Jean Rondeau im Interview.
Jean Rondeau eilt mit seinen 26 Jahren der Ruf eines Exzentrikers voraus. Ob das nun an seinem irren Blick, seinen langen Haaren oder seinem ebenfalls langen Bart liegt, ist nicht ganz klar. »Sturmfrisur und Vollbart sind sein Markenzeichen« heißt es im Ankündigungstext der Elbphilharmonie im Rahmen des Telemann-Festivals (250 Jahre tot), bei dem er vergangene Woche als Headliner gastierte. Auch die Cembalo-Welt reibt sich an ihm, sucht nach Einordnung zwischen Orthodoxie und Revolution.Nach wenigen Worten und der ersten Probe im resonanzraum St. Pauli, wo er mit dem Ensemble Resonanz spielt, füllt ein anderes Bild den Raum: das eines Künstlers, dessen Radikalität ganz woanders liegt: in der Musik, ihren Regeln, ihren Formen.
VAN: Was sagst Du zur neuen Super-Suite von Telemann? (im Rahmen von urban string spheres hat das Ensemble Resonanz eine neue Suite von Telemann entwickelt, versetzt mit Werken von Kurtág und Maraire)
Jean Rondeau: Ich persönlich bin ein ziemlicher Fan von dieser Art, Programme zu denken und zu öffnen – vor allem, wenn die Instrumente es erlauben. Man sollte mit diesen Mischungen nicht komplett frei drehen, aber wenn es möglich ist und es gut gemacht ist, kann man natürlich auch Repertoire darüber entdecken, ob in der zeitgenössischen oder der alten Musik. Das verhindert, dass jeder in seiner Blase bleibt.
Was wäre denn ein schlecht gemachtes Freidrehen?
Jede Musik ist an eine Sprache gebunden, ein Geflecht aus Kontexten. Die Beziehung zur Geschichte, zur Geographie, zur Instrumentierung. Und diese Sprache gilt es zu respektieren. Mit Respekt meine ich dabei ein breites Feld der Rückschau: Die Sprache beschreitet einen ganz eigenen Weg, zwischen Werk und Publikum, der Rolle des Komponisten, des Interpreten. Komplett frei drehen heißt für mich, respektlos im Umgang mit dieser Sprache zu sein. Kurz: Seine Arbeit nicht zu machen. Für mich hat das aber auch mit Liebe zu tun: Ich glaube nicht, dass wir ein Werk berühren können, ohne die Geschichte zu lieben, die in ihm wohnt.

Wie spürst Du diese Geschichte auf, hast Du eine bestimmte Methode, um Dich einem Werk zu nähern?
Das ist bei jedem Werk anders, da gibt es so viele Wege wie Werke. Kein magisches Rezept. Das Werk bestimmt die Methode, die Art und Weise, wie ich mich ihm nähern darf. Wenn ich ein neues Werk kennen lerne, höre ich als erstes zu, was es mir sagen will. Von welchem Winkel ich auf es blicken, auf welchem Weg ich mich ihm nähere. Aber auch, welche Gefahren, welche Zweifel mich erwarten. Eigentlich spreche ich darüber nicht, das ist sehr intim.
Du darfst gerne eine Ausnahme machen.
Es ist ein bisschen wie die versteckte Seite des Eisbergs. Was ich sagen kann, ist, dass die Arbeit der Teil der Musik ist, der mir der Wichtigste ist. Wenn ich arbeite, suche ich, zweifle, viele Fragen entstehen, und ich lasse all diese Fragen aus der Musik kommen. Es ist die Essenz von allem. Man muss vorsichtig sein, wenn man darüber spricht.
Wie viel Zeit verbringst Du damit, Partituren zu lesen?
Auch das hängt stark vom Werk ab. Bei den Goldberg-Variationen zum Beispiel, die ich gerade viel spiele, ist das der vielleicht wichtigste Teil. Ich liebe diese mentale Arbeit, ohne zu spielen. In der Stille …
Kommt Dir persönlich ein eher leises, intimes Instrument da entgegen?
Ich habe nichts gegen die Konsequenz, die sich aus dem Klang des Cembalos ergibt, in kleinen, intimen Sälen zu spielen. Das frustriert mich in keinster Weise, im Gegenteil.
Auch, weil es einen direkteren Kontakt zum Publikum ermöglicht?
So wie dem Werk muss man dem Publikum ›zuhören‹. Wie ein Tier auf der Lauer, hyperkonzentriert auf den Austausch. Jedes Publikum ist anders. Was in einem Konzert entsteht, ist aber immer bedingt von Millionen Faktoren. Es ist unmöglich, da einzelne Gründe zu definieren. Das liegt mir generell fern: Resümees zu ziehen auf der Basis einer singulären Erfahrung.
Du sprichst auch öfter von den Klischees, die dein Instrument betreffen… Bist du genervt davon?
