Ein Interview über den Video-Livestream der Elbphilharmonie

Text · Fotos © · Datum 25.4.2018

Zu den ersten Tönen von Gershwins Rhapsody in Blue, gespielt von Anima Eterna Brugge in der Elbphilharmonie, legt sich Susana erstmal in die Badewanne. Anja schreibt eine weitere Postkarte, Petra strickt, Axel sitzt andächtig im Sessel, Matthias im Bus, Elke trinkt Wein, Astrid Wasser und Kat heult, weil es so schön ist. All das passiert gleichzeitig, in Deutschland, in Dänemark und vor allem auf Facebook, wo die Elbphilharmonie eine Liveschaltung aus dem Konzertsaal streamt. Bilanz am Ende des Konzerts: 559 Kommentare, insgesamt über 2.000 Likes, gut 250 Herzchen. »Sehr früh haben wir von der Stadt den Auftrag bekommen, dass die Elbphilharmonie für alle Hamburger zugänglich sein soll, und Streaming ist ein guter Weg, die Inhalte nach draußen zu tragen«, erklärt mir Philipp Stein, der persönliche Referent des Generalintendanten der Elbphilharmonie, der aktuell für die Livestreams des Hauses verantwortlich ist. Dabei kommt das Facebook-Publikum den Kommentaren nach nicht nur aus Hamburg, sondern auch aus Berlin, Vechta, Sassenberg, Athen, Ostfriesland, dem Schwarzwald, Flensburg, Paris, Duisburg, Weimar, der Bretagne, Bielefeld, dem Baselland, Bad Kreuznach, Paraguay, Köln, Karlsruhe, Dänemark, vom Starnberger See, aus Krefeld, Wiesbaden, Stuttgart, Ulm, Braunatal, Kassel, Freiburg, Ludwigslust, Wien, Sankt Petersburg, Minden, Mannheim, Graz, Schleswig, dem Sauerland, Braunlage, Polen und Mexiko. Nicht nur über Facebook, sondern auch auf Youtube und über die eigene Website streamt die Elbphilharmonie ausgewählte Konzerte aus sämtlichen Sparten (Klassik, Pop, Jazz, kleine Ensembles und große Orchester), alles mithilfe kleiner, unauffällig im Saal angebrachter Panasonic-Kameras – einem Modell, das eigentlich eher aus dem Überwachungsbereich kommt, aber lichtstark und sehr genau fernzusteuern ist. Wie genau das funktioniert, bespreche ich mit Philipp Stein am Telefon.

VAN: Was müssen Sie und das Video-Team an Vorarbeit leisten, bis es heißt: ›Wir sind live‹?

Philipp Stein: Im Gegensatz zu anderen Streaming-Projekten, wie zum Beispiel dem der Berliner Philharmoniker, streamen wir Produktionen, die bei uns zu Gast sind und nicht hier entstehen. Wir haben also nicht die komfortable Situation, drei Tage Orchesterproben nutzen zu können für Kamera-Setups und Probedurchläufe. Im günstigsten Fall kommt das Orchester um 15 Uhr ins Haus, sitzt um 17 Uhr auf der Bühne, macht eine kurze Probe, in der von allen Stücken kleine Teile gespielt werden, dann gibt es eine kleine Pause und dann sind wir um 20 Uhr live auf Sendung. Das Ganze ist für alle Beteiligten ein riesiger Stress.

YouTube video

Der Stream vom 13. Januar 2018: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Mariss Jansons mit Mahler Sieben und Strauss’ Also sprach Zarathustra

Die Kameraleute und der Regisseur sitzen während des Streamings nicht mehr im Saal, sondern in einem extra Raum einige Stockwerke weiter unten. Von dort wird alles ferngesteuert. Uns ist klar, dass man mit bemannten Kameras, mit Spidercam und Kran die wesentlich interessanteren Bilder hinbekommen könnte, aber für uns ist das Konzert und das Live-Erlebnis das Hauptprodukt. Der Stream wird nur on top dazu produziert, deswegen darf er das Konzert nicht stören.

Kameraleute und Regisseure bei der Planung der Kamerapositionen 
Kameraleute und Regisseure bei der Planung der Kamerapositionen 

In der Probe werden die Positionen der Kameras überprüft und eingespeichert. Bei einem Konzert von normaler Dauer haben wir bis zu 900 verschiedene Kamera-Einstellungen. Der Regisseur macht sich schon Wochen vorher Gedanken, welchen Ton er mit welchem Kamerabild unterlegen will. Er bereitet sich mit der Partitur vor und hat im Vorhinein genau festgelegt, das in Takt 8 die Kamera 3 das Orchester in der Halbtotalen zeigt und in Takt 12 genau beim Einsatz die Oboe in Großaufnahme.

