Ein Gespräch mit Silke Wenzel von MUGI – »Musikvermittlung und Genderforschung im Internet«.
»It’s 2017! Why is it a Sausage fest, when it comes to German Rap?«, fragte Chilly Gonzales vor ein paar Tagen, als er im Radio die nach Verkaufszahlen ausgewählte, rein männliche aktuelle Top10 des deutschen HipHop bewerten sollte. Das Gleiche müsste man mit Blick auf die Komponist*innen in gängigen klassischen Konzertprogrammen und musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen fragen. Why is it a Sausage fest, when it comes to Classical composers? Wo sind die Frauen? Sie sind und waren im klassischen Musikleben eigentlich überall – quasi schon immer. Man muss sie nur finden. Und da kommt MUGI ins Spiel.MUGI ist eine Online-Plattform für Musikvermittlung und Genderforschung. Sie besteht aus einem Personenlexikon mit 526 grundlegenden Artikeln zu Musikerinnen und Musikern aus Genderforschungsperspektive. Viele Artikel werden ergänzt durch Materialsammlungen: Fotos, digitalisierte Noten etc. oder kommentierte Links. Das Lexikon beginnt im Mittelalter bei Hildegard von Bingen und endet in der Gegenwart, bei lebenden Komponist*innen und Profimusiker*innen. Zu einigen Themen oder Personen wurden außerdem multimediale Präsentationen zusammengestellt (zum Beispiel zu Fanny Hensel). Peu à peu wird die Plattform derzeit ins Englische übersetzt. MUGI ist seit 2003 online. Initiatorin war Beatrix Borchard, die MUGI inzwischen gemeinsam mit Nina Noeske herausgibt. MUGI ist angegliedert an die Hochschule für Musik und Theater Hamburg, wird zum größten Teil aber von der Mariann Steegmann Foundation finanziert. Geschrieben werden die Artikel von freien Autor*innen, zwei Redakteurinnen sind angestellt. Die eine, Silke Wenzel, habe ich in Hamburg angerufen.
VAN: Nach welchen Kriterien wird entschieden, wem in MUGI ein eigener Artikel gewidmet wird?
Silke Wenzel: Wenn man ein Musikleben vervollständigen möchte, dann geht es darum, zu zeigen, wie Frauen in irgendeiner Form professionell musikalisch gewirkt haben. Für einen Artikel reicht es, dass es irgendwo eine Andeutung gibt, dass eine Frau als Musikerin gewirkt hat. Das heißt nicht, dass diese Frau damit unbedingt ihren Lebensunterhalt bestritten hat. Fanny Hensel zum Beispiel hat nicht von der Musik gelebt, hatte aber trotzdem eine unfassbare Wirkung auf das Musikleben in Berlin. Es gibt aber auch Musikpädagoginnen, die im 19. Jahrhundert tätig waren – vor allem in England unter anderem solche, die an Schulpensionaten neben dem Unterricht für den Schulchor komponiert haben. Die haben in einem kleinen, regionalen Bereich teilweise große Lebenswerke aufgebaut.
Zu Beginn jedes Artikels wird kurz die Tätigkeit der jeweiligen Person zusammengefasst. Bei Alma Mahler ist das zum Beispiel ›Komponistin, Salonière, Muse‹. Ist so eine Kategorisierung nicht oft sehr schwierig?
Das ist sehr schwierig, aus verschiedenen Gründen. Muse, zum Beispiel, ist eine Tätigkeitsbezeichnung. Wir verbinden mit ›Muse‹ Widmungswerke und eine Wirkungsform im Musikleben. Die Schwierigkeit, in Schlagworten zu beschreiben, wie die Frauen gewirkt haben, zeigt, wie sehr wir in der Musikgeschichtsschreibung fokussiert sind auf Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, Sängerinnen und Sänger, Komponistinnen und Komponisten und wie viel größer und umfassender die Möglichkeiten sind, im Musikleben tätig zu sein.
Was war ein besonders interessanter Fund für Sie?