Mich würde es im Grunde nur nerven, sie selbst zu generieren. Aber die Leute denken, was sie wollen. Ein paar Klischees mit Blick auf das Cembalo aber stammen aus einer Unkenntnis, was seine Geschichte betrifft. Das Cembalo hat ja keine lineare Geschichte durchlaufen, wie fast alle anderen klassischen Instrumente. Es war politisches Symbol im Ancien Régime, wurde während der Revolution aus Fenstern geworfen. Im 19. Jahrhundert war es im Zuge des steten Wachstums der klassischen Konzertsäle fast verschwunden – erst im 20. Jahrhundert ist es in neuer Form zurückgekehrt.
Du spielst heute auf historischen wie modernen Instrumenten. Bist irgendwie Teil einer neuen Cembalo-Welle. Sind Aufnahmen eigentlich ein Mittel für Dich, trotz kleinerer Säle und intimer Aufführungssituationen ein breites Publikum zu erreichen?
Vielleicht ja, aber auf etwas andere Art und Weise. Für mich ist die Aufnahme in erster Linie ein eigener künstlerischer Ausdruck. In der aktuellen ›klassischen‹ Musikwelt wird die Aufnahme aber vor allem als Mittel zum Zweck gesehen. Viele Produzenten sagen Dir: ›Um Konzerte zu spielen, musst du aufnehmen.‹ Für mich ist die Arbeit im Studio Handwerk. Arbeit mit Material. Wie ein Handwerker in seinem Atelier.
Du hast bislang drei CDs eingespielt, Bach Imagine war Dein Debüt, gefolgt von Vertigo und Bach Dynastie. So richtig frei drehst Du da eigentlich nicht, alle drei sind feinfühlig in der Dramaturgie – und auch im Klang. Hast Du Deine Aufnahmen-Sprache schon gefunden?
Ich habe da momentan mehr Fragen als Antworten. Das ist es auch, was mich antreibt. Was ist das eigentlich, eine Aufnahme? Das berührt die Frage der Positionierung, Fragen nach dem ›Wie‹, mal unabhängig von den Dingen, die durch den musikalischen Stil vorgegeben werden. Es ist ja auch noch eine sehr junge Sache mit dem Aufnehmen.
Ein Jahrhundert ist jung?
Ja, historisch gesehen ist es eine junge Geschichte. Da stecken wir alle eigentlich noch mitten im Reflexionsprozess. Ich bin da auch ziemlich verloren. Wir alle, denke ich. Jeder Aufnahmeprozess beginnt mit einer kleinen Idee, die aus einer Lust kommt, aufzunehmen. Erst einmal unabhängig von den Werken. Das ist ein fast instinktives Verlangen nach dieser Art von Arbeit und Ausdruck.

Was war die ›kleine Idee‹ deines ersten Albums? Das Imaginäre?
Ja, hier geht es um die Einbildung – anhand des Werkes von Johann Sebastian Bach. Ich war in einer Phase meiner Arbeit, in der das eine größere Rolle gespielt hat. Ich habe mich sehr stark anderer Materialien als meinem Instrument bedient. Wenn ich zum Beispiel eine Basslinie spiele bei Bach, denke ich die als Cellostimme. In diesen Vorstellungsräumen habe ich mich gerne bewegt in dieser Zeit. Und dabei auch allgemeine Fragen der Aufnahme verhandelt. Für wen spiele ich? Was stelle ich mir vor, wenn ich aufnehme?
Und dein zweites Album Vertigo, ist das eine Referenz an Hitchcock?
Vielleicht mit einem Augenzwinkern. Hier ist das Thema klarer und auch die Wahl der Werke dadurch stark eingegrenzt: Ich habe Opernwerke für Cembalo von Rameau und Royer ausgewählt und versucht, eine Geschichte zu erzählen. Ich glaube immer daran, vielleicht ein bisschen naiv, dass jemand das ganze Album anhören wird. Ich habe da einen ziemlichen Hang zur Form. Wie in der Oper ist das Album in drei Akten gedacht.
Dieser Hang zur Form… Wie hängt der für dich mit Freiheit zusammen?
Oh, sehr eng! Ich glaube, ohne Form können wir keine Fragen aufwerfen, die mit Freiheit zusammenhängen. Wenn man beides zueinander in Verhältnis setzen will, dann gehören sie zusammen: Ohne Form gibt es keine Freiheit, ohne Freiheit keine Form. Wenn die Freiheit ein Spielplatz wäre, dann muss es ein abgegrenzter Raum sein. Sobald alles zum Spielplatz wird, es keine Grenze mehr gibt, geht die Vorstellungskraft verloren. Oder dieses Rechteck hier (zeigt auf den Boden). Es wäre viel Spannender, dass nicht zu verlassen, als überall hintreten zu dürfen.
Hast du ein Beispiel aus der Musik, wo dir dieses Verhältnis von Zwang und Freiheit besonders klar wird?
