Im Jahre 1204 hörte Francesco Bernardone, der Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers aus Assisi, bei einem Kirchenbesuch die Stimme Gottes. Bernardone war damals Anfang zwanzig, ein sorgloser Mann, der gerne Sport trieb, Musik hörte und mit Freunden abhing. All das änderte sich schlagartig mit eben jenem Erweckungserlebnis. Bernardone schwor, ab sofort Gott zu dienen. Der Bischof persönlich war Zeuge, wie der junge Mann sich von allem väterlichen Reichtum und überhaupt jedem Besitz – einschließlich der Kleider, die er am Leib trug – lossagte, um fortan in heiliger Armut zu leben. Diesen Bernardone kennen wir heute als heiligen Franziskus von Assisi.

Im Vorwort zur englischen Übersetzung der Blümlein des heiligen Franziskus, einer Textsammlung, die Bernardones Gefolgschaft nach seinem Tod zusammenstellte, schreibt A.G. Ferrers B. Howell, dass Zeitgenoss:innen Franziskus regelmäßig für verrückt erklärten.

Bernardones abrupte Kehrtwende von einem völlig normalen jungen Mann zum Asketen – er aß, was andere wegwarfen und fand selbst einen Lederriemen, mit dem er seinen Umhang hätte schnüren können, zu dekadent – gibt Rätsel auf. Nachvollziehbarer könnte sein Verhalten werden, wenn man es mit unserem heutigen Wissen über psychische Erkrankungen abgleicht. Sowohl bei Betroffenen von bipolaren Störungen als auch von Schizophrenie zeigen sich die ersten Anzeichen häufig Anfang 20. Psychische Erkrankungen sind maßgeblich von der Gesellschaft beeinflusst, in der sie entwickelt werden. Dass Bernardone seine Erfahrungen und Wahrnehmungen in katholische Begriffe und Bilder kleidet, liegt da nahe. Aber: Wie fern war der heilige Franziskus der Realität? Und hatte er Recht in seiner Annahme, dass Not und Leiden der einzige Weg zur Gnade sind?

Diese Fragen stehen im Zentrum der neuen Inszenierung von Olivier Messiaens Saint François d’Assise (1983) am Theater Basel unter der Regie von Benedikt von Peter und der musikalischen Leitung von Clemens Heil, die am 15. Oktober Premiere feierte (zu der das Theater Basel mich einlud). Das Werk ist halb Oper, halb Oratorium, irgendwo zwischen Parsifal und der heiligen Messe. Wie der Musikwissenschaftler Paul Griffiths schreibt, besteht ein gewisser Widerspruch zwischen Messiaens dogmatischem katholischen Glauben und seiner Offenheit für die unzähligen musikalischen Einflüsse, die in Saint François zu hören sind. Die neue Inszenierung treibt diesen Widerspruch noch weiter, zweifelt einerseits an der Weltanschauung Franziskus’, erkennt aber gleichzeitig an, dass die Musik und die frommen Gefühle, die sie hervorruft, das Zeug haben, uns in Ekstase zu versetzen.

Der Komponist Oscar Strasnoy hat die vierstündige Oper für die Basler Inszenierung um 20 Minuten gekürzt und die Instrumentierung um zwei Drittel reduziert, von 120 auf 40. »Meiner Meinung nach ist die Originalfassung zu groß, zu opulent geraten«, sagte er gegenüber der Basler Zeitung. Einem Werk von Messiaen zu große Opulenz zu attestieren, ist Unsinn, denn es geht dabei oft ja gerade um Erhabenheit. Aber Strasnoys Version lässt tatsächlich angenehm viel Platz für die Sänger:innen und klingt selten blutleer. Nur der letzte Akkord, C-Dur mit hinzugefügter Sechste, hätte furchteinflößender sein können.

Der Basler Saint François beginnt nicht mit dem typischen »Vorhang auf«. Stattdessen sieht das pandemiebedingt vereinzelt sitzende Publikum schon beim Betreten des Saals einen Parkplatz der französischen Supermarktkette Carrefour: Werbetafeln und Autobahnauffahrten; aus der Mitte des Publikums erhebt sich ein Strommast, der das Flair vorstädtischer Ödnis verströmt, aber manchmal auch den Blick versperrt. (Das Bühnenbild stammt von Márton Ágh.)

Der heilige Franziskus, sauber artikuliert gesungen von Nathan Berg, seine Bruderschaft und sogar der Engel, der im zweiten Akt erscheint, um deren Glauben zu prüfen – alle sind als Obdachlose gekleidet. Die Sänger:innen spielen diese Rollen überraschend gut. Es entsteht eine geheimnisvolle, rituelle Dynamik, die mich an das von außen zuweilen rätselhafte Verhalten von Gruppen wohnungsloser Menschen Berlin erinnert.

Regisseur von Peter stellt von Anfang an in Frage, ob der Protagonist die Realität, die ihn umgibt, überhaupt noch wahrnimmt. Im ersten Akt erklärt der heilige Franziskus dem vom Pech verfolgten Bruder Leon (Jason Cox) das Wesen der »vollkommenen Freude«, die Franziskus in tiefem Leid findet. (In den Blümlein des heiligen Franziskus ist diese Szene recht lustig dargestellt: Der heilige Franziskus schreit kontraintuitive Glaubensgrundsätze durch die Gegend, während Bruder Leon versucht, alles mitzuschreiben und gleichzeitig mit dem zügigen Gehtempo Franziskus’ Schritt zu halten.) Sowohl Messiaen als auch von Peter kleiden diese Szene in ein dunkleres Gewand: Leon singt von seiner Angst vor dem Tod, während Franziskus um einen der Strommasten herumflitzt und sein theologischer Vortrag eher einem Selbstgespräch gleicht. In einem Orchesterzwischenspiel kriecht Franziskus zwischen die Musiker:innen des Orchesters und jagt Melodiefetzen hinterher: Die üppige, zerklüftete Musik scheint im Inneren seines Kopfes zu spielen.

