Romeo Franz sitzt im Auto, als ich ihn spät am Freitagabend erreiche. Der Terminkalender des EU-Abgeordneten ist voll, gerade jetzt: »Am 6. Oktober wird die neue Inklusionsstrategie der Europäischen Kommission für Menschen mit Romani-Hintergrund in Europa vorgestellt«, erklärt er mir – langsam, bedacht. Mit einer selbst durch den Handylautsprecher wahrnehmbaren Präsenz. Ich bitte ihn erstmal um eine Begriffsklärung: In Deutschland ist häufig von »Sinti und Roma« die Rede, Franz spricht von »Menschen mit Romani-Hintergrund«. »Die Europäische Kommission verwendet nur den Terminus ›Roma‹ – nicht den Doppelbegriff ›Sinti und Roma‹ wie in Deutschland«, erklärt Franz. »Ich spreche, wenn ich von Menschen mit Romani-Hintergrund rede, von der größten Minderheit in Europa, von Menschen, die sich dieser Minderheit zugehörig fühlen oder die Romanes als Muttersprache – zum Teil neben einer anderen Muttersprache – sprechen. Das sind ganz verschiedene Gruppen: die Calé, die Manouches, die Lovara, die Bojasch, die Kalderasche, die Sinti und vielen weitere.«Romeo Franz war, bevor er 2018 für Bündnis 90/Die Grünen als erster Sinto überhaupt ins EU-Parlament einzog, Berufsmusiker, aber schon lange politisch aktiv, unter anderem als Vorstandsmitglied des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma und als Gründungsmitglied und langjähriger Leiter der Hildegard-Lagrenne-Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland. Das von ihm komponierte Stück Mare Manuschenge ist Teil des 2012 in Berlin eingeweihten Mahnmals der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Es dauerte nach Kriegsende fast 40 Jahre, bis der NS-Völkermordwurde an Menschen mit Romani-Hintergrund von der Bundesregierung als solcher anerkannt wurde, erst im Januar 2020 gedachte das EU-Parlament zum ersten Mal mit einer offiziellen Zeremonie diesen Opfern des Holocaust. Eine 2019 veröffentlichte Studie der Friedrich Ebert Stiftung zeigt, dass eine »Abwertung von Sinti und Roma« noch heute bei einem Viertel deutschen Bevölkerung zu beobachten ist. Und Microsoft Word kennt, zumindest in der Version von 2016, noch nicht einmal das Wort »Antiziganismus«.

Romeo Franz • Foto © Europäisches Parlament
Romeo Franz • Foto © Europäisches Parlament

VAN: Wie viele Menschen mit Romani-Hintergrund leben aktuell in der EU?

Romeo Franz: Es gibt circa 6,3 Millionen Menschen mit Romani-Hintergrund in der EU, in ganz Europa zwischen 12 und 15 Millionen, die aber total divers sind – in der Religion, der Kultur, der Sprache. Allein unser Romanes hat acht Sprachstämme und 200 Dialekte. Die Gruppen der Menschen mit Romani-Hintergrund leben zum Teil seit 800, 900 Jahren in ihren Ländern, ihren Regionen. Die deutschen Sinti leben seit 700 Jahren hier. Es gibt also eine regionale Bindung der Menschen und einen kulturellen Austausch, der in diesen hunderten von Jahren stetig stattgefunden hat. Diese Diversität anzuerkennen ist wichtig für die Inklusion, denn auch die Bedarfe der Gruppen sind völlig verschieden. Die Probleme kann man nicht mit einem Gießkannenprinzip lösen.

Bisher gab es auf EU-Ebene den Rahmen für nationale Roma-Integrationsstrategien.

Das Narrativ der Integration lehnen wir dabei ab, weil es Assimilierung bedeutet, Aufgabe meiner Kultur. Es bedeutet: Meine Kultur, meine Sprache ist nichts wert gegenüber der Dominanzgesellschaft. Deswegen reden wir von Inklusion, von gleichberechtigter Teilhabe. Das bedeutet, dass die Kultur der jeweiligen Romani-Gruppen und ihre Sprachen geschützt werden müssen. Das ist ein sehr selbstbewusster Weg, der alles auf den Kopf stellt, was an Romani-Politik in der Vergangenheit passiert ist.

Bisher ist die Implementierung von Strategien zur Inklusion von Menschen mit Romani-Hintergrund für die EU-Mitgliedstaaten freiwillig. Außerdem wurden die Betroffenen überhaupt nicht mit einbezogen in die Konzeption der Lösungen – der Großteil der Projekte, die es gab, waren völlig paternalistisch. Deswegen hatten diese Unternehmungen bisher wenig Erfolg. Wir brauchen jetzt eine Verbindlichkeit, eine Verpflichtung der Nationalstaaten, die Strategien umzusetzen. Der Antiziganismus wird von den Nationalstaaten nicht wirklich anerkannt und auch in der Mehrheitsgesellschaft nicht bekämpft. Man spricht immer noch von einem Roma-Problem statt von einem Rassismus-Problem. Das sind Dinge, die ich versuche anzugehen, das ist eine Menge Arbeit.

