Als künstlerische Musikvermittlerin hat man mit drei großen Paradoxa zu tun: Dass nur erhalten werden kann, was sich verändert; dass man Profi im Amateursein ist; und dass der Zweck des eigenen Tuns die eigene Auflösung ist. Um mit diesen Paradoxa umgehen zu können, muss man nebst einer grundsätzlich künstlerisch-kreativen Grundhaltung mit einem Bewusstsein für komplexe musikalische, gesellschaftliche und kulturwissenschaftliche Zusammenhänge ausgestattet sein. Und vor allem: mit einer gehörigen Portion Mut, Unbescheidenheit, Ungezogenheit und Stehvermögen. Oder wie es kürzlich einer meiner Studenten ausgedrückt hat: .

Wir Musikvermittler sind die Davids im Klassikbetrieb – wir sind diejenigen, die den millionenschweren und jahrhundertealten Goliaths der alteingesessenen Hochkultur mit der Steinschleuder der unbequemen Ideen entgegentreten. Kein Wunder, dass die meisten großen Klassik-Institutionen für ihre Musikvermittlungsabteilung gezielt ganz junge, unerfahrene Frauen einstellen, die sie mit niedrigem Gehalt und mit quantitativ nicht zu bewältigenden Aufgaben ausstatten und sie dann mit den abgebrühten Mitarbeitenden des Orchesters oder Festivals alleine lassen: Damit ist garantiert, dass der Betrieb nicht gestört wird.

Um junge Musikerinnen und Musiker mit Skills auszustatten, um auch institutionsunabhängige Wege für ihre unorthodoxen Ideen und für die eigene Zukunft zu finden, habe ich zusammen mit ihnen und diversen Fachkolleginnen ein Grundlagenbuch zur künstlerischen Musikvermittlung geschrieben. Es soll Musikstudierende zu dem anstiften, vor dem andere sie warnen: Sie sollen sich auch um anderes kümmern wollen als um ihr Instrument oder ihre Stimme. Sie sollen Lust kriegen, sich mit Amateuren auf künstlerische Prozesse einzulassen. Sie werden ermutigt, zu improvisieren und Musik eigenhändig zu bearbeiten, mit einer eigenen Sprache über sie zu sprechen, zusätzliche Instrumente zu spielen oder sich andere Künste anzueignen. Sie werden aber vor allem aufgefordert, einen eigenen Weg in dieser Musikwelt zu suchen und in dieser Gesellschaft als Musikerin mit künstlerischen Mitteln etwas bewegen zu wollen. Denn um als Musiker in einer Gesellschaft und in einem musikalischen System agieren zu können, muss man mehr können, als ein Instrument zu spielen und mit mehr als Spieltechniken und Werkanalysen ausgerüstet sein.

Dem Buch liegt eine Universalthese zugrunde: Musiker mit einer vermittlerischen Haltung denken mit künstlerischen Mitteln bisweilen laut über das System nach, in dem sie tätig sind. Sie gehen dafür immer wieder von der Bühne hinunter in den öffentlichen Raum und verlassen den sicheren Hort ihrer Kernkompetenz. Um mit der Gesellschaft in einen Diskurs zu kommen, machen sie sich gelegentlich also bewusst zu Amateuren – sie werden zu (klassischen) Musikerinnen, die auch improvisieren und arrangieren, die über Musik sprechen und schreiben, die in herausfordernden psychologischen und sozialen Kontexten künstlerisch handeln. Mit einem so erweiterten Horizont kehren sie wieder in ihr System zurück, um es zu transformieren.

Patricia Kopatchinskaja hat diese Haltung kürzlich in einem Interview im Tagesspiegel so ausgedrückt: . Solche Beispiele wie Patricia sind für junge Musikerinnen wichtige Vorbilder – denn die meisten Klassikprofis, mit denen sie sonst zu tun haben, fahren schweres Geschütz auf, wenn es darum geht, Musiker für den (noch) funktionierenden Konzertbetrieb klein und gehorsam zu halten: Klassische Musikerinnen sollen Rädchen im Getriebe bleiben. Nichts da von Kabarett, von Eigenem, von Tingeln! Und schon ganz und gar nichts von »ein bisschen inszenieren« – dieses »ein bisschen« lässt erfahrungsgemäß bei den Gralshütern der Hochkultur alle Qualitäts-Alarmlampen gleichzeitig blinken: »Musiker, bleib bei deinen Leisten, spiel hinter deinem Notenständer, was du perfekt kannst, von allem anderen lass die Finger!«. Nun, das reicht aber nicht, wenn man Musik als soziales System versteht, in dem man als Mensch handlungsfähig werden möchte – eine solche Musikerin muss mit vielen künstlerischen, sozialen, managerialen und wissenschaftlichen Interessen und Kompetenzen gleichzeitig ausgestattet sein.