Was sind das für Leute, die bei den Klassik-Übertragungen Regie führen?

Es gibt eine Handvoll Regisseure, die das für uns machen. Im Klassikbereich sind das sehr erfahrene Leute. Die sind in ganz Europa unterwegs, auf Festivals, und verstehen sich selbst wirklich als hauptberufliche Klassik-Konzert-Regisseure, obwohl sie auch noch andere Sachen machen: Einer dreht gerade seinen ersten Spielfilm, ein anderer überträgt außerdem viele Gottesdienste für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Regisseur und Bildmischer während des Streams 
Regisseur und Bildmischer während des Streams 

Stellt ihr auch ganz bestimmte Klassik-Kameraleute ein?

Es gibt normalerweise eine externe Firma, die die Produktion übernimmt. Die stellt dann Freelancer als Kameraleute ein. Es gibt aber nur eine begrenzte Anzahl von Kameraleuten, die eine Oboe von einer Posaune unterschieden können – und das ist ja wichtig. Wenn ein Kameramann die Ansage bekommt: Zeig mal die Zweite Oboe, dann muss der wissen, wie eine Oboe aussieht und auch schon so viele Konzerte gesehen haben, dass er auch weiß, wo die Zweite Oboe sitzt.

Die Kameraleute bei der Fernsteuerung der Kameras.
Die Kameraleute bei der Fernsteuerung der Kameras.

In den Konzerten, die Sie aus dem Pop- und Jazzbereich streamen, wird auf der Bühne viel mehr mit Licht und Lichtgestaltung gearbeitet: Es gibt buntes Licht, sich bewegende Scheinwerfer, Lichtelemente auf der Bühne … Beim Musikfest Berlin war ich letztens bei einem Konzert mit einem Stück von Rebecca Saunders, in dem auch mit auffälligerer Beleuchtung und sich bewegenden Scheinwerfern – mit einer Lichtgestaltung, die nicht so tun will, als sei sie nicht da – gearbeitet wurde. Ist eine stärkere Lichtgestaltung im Klassikbereich in großen Konzerthäusern noch immer ein Tabu?

Wir bilden vom Stream her ja einfach das Konzert ab, wie es ist. Wir sorgen dafür, dass genug Licht auf der Bühne ist, damit die Kameras überhaupt filmen können. Aber Lichtkonzepte liegen nicht in unserem Aufgabenbereich, da müssten Sie die Produktionsleitung hier am Haus fragen. Im Bereich der klassischen Musik allgemein ist das Thema Licht relativ uninteressant. Da geht es eben um die Musik.

Aus dem Stream des Einstürzende Neubauten-Konzerts 
Aus dem Stream des Einstürzende Neubauten-Konzerts 

Diesen ›Normalfall‹ – die Musik im Zentrum und unscheinbares, cleanes Licht –, der ja auch viele Vorteile hat, könnte man den nicht trotzdem auch diskutieren?

In der kurzen Zeit, in der wir den Stream abwickeln, können wir uns über so etwas nicht auch noch Gedanken machen. Wir bilden das ab, was im Haus eben stattfindet. Viele lichtsetzende Kameraleute finden das manchmal ganz frevelhaft, aber wir arbeiten letztendlich dokumentarisch. Wir machen hier keine Fernsehproduktion, das muss am Anfang einmal verstanden werden.

Bei der Eröffnungsübertragung war aber ja mehr Equipment und zusätzliches Licht im Einsatz.

Das war eine Fernsehproduktion, da hatten wir eine Spidercam, einen Kran und haben absurd viel Lichtaufwand betrieben. Das war aber ein Sonderfall.

Welche Konzertprogramme waren bisher die größte Herausforderung bei der Übertragung?