Es gibt zum Beispiel die Sammlung Manskopf – ein riesiges Sammelsurium an Autogrammkarten, aus dem wir unglaublich viel erfahren über Musikerinnen und Musiker des 19. Jahrhunderts. Da sind sehr interessante Entdeckungen dabei. Bekannt sind zum Beispiel die Zwillinge Ottilie und Franziska Friese, eine Geigerin und eine Pianistin, von denen ich zunächst solche Autogrammkarten in der Sammlung Manskopf gefunden und dann angefangen habe, die Namen systematisch durch alle Rechercheinstrumente zu schicken, bis sich für beide ein kleines Profimusikerinnen-Lebensbild ergeben hat. Ich habe hier Lücken gefüllt – das machen wir ständig. Auch in vergangenen Jahrhunderten waren Frauen im Musikleben viel mehr tätig, als wir uns das überhaupt vorstellen können – weil wir von einer anderen Musikgeschichtsschreibung geprägt sind, die sich an den großen Komponisten orientiert und nicht so sehr fragt: Wie war ein Musikleben strukturiert?

Wenn man erfahren möchte, wie man Gender Studies auf einen ganz ›altbekannten‹ Komponisten anwenden kann, dann sollte man beispielsweise den Brahms-Artikel von Marion Gerards lesen. Sie hat in Brahms’ Biographie nach Männerfreundschaften gesucht oder untersucht, wie das Beziehungsgeflecht zu Schülerinnen und anderen Frauen in Brahms’ Umgebung war. Oder: Wie werden in Brahms Werken, in den Liedern, Geschlechterverhältnisse thematisiert?
Auszug aus dem (sehr viel umfangreicheren) Brahms-Artikel von Marion Gerards:
»Die Schilderung einer glücklichen Liebesbeziehung […] bleibt in den Klavierliedern von Brahms eher die Ausnahme (op. 63/5; op. 85/6; op. 91/5; op. 96/2). Man findet vielmehr einsam gebliebene, verlassene oder betrogene Frauen, deren Leben durch eine unglückliche Liebe zerstört ist. Bereits in seinem ersten Lied op. 3/1, Liebestreu präsentiert Brahms eine verlassene Frau, die entgegen dem mütterlichen Rat ihre Liebe nicht aufgeben will. Die Musik macht sowohl die Unumstößlichkeit der festverankerten Treue der liebenden Frau als auch das damit verbundene Leid deutlich. Brahms zeichnet in seinen Klavierliedern Frauen- und Männerfiguren mit ihren Stärken und Schwächen, mit Fehlern und Ängsten, in ihrem Scheitern und Leiden, zuweilen auch in ihrem Glück. Er thematisiert neben den idealen Imaginationen auch das psychologisch Wahrscheinliche, das einen realistischen Zug in das Geschlechterverhältnis bringt. Auch seine Vorliebe für Gedichte mit erotisch-sinnlichem Inhalt ist kennzeichnend für diese Liebesauffassung.«
Silke Wenzel: Dabei geht es nicht um ein ›besser‹ oder ›schlechter‹ und schon gar nicht um irgendwelche Schuldfragen gegenüber einem toten Komponisten und einer Zeit, die vollkommen anders strukturiert war als unsere heutige. Weitere Männer-Artikel beschäftigen sich zum Beispiel mit Franz Schubert, Richard Wagner oder Richard Strauss.
Wissen Sie, von wem und in welchem Umfang MUGI genutzt wird?
MUGI hat keinen Zähler – auch zu recht. Ich finde, das ist eine ethische Frage. Als Wissenschaftlerin möchte ich keine Hierarchisierung durch Klicks. Ich will sagen können: ›Wir finden es wichtig, dass auch Musikerinnen, von denen wir nur den Namen und die Berufsbezeichnung kennen, aufscheinen.‹ Ich habe die Sorge, dass ein Klickzähler auch Rückwirkungen auf die Inhalte hätte. Wir bekommen aber sehr viele Rückmeldungen, sowohl aus dem professionellen als auch dem privaten Umfeld, Verwandtschaft, interessierte Konzertbesucherinnen und -besucher, Klassikliebhaberinnen und -liebhaber und auch aus dem Bereich der allgemeinen Genderforschung.