Ich habe in den 30 Jahren als Musikvermittlerin, Komponistin, Performerin und Veranstalterin viel Erfahrung darin gesammelt, was es bedeutet, Akteure klassischer und Neuer Musik dazu motivieren zu wollen, Machtstrukturen, Aufführungskultur, Konzertkontexte und Zielgruppen zu ändern. Ich habe zur Genüge gesehen, wie die geforderte Teilhabe der Gesamtgesellschaft an der Hochkultur aktiv verhindert wird. Ich habe erbitterten Widerstand erfahren bei Versuchen, Amateure, Jugendliche oder Migrierte in Kuratorien zu holen – geschweige denn auf die Bühne oder ins Programmheft. Nebeneffekt all dieser Versuche ist eine ganze Sammlung interessanter Befunde – die eigentlich nur noch jemand umsetzen müsste. So hatte mich beispielsweise Armin Köhler noch kurz vor seinem Tod damit beauftragt, für Donaueschingen ein Konzept zu entwickeln, um vermehrt Jugendliche in die Neue Musik einzubinden. Im Rahmen des Festivalkongresses Upgrade 2015 war ich denn auch (zum ersten und letzten Mal!) involviert worden und habe zusammen mit den Jugendlichen eine Tagung gemacht, in der spielerisch-ernsthaft alles umgedreht wurde: Die Neue-Musik-Akteure setzten sich zusammen mit Jugendlichen an den Tisch und waren angewiesen, ihnen zuzuhören statt sie niederzureden. Fragestellung war, wie der Kontext der Neuen Musik für Jugendliche in Zukunft attraktiver gestaltet werden könnte. Die lange Liste der teilweise sehr konkreten und direkt umsetzbaren, teilweise aber auch leicht verrückten Ideen wurde am Schluss den Festival-Verantwortlichen von den Jugendlichen präsentiert. Ob etwas davon je in einen Maßnahmenplan umgesetzt wurde, weiß ich nicht…

Um nicht darauf warten zu müssen, dass andere sich bewegen, habe ich parallel dazu mit jungen Musikerinnen zahlreiche Experimente auf eigene Faust unternommen. Wir haben aus Kopatchinskajas Zitat Ernst gemacht, haben zusammen mit diversen Gesellschaftsgruppen bestehende Musikstücke umgestaltet und neu erfunden, improvisiert und abgeändert, verkürzt, anders besetzt und vereinfacht, sie in Tanz, Architektur oder in Bilder übersetzt. Wir haben diese Werkstätten als ernstzunehmende Kunstwerke auf die Bühne gebracht und neben herkömmlichen Musikwerken aufgeführt. So entstand beispielsweise das Modell für das Generationen-Projekt Silberwellen im Röseligarten, das heute von den ehemaligen Studierenden selbständig weitergeführt wird und sich spielend finanzieren lässt. Die Musiktheater-Vermittlerin Angela Koerfer-Bürger, die beim Entwicklungs-Prozess dabei war, zieht die Bilanz folgendermaßen: »Durch Begegnung mit Menschen aller Horizonte, mit Eingewanderten, Liebhabern der volkstümlichen und der Popmusik, ehemaligen Radiomoderatorinnen und Klassikfans fanden die Studierenden zum Ursprung ihres Wunsches zurück, aus Musik ihr Leben zu gestalten. Die beteiligten Seniorinnen und Senioren waren zuerst zurückhaltend und vorsichtig neugierig, was dieses gemeinsame Abenteuer bieten würde. Doch ihre Leidenschaft für ein Gestalten durch Musik, fürs Singen und musikalische Erinnern war so gewaltig, dass die jungen professionellen Musikerinnen allesamt einen substanziellen Antrieb für ihr eigenes Schaffen erhielten. Die Verbindung zwischen Laien und Profis war regelrecht magisch, für beide Seiten elektrisierend«.

Silberwellen im Röseligarten: Ein kleines Beispiel, aber ein exemplarisches – dafür, wie das operative Spektrum von klassischen Musikerinnen erweitert werden kann. Und wie sich dadurch ganz viele kleine Rädchen des Klassikbetriebs in Bewegung zu setzen beginnen: Musiker mit einer vermittlerischen Haltung holen mit künstlerischen Mitteln Werke dahin zurück, wo sie diese verortet haben wollen. Sie überlassen die klassische Musik nicht nur dem Bildungsbürgertum, der Repräsentanz oder der Schule. Vielmehr fördern sie eine Art von Wahrnehmung, die sich nicht an Autoritäten orientiert. Deshalb lassen sie sich auch nicht in disziplinäre Grenzen sperren. Den daraus resultierenden Respekt vor dem Amateursein bringen sie in ihr berufliches Umfeld ein. Damit bewirken sie langfristig, dass ihre Musik im Idealfall keiner Vermittlung mehr bedarf, weil diverse Gesellschaftsgruppen beim Kuratieren, Inszenieren und Moderieren mitgedacht werden. ¶