Ilija Trojanow über Visionen und den Glauben, etwas verändern zu können.

Text · Titelbild Mark Perkins (CC BY-NC 2.0) · Datum 25.4.2018

Erehwon ist der Name einer literarischen Utopie des britischen Autors Samuel Butler. Scheinbar ein sinnfreier Kunstname, bis man das Wort von hinten nach vorn liest und ein weiterer berühmt-berüchtigter Nicht-Ort sichtbar wird, beschworen mit der kreativen Kraft der Fantasie. Das utopische Verfahren wird deutlich: Die herrschenden Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, umgestülpt, was im vertrauten Alltag gilt, ist im Gedankenexperiment außer Kraft gesetzt. Utopia ist somit viel mehr als eine Insel der Seligen, auf der Frieden und Gleichheit herrschen und Bildung als höchstes Gut gilt. Utopia ist die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination. Utopia provoziert das freiste Denken, um Alternativen zu ersinnen.

Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden.

(Carl Zuckmayer)

Insofern ist der seit 1989 so oft verkündete »Untergang der Utopien« ein Totengräbergesang auf alle Träume, der universelle Friedhofsruhe durchzusetzen sucht. Ideologisch begleitet von der unbeweisbaren Behauptung, die Schrecken des 20. Jahrhunderts wären die Folge utopischen Denkens – obwohl man mit besseren Argumenten althergebrachte Missstände wie autoritäre Hierarchie, fanatischen Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und exterminatorischen Imperialismus für die Schrecken des Staatsterrors verantwortlich machen könnte.

Die Flaute radikalen Denkens konnte nur vorübergehend sein, und heute, da Überwachungsstaat, oligarchische Strukturen, destruktive Finanzmärkte und vieles Kriminelle mehr Gegenentwürfe geradezu provozieren, braust der utopische Wind wieder auf. Akut wird die Notwendigkeit spürbar, geistig jenseits eines System zu blicken, das Eigennutz als wirtschaftlichen Motor einsetzt, zum Nutzen einiger weniger, zum Schaden vieler, auf Kosten zukünftiger Generationen.

Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0) 
Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0

Was seit Anbeginn der Moderne utopisch, sprich unrealisierbar, genannt wird, war einst gelebte Wirklichkeit. Die meiste Zeit verbrachte die Menschheit nämlich in herrschaftslosen Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Autorität gab, sondern die Position des Anführers, der Anführerin – oftmals handelte es sich dabei um Matriarchate – an die Weiseste, den Intelligentesten oder die Charismatischste ging. Ausgrabungen im Niger, in China, Pakistan, Peru und Mali aus letzter Zeit belegen, dass sich in den frühesten Zivilisationen keine Spuren zentralisierter Macht finden, keinerlei architektonische Manifestationen von Herrschaft und Unterwerfung – obwohl es bereits ökonomische Phänomene wie Arbeitsteilung und Spezialisierung gab. In einigen der ältesten religiösen Traditionen, etwa im Judentum oder im Taoismus, wird das Gemeineigentum (heute würde wir Allmende oder commons sagen) propagiert.

Dann kam auf leisen und langsamen Sohlen eine zwielichtige Gestalt daher, die sich Fortschritt nannte, und Eigentum als höchstes Gut propagierte. Wer nicht mitmachte in der einsetzenden Hatz nach Geld und Geschmeide, befand sich bald außerhalb des Wertesystems im materiellen Sinne, wer zudem gegen die herrschende Ordnung opponierte auch im rechtlichen Sinne: geächtet, gesetzlos, vogelfrei – zum Abschuß freigegeben. Der einsame Streiter bedrohte allein durch seine bloße Existenz die Sinnhaftigkeit des autoritären gesellschaftlichen Konstrukts.

Epochen geistiger Blüte brachten auch eine Hochkonjunktur an Utopien hervor: das antike Griechenland, die Renaissance, die Industrialisierung. Sklaverei, Feudalismus, Absolutismus, staatliche Willkür wurden zuerst im Kopf abgeschafft, in der Fantasie niedergerungen, bevor sie in der Realität (ansatzweise, teilweise) überwunden wurden. Immer wieder gab es Momente in der neueren Geschichte, das Miteinander radikal anders zu gestalten. Beispielsweise die von Bauern, Kaufleuten und Handwerkern getragene Loslösung der britischen Kolonie in Amerika — diese Revolution führte vorübergehend zu einer Föderation selbstverwalteter Gemeinden, in denen vieles, wenn auch nicht alles zum Guten stand.