In der dritten Szene des ersten Aktes begegnet der heilige Franziskus einem Aussätzigen (Rolf Romei, mit ironischem Biss singend), der einen verständlichen Zorn auf Gott hegt: Die Krankheit hat ihm alles genommen, wie Hiob hat er nun gar nichts mehr. Die anderen Brüder weigern sich, ihn zu behandeln, sind seiner blasphemischen Schimpferei müde. Franziskus überwindet seinen Ekel vor dem Aussätzigen, küsst ihn und heilt ihn sofort von der Krankheit. In von Peters Version geschieht bei diesem Wunder allerdings nicht viel. Die beiden Männer tanzen zusammen einen Spottwalzer. Der Husten des Leprakranken, der in der COVID-19-Ära durch Mark und Bein geht und tödlich sein kann wie manche Hautkrankheit im 13. Jahrhundert, hört aber nicht auf.

Eine mutige Regie-Entscheidung. Messiaen meinte einmal, er habe die Geschichte des Franziskus vertont, weil sein Leben dem Leben Jesu nahe sei; die Wunder Franziskus’ in Frage zu stellen, kommt da Blasphemie gleich. Gleichzeitig kommt dabei aber auch ausgezeichnetes Regietheater heraus. Von Peter untergräbt die Werte, die der Text impliziert. In den Blümlein stirbt der Aussätzige, nachdem er geheilt und ihm die Freude am Leben zurückgegeben wurde, innerhalb von zwei Wochen einen »guten Tod«. Für das moderne Publikum könnte man dies als eine doppelte, ironische Grausamkeit Gottes lesen. In dieser Inszenierung erscheint der Leprakranke immer wieder und bezeugt Franziskus’ Wunder – oder eben Spinnereien.

Im zweiten und dritten Akt wird von Peters Inszenierung dann aber zu zynisch. Die vermeintlich freundlichen Brüder geraten in einen heftigen Streit um einen Ball und ein Fahrrad. Sie beäugen den Engel (strahlend gesungen von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir) mit lüsternen Blicken. In diesen Momenten läuft die Inszenierung Gefahr, herabwürdigende Stereotypen über Obdachlose zu reproduzieren.

Der Regisseur hinterfragt zwar zu Recht sowohl die Wahrnehmung als auch die Moralvorstellungen der Franziskaner, aber seine Kritik würde stärker wirken, wenn er zumindest manche der Erkenntnisse Franziskus’ anerkennen würde – insbesondere dessen tiefe Wertschätzung der Natur. In dieser Inszenierung hält Franziskus die legendäre Predigt an die Vögel, aus der in Messiaens raffiniert ausgestalteter Version eine tiefe Liebe zu hören ist, während er einen Einkaufswagen schiebt; die Vögel, zu denen er singt, sind fake. Von Peter unterwandert also auch diese Lektion Franziskus’, die wir uns heute eigentlich öfter vor Augen führen könnten und die Madeleine l’Engle in ihrem Vorwort zu einer Blümlein-Ausgabe hervorhebt: Franziskus hat die Menschen nicht als Krönung der Schöpfung verstanden.

Der größte Schwachpunkt in diesem neuen Saint François ist aber das Orchester, das Präzision und spitze Attacken – vor allem in den Xylophon- und Marimba-Anfängen, die in der Oper häufig vorkommen, und bei den Piccolo-Soli – vermissen ließ. Und diese Attacken, so paradox es klingt, bringen Messiaens Musik erst wirklich zum Singen. Zum Ende hin hatte die Aufführung Längen: einerseits wegen des fehlenden Bisses der musikalischen Interpretation und andererseits, weil Messiaens Musik in diesen Abschnitten repetitiv wird und zu viele Pausen hat. Sie endet und beginnt wieder, anstatt uns mitzureißen. Merkwürdig für einen Komponisten, der sonst endlose Melodielinien schreibt, die selbst Richard Wagner Konkurrenz machen.

Alles in allem bleibt mir diese intelligente Version von Saint François aber in guter Erinnerung. Am Ende des Stückes erscheinen die Wunden Christi auf dem Körper des Franziskus, der seinen schmerzhaften Tod jubelnd empfängt. Während dieser Ekstase spukt der Aussätzige weiter auf der Bühne herum. Durch seine bloße Gegenwart scheint er Franziskus zu fragen: Was ist, wenn deine Wunder nie geschehen sind? Was ist, wenn das, wofür du leidest, gar nicht real ist? Hat sich dein Leiden dann trotzdem gelohnt? Im dritten Kapitel der Blümlein verlangt Franziskus, dass einer seiner Brüder ihm auf Mund und Kehle treten soll. Nicht einmal der gütige, treue Bruder Bernard erkennt darin einen Sinn.¶

Jeffrey Arlo Brown

...ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Seine Texte sind auch in Slate, The Baffler, The Outline, The Calvert Journal und Electric Lit erschienen. Er lebt in Berlin. jeff@van-verlag.com