Wie könnte MUGI noch genutzt werden? Zum Beispiel von Konzertveranstaltern, die dort nachgucken, ob sie nicht ein paar Frauen finden, die sie noch auf das Programm setzen können?
Diese Hoffnung verbindet sich immer mit so einem Projekt – dass wir nicht nur wissenschaftlich zeigen, wie Frauen das Musikleben beeinflusst haben, sondern, dass wir ihre Wirksamkeit für heute, was für uns bei männlichen Komponisten in vielen Fällen relativ selbstverständlich ist, wieder spürbar machen. Unsere Studierenden schauen durchaus in MUGI, ob sie Kompositionen für bestimmte Besetzungen finden. MUGI wird jetzt auch eine Erweiterung in Richtung Popularmusik unter Genderaspekten erfahren. Und es wird auf lange Sicht zusätzlich einen Sachteil geben. Auch mit Schulen gibt es immer Kooperationsprojekte – zum Beispiel das ›Panorama der Vielfalt‹ über Popmusik und Gender, das wir mit den Schülerinnen und Schülern einer Gesamtschule erarbeitet haben. Oder Studierendenprojekte, wo Studierende Artikel für uns schreiben. Vor allem unsere multimedialen Seiten werden auch im schulischen und universitären Unterricht eingesetzt als Material, zum Beispiel die Präsentation ›Spielfrauen im Mittelalter‹, um zu zeigen, dass es damals eben nicht nur spielende Männer gab, sondern auch professionelle Musikerinnen.
Wie erleben Sie die Musikwissenschaft in Bezug auf Geschlechterklischees oder Rollenbilder?
Das ist eine schwierige Frage. Ich erlebe unsere Disziplin als sehr unterschiedlich und häufig sehr zerrissen. In vielen Bereichen finde ich, dass die Musikwissenschaft in den letzten 20 Jahren in Bezug auf eine Gleichstellung einiges erreicht hat. Ich glaube, dass sie trotzdem zum Teil immer noch ein sehr konservatives, sehr etabliertes Fach mit sehr engen Fächergrenzen ist. Das gilt nicht immer und überall. Es gibt Nischen, wo dem nicht so ist. Es gibt selbstverständlich immer die Kolleginnen und Kollegen, die das anders handhaben. Aber man spricht von der Musikwissenschaft immer als einer ›verspäteten Disziplin‹. Das bedeutet, dass Dinge, die in der Literaturwissenschaft, in der Kunstgeschichte, in der Philosophie längst allgemeiner Konsens oder eine allgemeine Sichtweise sind, in der Musikwissenschaft immer nochmal 20 Jahre brauchen, bis sie ankommen. Es gibt ganze Bücher über dieses Phänomen… Ich habe nicht das Gefühl, dass man dem ›warum?‹ da wirklich nahekommen könnte. Man kann eher konstatieren, dass es so ist.
Die ganz traditionelle Musikphilologie, die ganz traditionelle historische Musikwissenschaft, die sich den großen Komponisten mit ›ungeheuer großer Musik‹, mit geschlossenen Werken widmet … – wenn sie heute auf Bach-Symposien gehen, dann ist der Anteil weiblicher Teilnehmerinnen dort gering. Und das liegt bestimmt nicht daran, dass Frauen kein Interesse an Bachforschung hätten, sondern, dass das ein ganz etablierter Bereich ist, der noch immer sehr stark männlich besetzt, männlich vertreten ist.
Das ist im Genderforschungsbereich natürlich eher umgekehrt. Obwohl die ehemalige Frauenforschung sich immer mehr der Frage nach Geschlechterverhältnissen, auch der Männlichkeitsforschung, der Diskursforschung annähert, ist es trotzdem noch immer ein Bereich, der vorwiegend weiblich vertreten ist – was ein bisschen schade ist. Sowohl für die Bachforschung, als auch für die Genderforschung. Es wäre schön, wenn sich beide Bereiche einer Gleichstellung annähern könnten.

Erleben Sie das ähnlich in der Klassikwelt, zum Beispiel im Konzertwesen?
