW!-Festivals für Neue Musik der Philharmonie Essen vom 23. Oktober bis zum 3. November zu erleben sein.Wir stellen hier vier Komponist*innen vor, deren Musik bei NOW! TRANSIT erklingt.
»Ich arbeite sehr, sehr viel. Mindestens acht Stunden oder bis zur Erschöpfung. Vielleicht klingt es pathetisch, aber das ist mein Leben. Ich sehe alles durch dieses Prisma. Es bestimmt alles. Das ist vielleicht nicht ungefährlich. Es lässt wenig Platz für andere Sachen. Ich arbeite auch in meiner Wohnung. Ich brauche die Nähe zum Rechner, zu den Skizzen, ich brauche ihre Präsenz. Das atmet, es lebt weiter wie ein Organismus. Und vielleicht brauche ich auch diese Gefahr«, so Mark Andre in VAN. Heraus kommt dabei zum Beispiel sein durch für Sopransaxofon, Schlagzeug und Klavier, auf die Bühne gebracht vom Ensemble folkwang modern und Eva Fodor am 26. Oktober. Außerdem: Karlheinz Stockhausens Kontra-Punkte, Michael Edwards days with glass edges (chasing the butterflies in my wallpaper) für Ensemble und Elektronik (Uraufführung) und Tamon Yashimas Gusseisentänze für Ensemble und Elektronik (Uraufführung).
»Es gibt ja immer noch Komponisten, die meinen, Musik könne als kompositorisch wie auch immer organisierter Widerstand gegen einen kollektiven alles beherrschenden Schönheitsbegriff gesellschaftsverändernd wirken, könne gar, wie ich neulich las, ›den Finger auf die Wunden der Gesellschaft legen.‹. Mein drittes Streichquartett wird dann als Rückschritt empfunden, weil ich darin rückblickend auf entleerte Formeln zurückgreife, deren Präsenz als Ruinen so aktuell ist wie jedes mehr oder weniger faszinierende oder provozierende Geräusch. Vielleicht ist das ein bisschen vergleichbar mit Rückbezügen beim mittleren Schönberg, der, nachdem er die Zwölftontechnik entwickelt hatte, wieder einen Sonatensatz, ein Menuett oder Gigue, gar eine Musette schrieb. Das sind dann aber nicht irgendwie harmlos historisierende Neoklassizismen, sondern strukturalistisch zersetzte Skelette von überlebten aber immer noch zombiehaft überlebenden gesellschaftlichen Preziosen! Und die werden jetzt nicht mehr einfach als interessante Surrealismen in ihrer Verzerrtheit musikalisch genossen, die werden jetzt neu angeleuchtet nach dem Motto aus Shakespeares Hamlet: ›Ist dies schon Wahnsinn, hat es doch Methode‹«, dozierte Helmut Lachenmann einst in VAN. Sein Streichquartett Nr. 3 Grido gibt das JACK Quartett am Sonntagmorgen (27. Oktober) neben Xenakis’ Tetora für Streichquartett und Francesconis Streichquartett Nr. 4, I Voli di Niccolò.
Rebecca Saunders trägt mit der Uraufführung der Ensemble-Fassung von Nether für Sopran, 19 Solisten und Dirigent ihren Teil zur Grenzüberschreitung bei (im selben Konzert: Stephan Winklers Schweres tragend (kleines Musiktheater für zwei Sänger, fünf Instrumentalisten und Elektronik, konzertante Aufführung) und Georges Aperghis’ Intermezzi). Es musizieren, bzw. sprechen Juliet Fraser, Sachika Ito, Daniel Gloger, Thomas Hupfer und das Ensemble Musikfabrik unter der Leitung Bas Wiegers – am 31. Oktober in der Philharmonie Essen. In VAN spricht die Komponistin über ihre Instrumente, Techno-Berlin, magische Orte.
»Spahlingers passage/paysage erfüllt alle Bedingungen eines symphonischen Superknallers. Es hat das große Breitwandformat von Mahler, Bruckner oder Richard Strauss, ist unglaublich abwechslungsreich und intensiv. Es ist aber in den letzten 30 Jahren, glaube ich, nur drei Mal gespielt worden. Keiner traut sich ran. Ich arbeite seit langem dafür, dass dieses Stück aufgeführt wird. Es braucht einen Durchbruch«, verlangte Enno Poppe in VAN. Am 3. November dirigiert er nun das Ensemble Modern mit genau diesem Stück in der Philharmonie Essen.