Es ist unmöglich geworden, in ein Konzert zu gehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu kriegen. Sobald ich eine Geige sehe, denke ich an meine. Verstehen Sie mich nicht falsch, sie ist ein herrliches Instrument, der ich den wenig einfallsreichen Spitznamen Vio gegeben habe. Sie liegt in einem gepolsterten Kasten, sie hat es angenehm, sie kann sich nicht beschweren. Vio, das klingt ein wenig kapriziös, divenhaft, und so sind sie ja auch, die Geigen. Fasst man sie nicht richtig an, klingen sie schräg. Dauernd muss man sie stimmen und pflegen und vor allem: spielen.

Eigentlich ist die Geige das Instrument, aber bei Vio und mir ist es umgekehrt. Ich bin ihr Instrument und ich bin völlig unzureichend. Unser Herrschaftsverhältnis steht kopf. Ich wollte Stunden der Muße mit Vio verbringen, stattdessen soll ich jetzt jeden Tag den korrekten Bogenstrich üben.

Es ist, als hätte die Geige ein Bewusstsein, das man ganz in seiner Nähe spürt, wie wenn jemand im Dunklen leise atmet. Ich höre Vio vorwurfsvoll ganz leise atmen und raunen: Übe! Übe!

Die Geschichte des Geigenlernens ist nämlich die Geschichte des Übens. Das war mir nicht klar, sonst hätte ich – mit 33 – vielleicht gar nicht mehr angefangen. Ich dachte, man hat Talent oder man hat es eben nicht. Man geht einmal pro Woche zum Unterricht, wie jeder gute Viertklässler auch, und dann geht das schon. Wie sehr kann man sich irren!

Neulich traf ich einen Bekannten, er spielt seit zwanzig Jahren Geige. Jeden Tag übt er zwei Stunden. Wenn jemand jeden Tag zwei Stunden Sport machte, würde man ihn schief ansehen und denken, der hat eine Sportsucht, der kompensiert irgendwas. Wenn jemand zwei Stunden am Tag Geige übt, obwohl er nicht in einem Orchester, auch nicht in einem Laienorchester spielt, hält man das für normal.

Die Frage ist ja auch, was man dann übt, wenn man übt. Der Neunjährige, der vor mir seine Geigenstunde hat, übt komplexe Melodien, er beherrscht die erste Lage der linken Hand. Ich übe den korrekten Bogengriff und das korrekte Streichen, indem ich den Bogen durch eine Küchenpapier-Rolle ziehe.

Mein Ziel war mal das Freuden-Thema, möglicherweise auch das erste Thema aus Mendelssohns Violinkonzert. Kann man als Erwachsener ein Instrument neu lernen? Ich möchte die Frage offenlassen. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn meine Geigenlehrerin, nennen wir sie Frau Fürst, wenn Frau Fürst also von mir verlangt, auch mal die linke Hand zu benutzen. Denn das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es gibt doch auch schöne Stücke für vier Töne!

Angefangen hat alles im Musikinstrumentenmuseum in Berlin vor zwei Jahren. Es ging mir an dem Tag nicht so gut, ich wollte mich ablenken und sah mir motiviert eine Reihe eleganter Cembalos an. In einem kleinen Do-it-yourself-Bereich lag eine Geige. Ich nahm sie auf und klemmte sie irgendwie zwischen Schlüsselbein und Kinn. Einen Bogen gab es auch. Wie ich heute weiß, habe ich den Bogen damals nicht ordnungsgemäß angefasst. Handhaltung hin oder her, es gelang mir irgendwie, vier Töne auf den leeren Saiten zu produzieren. Die Töne klangen trotz allem so schön, dass meine Augen ein bisschen feucht wurden und ich dachte: Das will ich lernen.

Man wartet dann zwei Jahre, weil sich in solchen Fällen ein Abgrund auftut zwischen Traum und Realität. Was, wenn ich es nicht so gut können werde? In dem Abgrund sitze ich jetzt. Ich schaue dort unten viel Youtube. Welche Taktarten gibt es, wie zähle ich richtig? Wie stimme ich meine Geige? Welches chinesische Wunderkind spielt Paganini mit fünf? Hin und wieder stöbere ich in Partituren: Wie viele Töne müsste ich denn können für das Freuden-Thema? Und für Stille Nacht? Weihnachten soll wenigstens die Familie beglückt werden.