Je zeitgenössischer die Musik ist und je unklarer die Vorgaben sind, desto schwieriger wird es. Beim Eötvös-Konzert zum Beispiel hat sich das Concertgebouw Orchestra in der Anspielprobe nochmal anders hingesetzt, als das mit dem Regisseur vorher kommuniziert war, das war natürlich für die schon programmierten Kamerapositionen nicht ideal. Dann ist es ein Werk, das noch nie jemand vorher gehört hat und von dem es auch keine Aufzeichnung gibt. Das ist für den Regisseur dann nochmal komplexer. Der Regisseur hat das geschafft – der ist das gewöhnt, der arbeitet auch viel in Donaueschingen – aber da war ein Komplexitätsgrad erreicht, bei dem dann nicht noch mehr Überraschungen hätten passieren dürfen, sonst hätte es tatsächlich schiefgehen können.

https://www.youtube.com/watch?v=K5P-AJM0VUg

Wir fangen mit der Vorbereitung des Streams so zwei, drei Monate vorher an. Viel zu kurzfristig eigentlich. Da kommt dann im Rahmen der ersten Absprachen mit dem Orchester die spannende Frage: Könnt ihr uns aus eurer Probenphase am Heimatort ein Foto schicken? Wenn man dann sieht: Das sieht ganz anders aus als im Aufbauplan, das ist dann schon eine riesige Herausforderungen. Und: Die Elbphilharmonie ist ja ein besonderer Saal, da sagt der Dirigent manchmal kurz vor dem Konzert: Wir setzen uns nochmal um. Da können wir vom Livestream dann kein Veto einlegen – aber optimal ist das natürlich nicht.

Ist schon mal was richtig schief gegangen?

Ja, sicherlich. Eine Live-Konzertübertragung ohne Pannen gibt es nicht. Die kleine Panne ist, dass der falsche Musiker im Bild ist – das merkt niemand. Die mittelgroße Panne ist, wenn eine Kamera live geschaltet wird, die gerade umbaut, die von einem Musiker zum anderen schwenkt, aber nicht geplant, sondern um nach dem Schwenk das nächste Bild anbieten zu können. Dann gibt es noch Dinge wie: Der falsche Untertitel wird eingespielt, der Stream bricht ab … Wir hatten eine Produktion mit einem Schockmoment: Da ist 5 Minuten nach Konzertbeginn in Hamburg ein zentraler Internet-Hub kaputt gegangen, sodass Facebook-live nicht mehr von uns beliefert werden konnte. Da aber der Youtube-Kanal über einen anderen Hub angehängt war, konnten wir dann wenigstens auf Facebook posten: Ihr könnt auf Youtube weiterschauen. Es gab schon viele Stressmomente.

Sie meinten eben, dass den Musikerinnen und Musikern trotzt Stream freie Hand gelassen wird, sich zum Beispiel nochmal anders hinzusetzen. Wie sehen die das Streaming denn generell? Baut das zum Beispiel noch zusätzlichen Perfektionsdruck auf?

Die Musikerinnen und Musiker sind aufgrund des Hauses sowieso schon einem recht großen Druck ausgesetzt. Und die Wiener Philharmoniker zum Beispiel haben jedes Jahr das Neujahrskonzert mit Millionen von Zuschauern, da werden die vom Stream nicht sonderlich beeindruckt sein. Man ist das in der Branche gewöhnt.

Was auffällt, ist, dass es extrem schwierig ist, diesen ganzen Bereich Video on demand nachhaltig zu gestalten. Kein Musiker wird zustimmen, dass das Video nach dem Live-Stream auf unbestimmte Zeit im Netz zugänglich ist – es weiß ja vor dem Konzert niemand, wie gut es wird. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass das Orchester nachher angerufen und gesagt hat: Wir wollen euren Stream gerne auf DVD veröffentlichen.

Ein Screenshot aus der Übertragung eines Konzerts der Wiener Philharmoniker (der Stream ist mittlerweile nicht mehr online)
Ein Screenshot aus der Übertragung eines Konzerts der Wiener Philharmoniker (der Stream ist mittlerweile nicht mehr online)

Muss man mit jeder Musikerin und jedem Musiker einzeln die Bild- und Tonrechte klären?

Das ist ein riesiges Thema. Im Normalfall klärt man die Rechte mit dem Klangkörper und dann mit allen beteiligten Solo-Musikern. Es gibt auch Orchester, die die Bildrechte ihrer Mitglieder nicht innehaben – von solchen Klangkörpern lassen wir dann die Finger, das können wir nicht leisten, mit 100 Musikern Einzelverträge abzuschließen.