Scarlatti zum Beispiel hat mehr als 250 Sonaten geschrieben, die alle die gleiche Makro-Form haben – ABB. Es gibt ein paar Ausnahmen, manchmal eine Fuge oder so. Trotzdem wählte er diese gleiche Form für all diese Sonaten, und doch gibt es darin eine Freiheit zur musikalischen Gestaltung, die immens ist. Ich glaube, dass wir sehr schnell auf eine Illusion von Freiheit stoßen. Wenn ich eine musikalische Phrase nehme und das Tempo ganz frei von dem gestalte, was die Musik verlangt – nur weil ich denke, frei zu sein oder Grenzen austesten will, dann ist das für mich keine wahre Freiheit.
Testet du das im Besonderen auch in der Improvisation aus? Du improvisierst Barock, seit du 10 bist, traust dich für Jazz sogar an Flügel heran…
Für mich ist die Improvisation neben der Komposition und der Interpretation eine weitere Form des musikalischen Ausdrucks. Ich muss komponieren und improvisieren, um spielen zu können. Eigentlich jeden Tag. Das heißt nicht, dass ich mit jeder dieser Formen nach außen treten muss. Die Improvisation wiederum wohnt der Musik insgesamt inne. Ohne Improvisation könnte ich gar nicht spielen.
Dein Kollege Mahan Esfahani hat dich in einem VAN-Interview mal als orthodox bezeichnet. Würdest du dem zustimmen?
Oh, wegen meiner Frisur?
Nein, genau andersrum. Er meinte: ›Eine verrückte Frisur macht dich noch lange nicht zum Ikonoklasten, wenn du ansonsten komplett orthodox spielst‹.
Was ich mich da vor allem frage, ist, ob man die Musik, wenn man seine Zeit damit verbringt, über das Musikleben oder andere Musiker zu sprechen, wirklich lieben kann. Die Musik selbst und auch die Reflektion über sie ist so unglaublich viel interessanter! Es ist ja auch eine Frage von Zeit und Energie. Aber die Leute können natürlich Konzerte geben, wie sie wollen und sagen, was sie wollen. Auch über mich. Ich wiederum genieße die Freiheit, dass es mich nicht interessiert. Ich bin auch überhaupt ein großer Fan davon, keine Worte für Musik zu benutzen. Wir sollten nicht über Musik sprechen (lacht).
Nun.
Bislang haben wir ja mehr über Kontexte gesprochen, das, was die Musik umgibt.
Wie ist es mit Bildern, die in Proben oder so benutzt werden, das ist ja gängige Praxis. Sträubst du dich dagegen auch?
Wenn man einem Kind ein Stück von Schubert vorspielt, und das Kind sagt: ›Das ist wie ein Mann, der im Wald spaziert‹, dann ist das für mich vor allem der Beweis dafür, dass es nicht möglich ist, Musik in Sprache zu fassen. Wir brauchen dann diese Bilder, die außerhalb der Musik liegen, um uns dem Unsagbaren zu nähern. Ich persönlich aber habe das eigentlich nicht. Ich habe die Abwesenheit von Vokabeln akzeptiert. Das ist ja das Tolle an der Musik! Die Stille, was Worte angeht. Wir leben in einer Welt, in der jeder über alles redet. Ich mag Leute, die nicht reden.
Bist du da ein bisschen paradox? Du feierst einzelne Worte, achtest sehr auf exakte Formulierungen…
Deleuze hat mal was in der Art gesagt, und das finde ich ziemlich gut: Wenn wir etwas wissen, sprechen wir nicht. Wenn wir etwas nicht wissen, schweigen wir auch. Der Moment, in dem wir sprechen, ist immer der, in dem wir an der Schwelle von Wissen und Nichtwissen stehen. Wenn wir sprechen, zweifeln wir. Das finde ich wieder schön. Sonst wär’s auch langweilig, noch langweiliger, als ohnehin schon. Und das lässt sich, finde ich, auch auf Musik übertragen: Ich müsste nicht spielen, wenn ich die Musik wahrhaft kennen würde. Ich würde auch nicht spielen, wenn ich gar nichts davon wüsste. Aber ich spiele, weil ich an der Schwelle stehe, zwischen Wissen und Nichtwissen. ¶
Birke J. Bertelsmeiers Werke weisen eine besondere Liebe zum Doppel- und Hintersinn auf und tun neue Horizonte auf. Der Cembalist Jeans Rondeau wechselt mehrfach zwischen den Zeiten, Kulturen und Genres, von Alter Musik bis Jazz. Beide kommen sie im Dezember und Januar mit einigen Konzertprogrammen im Gepäck nach Ludwigshafen. Und sie haben noch eine Gemeinsamkeit: Beide sind eigentlich keine Fans großer Reden. Mit VAN haben sie trotzdem gesprochen. Wir lassen sie in einer Sonderveröffentlichung zu Wort kommen.