Foto © Romeo Franz
Foto © Romeo Franz

In einem Aufsatz von 2014 berichten Sie von Antiziganismus in der Klassikwelt. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Ich habe viele Freunde, Bekannte und Verwandte, die in philharmonischen Orchestern, an Opernhäusern und Theatern arbeiten. Dort ist die Akzeptanz gegenüber Mitarbeitenden mit Romani-Hintergrund sehr klein. Das zeigt sich immer wieder. Wenn man sich outet, hat man keine Chance mehr auf eine gleichberechtigte Teilhabe. Dann kommen Äußerungen wie ›Der Zigeuner handelt‹, oder: ›Ein Zigeuner kann nicht unser Konzertmeister sein.‹

Sind das wirkliche Szene, die Ihnen berichtet wurden? Sind die antiziganistischen Aussagen so krass, in dieser Wortwahl?

Ja, das wurde mir genau so berichtet. Wenn man einen Job will oder seinen Job behalten will, weil man zum Beispiel eine Familie ernähren will, gehen viele gegen sowas nicht vor, sondern verschweigen von Anfang an die ethnische Zugehörigkeit. Das passiert sehr sehr oft.

Im Kunstbereich vermutet man eigentlich eine große Offenheit, aber leider ist der Antiziganismus auch dort stark verbreitet. Es sei denn, ich mache ›traditionelle Musik‹, Sinti-Jazz oder dergleichen, da unterstellt man, dass mir solche Musik ›im Blut liegt‹. So ein positiver Rassismus beschränkt aber auch meine Freiheit. Ich als Sinto kann dann nur diese Musik machen, das wird mir auferlegt. Sobald ich etwas Anderes mache, bringe ich die Landkarte meines Gegenübers völlig durcheinander.

Und das ist nicht nur in den künstlerischen Jobs so, sondern überall. Schon in der Schule müssen Kinder mit Romani-Hintergrund doppelt so gut sein wie Kinder der Mehrheitsgesellschaft, um überhaupt eine Chance zu haben. Man wird immer in eine Rechtfertigungsposition hineingedrückt.

Kunst transportiert ja auch inhaltlich Klischees. Wie kann man eine Oper wie Carmen heute aufführen?

Die Frage ist: Wie geht man mit den Klischees um? Ich habe mal in der Frankfurter Oper mal an einer Podiumsdiskussion vor einer Carmen-Aufführung teilgenommen. Da habe ich gesagt: ›Wenn man sich für eine Sensibilisierung und Aufklärung dieser in Europa extrem weit verbreiteten Form des Rassismus, des Antiziganismus, bereit erklärt, dann wäre es von Vorteil, den Aufführungen eine Erklärung der antiziganistischen Bilder, die in der Oper vorherrschen, voranzustellen. Damit in der Aufführung dann alle sehen können, wie Antiziganismus in der Zeit, als diese Oper geschrieben wurde, gearbeitet hat – ohne dass man die Kunst selbst verändert.‹ So habe ich es damals in Frankfurt gemacht. Das Publikum ist dann sensibilisiert, wenn man sich diese Mühe macht.

Man kann ja auch den Film Jud Süß oder Ausschnitte daraus zeigen, um zu erklären, wie antisemitische Vorurteile funktionieren und wie Kunst benutzt wurde, um sie zu verbreiten. Aber man muss immer vorher aufklären, darauf hinweisen, was das bedeutet, was man da sieht.

Haben Sie Reaktionen bekommen auf die Podiumsdiskussion in Frankfurt?

Später nicht noch einmal. Aber die Reaktionen während der Diskussion waren eher dem ähnlich, was man hört, wenn es um den Begriff ›Zigeunerschnitzel‹ geht. Menschen fragen dann: ›Warum darf ich das nicht sagen? Wem tut das denn weh? Ich hab das schon immer gesagt!‹ Da fehlt eine Sensibilisierung dafür, dass die Bezeichnung Zigeuner eine Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft ist, die von rassistische Stereotypen belastet ist und in seiner Tradition diskriminierend ist.

Bei Opern mit antisemitischen Inhalt zum Beispiel ist die Sensibilität eine ganz andere. Da würde man von Vornherein ganz anders an die Vorurteile herangehen. Deswegen ist es in der Kunst wie auch in der Politik unglaublich wichtig, Aufklärung zu betreiben.

Foto © Romeo Franz
Foto © Romeo Franz

Wie genau kann das an Kulturinstitutionen wie Opernhäusern umgesetzt werden?