Manche Orchester verlangen zusätzliches Geld für das Streaming, andere sagen: kein Thema. Da zeigt sich ein bisschen, wie weit die schon gedanklich sind. Manche Musiker, vor allem auch aus dem Jazz-Bereich, wissen, dass Video on demand eine riesige Plattform ist und ein Stream aus der Elbphilharmonie auch eine gute Eigenwerbung, dann wird über Geld nicht gesprochen. Manchen ist der Stream für sie selbst nicht wichtig, die versuchen dann eher, da nochmal Geld rauszuholen – was ja auch legitim ist. Aber daran sieht man, welche unterschiedlichen Denkweisen es gibt. Die einen sagen: Macht das unbedingt, kann ich hinterher das Material bekommen? Und die anderen sagen: Ja, aber nur, wenn es nur drei Wochen online ist und wir noch richtig Geld kriegen.

Können Sie sich vorstellen, dass das Konzertstreaming die Zukunft der klassischen Musik ist und wir in ein paar Jahrzehnten weniger Konzertsäle und mehr spezialisierte hightech-Klassik-Filmstudios haben, wo der Stream dann wichtiger ist als das Live-Erlebnis?

Das glaube ich nicht. Das tolle am Live-Erlebnis ist: Ich kann selbst entscheiden, wohin ich schaue. Gerade in einem Saal wie der Elbphilharmonie, wo es wirklich auch etwas zu sehen gibt, lohnt es sich, dafür ins Konzert zu gehen. Dass ein Regisseur für mich entscheidet, was ich sehen kann, ist immer unbefriedigend, weil ich nie das große Ganze mitbekomme. Auch ein 360°-Video ist nicht mit dem Live-Erlebnis zu vergleichen – das Publikum kommt einfach gern in die Häuser, hat dieses Gemeinschaftserlebnis. Der Stream ist eine gute Einstiegsmöglichkeit und schafft Leuten Zugang, die nicht ins Konzert kommen können. Ich glaube nicht, dass sich das wesentlich ändern wird. Sonst wäre Streaming ja auch im Pop-Bereich viel stärker.

Außerdem in dieser Sonderausgabe: Thomas von Steinaecker spürt dem Utopischen bei Karlheinz Stockhausen, dem das Musikfest einen Schwerpunkt widmet, nach.
Außerdem in dieser Sonderausgabe: Thomas von Steinaecker spürt dem Utopischen bei Karlheinz Stockhausen, dem das Musikfest einen Schwerpunkt widmet, nach.

Was kommt an Rückmeldungen von den Stream-Zuschauerinnen und -Zuschauern?

Facebook-live ist relativ kommentarintensiv. Bei Youtube schalten wir im Normalfall die Kommentarfunktion ab, weil wir die Redaktion und Moderation der Kommentare da nicht leisten können. Das Feedback ist generell sehr positiv, das ist eigentlich immer eine Freude.

Wie kann man sich diese Kommentare vorstellen – eher allgemein, ›toll, dass es diesen Stream gibt!‹ oder eher punktuell, ›oh Gott, was war das für ein wunderbarer Horneinsatz!‹?

Die Kommentare sind eher allgemein gehalten. Es gibt auch sehr schräge Geschichten: zum Beispiel Foren, in denen im Nachhinein die Arbeit des Regisseurs diskutiert wird. Da wundert man sich schon, wenn Leute zum Beispiel statistisch ermitteln, dass im aktuellen Stream alle 7 Sekunden geschnitten wurde, während derselbe Regisseur in seinem letzten Stream nur alle 8 Sekunden geschnitten hat.

Wünschen Sie sich manchmal Beiträge, die wirklich das Konzertgeschehen thematisieren – eine Art Live-Kommentation?

Es ist ohnehin schon so stressig – wenn wir dann auch noch live Feedback bekommen würde, was wir gerade in dem Moment gut oder schlecht machen oder Leute schreiben: ›Zeigt doch bitte mal mehr die Zweiten Geigen!‹ – auf so was können wir nicht auch noch eingehen. Deswegen sind wir froh, dass sich die Leute einfach freuen. ¶

Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe UTOPIE und wird präsentiert vom 3. Internationalen Musikfest Hamburg. Das Musikfest richtet den Blick in 62 Konzerten vom 27. April bis 30. Mai nach vorne und gleichzeitig zurück: mit Musik, die in ihrer Zeit Stellung bezog, sich nicht abfinden wollte mit vorgegebenen Denk- und Hörmustern – und die gleichzeitig heute Zukunftssehnsüchte spürbar macht. Es geht also um die visionäre Kraft von Kunst und Kultur. Und immer auch die Frage: Wie sehen die Utopien von heute aus? VAN füttert diese Sonderausgabe mit vier neuen Texten über gesellschaftliche Utopien und visionäre Interpretinnen, Komponisten und Filmemacher, deren Kunst im Rahmen des Musikfests eine Rolle spielen wird.

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.