Wenn Freunde mich besuchen, sagen sie: Spiel doch mal was. Ich kann Häschen in der Grube und Alle meine Entchen. An Hänsel und Gretel übe ich. Ich finde es echt schwer, zwischen Auf- und Abstrich auch noch die Saite zu wechseln. Frau Fürst sagt, ich müsse das sogar blind können! Sie bezeichnet sich als Bewegungsanalytikerin. Ich hatte am Anfang Angst, dass ich in den Waldorfschen Zweig des Violinspiels geraten war, mäßigte mich aber. Ich wollte ja lernen. In der ersten Stunde hieß sie mich einen Plastikbecher mit der rechten Hand festhalten – und fallenlassen. Den Druck der Finger kurz vorm Fallenlassen, das sei so zirka der Druck, mit dem ich den Bogen festhalten müsse, sagte Frau Fürst. Sie setzte jeden meiner Finger auf die richtige Position. Ich durfte die leeren Saiten streichen, als Zugabe gab es spiccato. Es klang passabel, ich fühlte mich toll. Frau Fürst sagte: Sie sind ein Naturtalent.

In diesem Überschwang also mietete ich Vio von einem Geigenbauer in Berlin-Tempelhof. Beim Treffen meinte er, ich solle Vio doch mal testspielen, bevor ich sie mir ins Haus hole. Ich habe etwas von einer Sehnenscheidenentzündung erzählt, um mich vor dem Profi nicht vollends blamieren zu müssen.

Kinder sind beim Geige lernen deutlich im Vorteil; Kinder haben paradoxerweise einen längeren Geduldsfaden. Ich habe mit sechs Jahren das Tennisspielen gelernt, und mich nie darüber beschwert, den komplizierten Bewegungsablauf einer satten und schönen Vorhand tausende Male üben zu müssen, bis er zuverlässig klappte. Es war eben so.

Diese Politik der kleinen Schritte muss man sich als Erwachsener jetzt erst wieder angewöhnen. Zum Glück gibt es einen Katalysator: den Unterricht selbst. Im Prinzip komme ich jede Woche leicht niedergeschlagen dort an, weil ich fürchte, zu versagen. Aber dann proben wir diese herrlichen Kinderübungen, den »Flieger« und den »Regenbogen« – und schon sehe ich mich im Schulorchester zwischen lauter Achtjährigen sitzen und Bruder Jakob geigen. Neulich folgte im weiteren Stundenverlauf ein besonderer Höhepunkt. Wir haben Flageolett geübt. Für mich klang das überirdisch schön, der Finger schwebte nur über der Saite, es fühlte sich professionell an und in Gedanken flog ich zum Lohengrin-Vorspiel, das auch im Anschluss sofort gehört werden musste.

Das Leben mit Instrument als erwachsener Anfänger ist sehr zwiespältig. Man freut sich, dass überhaupt was klappt, andererseits hat man schon so viel Musik gehört, dass man weiß, was möglich ist. Und wie weit man davon weg ist. Man sitzt auch in der Ausdrucksfalle. Ich unterstelle, dass jeder, der im Erwachsenenalter ein Instrument lernt, seine Gefühle ausdrücken, spüren, verstärken, verarbeiten will. Aber wie soll das gehen, wenn man mit dem kleinen Finger nicht mal auf die G-Saite kommt? Das ist vielleicht das Schwierigste als Anfänger – etwas mitteilen zu wollen, und es geht nicht. Dazu fehlen einfach die technischen Mittel.

Diesen Graben, ich sehe es ein, kann man wiederum nur überbrücken mit: üben. Ich wäre gern klein und hätte Eltern, die mir jeden Tag um 18 Uhr sagen: Eine Stunde Geige üben! Ist aber nicht so. Einstweilen muss die bange Sorge vor Frau Fürst reichen, wenn ich den Wechsel zwischen Auf- und Abstrich nicht in korrekter Reihenfolge bei Hänschen Klein durchführe.

»Das ist vielleicht das Schwierigste als Anfänger – etwas mitteilen zu wollen, und es geht nicht.« Christina Rietz übers Geige Lernen als Erwachsene in @vanmusik.

Hilary Hahn hat bei Instagram (bei Instagram üben alle immerzu, Instagram produziert hundertprozentig ein schlechtes Gewissen) schon mehrfach »100 days of practice« ausgerufen. 100 Tage üben, ohne einen Tag Pause. Das kenne ich von einer Freundin, die für den Ironman trainiert, sie hält es genauso. Ich möchte mich Hilary Hahn anschließen. Vielleicht klappt es dann mit dem Freuden-Thema. Wann ich anfange? Na morgen.

... arbeitet als Redakteurin bei der Religionsbeilage der ZEIT, Christ & Welt. Ausgebildet wurde sie an der Henri-Nannen-Schule. Falls es mit dem Geigenspiel nicht klappt, möchte sie auf Oboe umsteigen.