In der Welt der Solistinnen und Solisten nicht. Das ist schon sehr lange relativ ausgeglichen. Was die Profiorchester betrifft würde ich nach wie vor kühn behaupten, dass da fast keins bei 50/50 Frauen- und Männeranteil ist. Ich habe das nicht nachgeprüft – wenn mich da jemand eines Besseren belehrt, bin ich die erste, die sich freut. Das wird schon besser mit den Probespielen hinter dem Vorhang – obwohl viele Studierende das auch als sehr belastend empfinden. Für mich hat der große Klassikbetrieb außerhalb der Nischen immer etwas Beklemmendes – weil er ein riesengroßer Betrieb ist, weil er ganze Lebenswege zerstört, weil er die ganz große, hohe Kunst kennt, aber menschlich, biografisch auch den ganz tiefen Fall. Weil er unfassbare Ansprüche an das Können, an die Virtuosität, an die musikalische Präsenz stellt. Und dem muss ein Mensch erstmal gewachsen sein – egal ob weiblich oder männlich. Dagegen habe ich persönlich sehr große Vorbehalte. Ich tue mich schwer damit, das nur in Hinblick auf Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen, auch, wenn dort noch sehr sehr viel zu tun ist.
Was kann eine Plattform wie MUGI da verändern?
Ich beobachte zumindest an der Musikhochschule Hamburg, dass unsere Studierenden permanent nach unbekannten Stücken suchen. Ich hoffe, dass wir zum Beispiel irgendwann die Werkverzeichnisse in MUGI nach Besetzungen klassifizieren und in einer Datenbank unterbringen können. Das ist aber ein Zukunftsprojekt. Wir erhoffen uns natürlich immer die große Wirkung, aber letztlich ist Wissenschaft – und ich glaube alle Wissenschaft – eine Sache der ganz kleinen Schritte. trotzdem bin ich der Überzeugung, dass, wenn wir eine Musikgeschichtsschreibung ändern, indem wir sagen: ›Da waren überall Frauen, wir kennen die heute nur nicht mehr‹, wird das auch eine Rolle für das Bild unseres heutigen Musiklebens spielen.
Als ich angefangen habe als Autorin von MUGI, habe ich eine Profimusikerin gefunden und noch eine und noch eine und noch eine … und nach und nach wurde klar, dass im 19. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, die Frauen aus den großen Konservatorien nicht ausgeschlossen waren. Das deutsche Konservatorium in Leipzig wurde ja erst 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy als Ausbildungsinstitution gegründet. Das heißt, wir haben erst seitdem eine institutionalisierte Musikausbildung. Und im Rahmen dieser Ausbildung war in Leipzig seit der Gründung ein ganzer Teil der Studierenden weiblich. Es gab Konservatorien in Prag oder Wien, wo die weibliche Studierendenschaft über 50 Prozent ausgemacht hat – im 19. Jahrhundert. Daher lautet eine These: Frauen waren nicht ausgeschlossen – die Musikausbildung war umgekehrt die einzige mögliche akademische Ausbildung für Frauen. Das heißt, wenn Eltern ihre Töchter akademisch ausbilden lassen wollten, dann legte das eine Musikausbildung nahe. Es sind natürlich nicht so viele Frauen international aufgetreten. Das ändert sich nochmal Ende des 19. Jahrhunderts, das ändert sich nochmal in der Nazizeit. Aber im Prinzip sind die Geschlechter in der Ausbildung relativ ausgeglichen – schon im 19. Jahrhundert, genau wie heute. Wir haben aber immer noch das Problem, dass Musikerinnen, die wir ausbilden, im Musikleben nicht Fuß fassen. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir da heute so viel weiter sind als das 19. Jahrhundert, über das wir oft die Nase rümpfen. Verbindungslinien muss man natürlich mit sehr viel Vorsicht ziehen, weil die Moral und die Sicht auf musizierende Frauen anders waren. Aber trotzdem hat sich so viel nicht verändert.
Schon, wenn da die Frage auftaucht: ›warum?‹, dann wäre ganz viel gewonnen. Nicht, dass ich sie beantworten könnte. Aber wir sollten sie stellen: Warum kommen wir nicht zu einer Gleichstellung? Und wenn MUGI etwas dazu beitragen kann, dass wir das fragen, hat es schon ganz viel bewirkt. ¶