Oder die anarchistischen Versuche: die Pariser Kommune, die Bauern- und Partisanenbewegung von Nestor Machno in der Ukraine, die Spanische Revolution in den 1930er Jahren, bei der sich die militante Arbeiterschaft in Teilen des Landes gegen den Putsch von General Franco wehrte und die Kontrolle über die Betriebe übernahm. Noch ehe sich diese Gegenentwürfe im Alltag bewähren konnten, wurden sie allerdings militärisch niedergeschlagen.

Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0) 
Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0

Ebenso bedeutsam sind Einzelkämpfer, deren Ideen bis heute unvermindert alle Ungehorsamszivilisten beeinflussen, wie etwa Henry David Thoreau. Der zog sich in eine selbstgebaute Blockhütte am Walden Pond zurück, wollte aus dem amerikanischen Staat austreten, dessen Einstellungen unter anderem zur Sklaverei ihm widerstrebten, was er mittels Verweigerung der Steuerzahlung kundtat. Dies brachte ihm eine Nacht im Gefängnis ein und der Welt im Gegenzug einen der wichtigsten subversiven Texte überhaupt: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Die legendäre Blockhütte stand übrigens auf dem Grundstück von Ralph Waldo Emerson, einem anderen utopischen Philosophen und Kämpfer gegen staatliches Unrecht.

Kaum einer bezweifelt, dass das Streben nach einem Ideal uns zu besseren Menschen macht. Zugleich trösten wir uns aber, der Idealzustand müsse am fehlerbehafteten und angeblich egoistischen Menschen scheitern. Mit der Ausrede »die menschliche Natur ist halt so« ist schon viel Grausames gerechtfertigt worden. In den Schulen werden weiterhin die Thesen von Thomas Hobbes gelehrt, der mit tönernen Argumenten Zwang und Ordnung legitimiert. Denn gerade die inhärente moralische Schwäche des Menschen wird in dem Maße potenziert, in dem man dem Einzelnen Macht in die Hände gibt, wird verschlimmert durch Privilegien und institutionalisierte Autorität. Wenn der Mensch zu schlecht ist, um gütig und uneigennützig über seine Mitmenschen zu herrschen, wie soll er dann weise und verantwortungsvoll mit der eigenen Herrschaft umgehen? Jeder eingefleischte Misanthrop müsste über die deregulierte Gier auf den Finanzmärkten nur so den Kopf schütteln. Wer an das Schlechte im Menschen glaubt, der müsste erst recht ein System flacher Hierarchien sowie Transparenz auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens propagieren, der müsste sich rigoros die Überwindung von konzentrierter Macht und Vermögen auf die Fahnen schreiben – merkwürdigerweise eine Utopie.

Das Schiff des Ideals ist am Alltag zerschellt.

(frei nach Wladimir Majakowski)

Die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit befinden sich gegenwärtig im Tiefschlaf, im Wachsein dominiert die Ersatzdroge Konsum, vulgo der alleinseligmachende globalisierte Kapitalismus. Unter dem Druck, funktionieren zu müssen, um konsumieren zu können, geht der Blick fürs visionäre Ganze leicht verloren, ebenso wie der Glaube daran, etwas verändern zu können.

Anstatt uns zu fragen, ob Demokratie überhaupt mit Vermögenskonzentration vereinbar ist, überlegen wir uns, wie wir behutsam ein wenig umverteilen sollen. Geld ist Macht, sagt der Volksmund seit Jahrhunderten und nahm vorweg, dass keines der Regulative der parlamentarischen Demokratie eine exzessive Konzentration des Vermögens in den Händen einer oligarchischen Elite verhindern kann. Massiver persönlicher Reichtum beschädigt den Gleichheitsanspruch, auf den eine halbwegs demokratische Gesellschaft nicht verzichten darf. Materielle Ungleichheit bedingt politische Ungleichheit. Dagegen kann man eben nichts machen, denkt sich der Pessimist (also einer, dem es an Phantasie mangelt), die vielzitierte Schere klafft nicht nur immer weiter auf, sie schnippelt eifrig am Mittelstand, bis von diesem nicht mehr übriggeblieben ist als eine verängstigte Schicht zwischen Stigmatisierten und Selbstoptimierten.

Zum Ausgleich ergötzen wir uns an Dystopien, an Endzeitvisionen, die keineswegs als lächerlich diffamiert werden, egal wie apokalyptisch sie daherkommen. Der Dystopie räumen wir gegenwärtig mehr Deutungshoheit ein als der Utopie. Ob in der Romantrilogie Die Tribute von Panem oder in der Fernsehserie Walking Dead, es wird in den populärsten Fiktionen ums brutale Überleben gekämpft. So schlimm ist’s bei uns dann doch nicht, entfährt uns der behagliche Seufzer. Eine erleichterte Flucht ins erfundene Grauen, damit wir den wirklichen Kämpfen, etwa gegen die Klimakatastrophe, entgehen können. Gerade jene, die das Privileg haben, keinen existentiellen Überlebenskampf führen zu müssen, lassen sich von Dystopien einlullen.

Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0) 
Foto MARK PERKINS (CC BY-NC 2.0

Eine Weltkarte ohne Utopie ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit immer wieder anlandet. Und wenn die Menschheit dort angekommen ist, schaut sie in die Ferne, und wenn sie ein besseres Land sieht, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

(Oscar Wilde)

Eine weitere Utopie zu entwickeln, wie Menschen jenseits von Ghettos und Eingrenzungen kreativ zusammenwirken können, wie ein gerechtes Wirtschaften umgesetzt werden könnte, verknüpft mit der Konfluenz, in der sich die verschiedenen Kulturen befruchten, ist unabdingbar. Und noch nie war es so leicht wie in den Zeiten des Internets, diese Vision mit Millionen Menschen zu teilen. Der erste Grundstein einer neuen Utopie übrigens ist der Glaube, dass Alternativen nicht theoretische Konstrukte, sondern reale Optionen darstellen.

Der zweite Grundstein wird zum Pflasterstein der Wegbereitung. Jeder Utopie geht konkretes Handeln voran, die Umwälzung der Verhältnisse wird nicht per Telepathie geschehen. Sie beginnt im Kleinen, in Netzwerken, die freies und kollektives Gesellschaftsleben praktizieren. Oder im Allerkleinsten wie beispielsweise in Tauschbörsen, in denen die Währung nicht in Euro, sondern etwa in Zeiteinheiten bemessen wird, in denen Babysitting gegen Fahrradreparatur getauscht wird.

Wir müssen uns gegen das voranschreitende Kapern des Allgemeinbesitzes wehren, egal ob es sich um Wasser oder das Internet handelt – vor allem, wenn dabei unwiederbringlich natürliche Ressourcen ausgebeutet oder gar vernichtet werden. Widerstand im Alltag, muss die Devise lauten, nichts mehr hinnehmen, was von oben oktroyiert wird, jede Stanze, jede Worthülse hinterfragen. Jeder einzelne ist dazu aufgerufen — es gibt keine Alternative zu organisiertem, gemeinsamem Handeln, um die Welt zu verändern.

Außerdem in dieser Sonderausgabe: Sarah Maria Sun, die beim Musikfest in einer Oper und einem Konzert zu hören sein wird, spricht über weibliche Utopien und die naive Idee, dass Musik einen zum besseren Menschen macht.
Außerdem in dieser Sonderausgabe: Sarah Maria Sun, die beim Musikfest in einer Oper und einem Konzert zu hören sein wird, spricht über weibliche Utopien und die naive Idee, dass Musik einen zum besseren Menschen macht.

Allen Unkenrufen zum Trotz funktioniert er nämlich doch, der Instinkt eines Zusammenwirkens, bei dem nicht einige gleicher sind als andere. Anhand historisch gut belegter Fälle schildert die amerikanische Journalistin Rebecca Solnit in A Paradise Built in Hell exemplarisch, wie Menschen nach Naturkatastrophen das gemeinschaftliche Überleben sichern und ihr Tun mitnichten von Egoismus, sondern von Solidarität und Mitgefühl geprägt ist. In solchen Situationen droht Gefahr vielmehr von den Regierungen und ihren Sicherheitsorganisationen, die das vermeintlich drohende Chaos rasch in »Recht und Ordnung« überführen wollen — mit Gewalt.

Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als das profitable Funktionieren all jener quantifizierbaren Prozesse, die allein dazu dienen, die Macht und den Reichtum einer kleinen Schicht zu sichern. Wir benötigen Utopien, denn ansonsten droht die Hoffnungslosigkeit, und die ist — wie Karl Jaspers einmal schrieb — die vorweggenommene Niederlage. ¶

Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe UTOPIE und wird präsentiert vom 3. Internationalen Musikfest Hamburg. Das Musikfest richtet den Blick in 62 Konzerten vom 27. April bis 30. Mai nach vorne und gleichzeitig zurück: mit Musik, die in ihrer Zeit Stellung bezog, sich nicht abfinden wollte mit vorgegebenen Denk- und Hörmustern – und die gleichzeitig heute Zukunftssehnsüchte spürbar macht. Es geht also um die visionäre Kraft von Kunst und Kultur. Und immer auch die Frage: Wie sehen die Utopien von heute aus? VAN füttert diese Sonderausgabe mit vier neuen Texten über gesellschaftliche Utopien und visionäre Interpretinnen, Komponisten und Filmemacher, deren Kunst im Rahmen des Musikfests eine Rolle spielen wird.