Es ist ja kein großes Kunststück, so eine Podiumsdiskussion vor der Aufführung zu veranstalten. Das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe – die aber total lange verpasst wurde. Im Nationalsozialismus wurden eine halbe Millionen Menschen mit Romani-Hintergrund ermordet. Und die Aufarbeitung ist bis jetzt immer noch nicht weit vorangeschritten. Dieser Völkermord wurde und wird tabuisiert, er wurde erst Anfang der 1980er Jahre als Völkermord anerkannt und das auch nicht freiwillig, sondern erst nach einem Hungerstreik von Überlebenden und Bürgerrechtler:innen in Dachau, auf den die Weltöffentlichkeit aufmerksam wurde. Ansonsten wäre dieser Völkermord heute wahrscheinlich immer noch nicht anerkannt.

Warum wird Antiziganismus so wenig thematisiert?

Seit über 700 Jahren gibt es Antiziganismus in Europa – und er wurde unreflektiert immer weitergegeben. Ich gebe mal ein aktuelles Beispiel: In der Nähe von Ulm haben fünf Jugendliche eine Gruppe von 45 Personen davon abhalten wollten, bei einem Bauern eine Wiese zu mieten, um dort Urlaub zu machen. Die Jugendlichen haben ein Schild aufgestellt, ›Zigeuner nicht erwünscht, unser Dorf bleibt deutsch‹, in dem Tenor. Als nächstes haben sie Böller auf diese Wiese geworfen, dann einen verwesten Schwan. Zu guter Letzt haben die Jugendlichen aus einem fahrenden Auto grölend eine Fackel auf einen Wohnwagen geworfen, in dem sich eine junge Frau mit einem neun Monate alten Baby aufhielt. Zum Glück wurde niemand verletzt. Die Leute haben aber Angst bekommen und sind gefahren. Die Dorfpolizei hat kein großes Aufheben um den Fall gemacht. Aber es gab dann eine Anzeige und einen Prozess mit fünfzehn Verhandlungstagen. Das Urteil lautete: Das war eine antiziganistische Straftat. Zum allerersten Mal wurde Antiziganismus in einem Urteil benannt. Innerhalb dieser Verhandlung hat man auch die Bürger:innen aus dem Ort befragt und die Angeklagten. Und dabei kam heraus, dass viele im Dorf Antiziganismus für normal halten – und nicht für eine Form von Rassismus. In großen Teilen unserer Gesellschaft ist Antiziganismus Normalität, wird überhaupt nicht geächtet. Und das ist genau der Punkt, um den es auch in der Kunst geht: Wir brauchen ein gesellschaftliches Umdenken hin zur Verurteilung von Antiziganismus als eine Form des Rassismus. Und gerade anhand solcher Opern wie Carmen, in denen solche Vorurteile vorkommen, kann man diese zeigen und dazu anregen, die eigenen Vorurteile zu reflektieren.

Der EU-Abgeordnete Romeo Franz über Antiziganismus in der klassischen Musik. In @vanmusik.

Viele berühmte klassische Komponisten verarbeiten in ihren Werken Musik von Menschen mit Romani-Hintergrund – oder musikalische Klischees: Haydn, Mozart, Beethoven, Bartók, Brahms, Dvorák … Haben klassische Musiker:innen und Veranstalter darum eine besondere Verpflichtung, auf Antiziganismus hinzuweisen?

Sowas findet sich nicht nur in der klassischen Musik. Flamenco zum Beispiel hat sich die spanische Mehrheitsgesellschaft immer auf ihre Fahnen geschrieben. Dabei wurde der Flamenco als Tanz und auch als Musik von den Calé entwickelt. Die Calé haben in der Zeit der Sklaverei und Gefangenschaft diese Musik gemacht. Die Schreie im Flamenco stellen diese Schmerzen und dieses Leid nach.

Was man auch im Kopf haben muss: Zu den Räumen, in denen diese klassischen Komponisten unterwegs waren, in denen sie Musik gemacht haben, hatten Menschen mit Romani-Hintergrund überhaupt keinen Zugang. Dass der Einfluss der Menschen mit Romani-Hintergrund auf die europäische Kunst enorm war, steht außer Frage. Nur: So, wie der Antiziganismus nicht als Rassismus geächtet wird, wurde und wird auch dieser Einfluss nicht anerkannt. Das wird sich einfach einverleibt, nicht nur in der Musik. Die Geschichten der Brüder Grimm zum Beispiel – wo haben sie die gesammelt? Da sind viele Erzählungen dabei, die wir, die unsere Leute schon viel länger kennen. Auch dieser Einfluss muss anerkannt werden.

Wir sind jetzt in einer Zeit des Umbruchs. Rassismus wächst wieder. Schwächere werden wieder stärker unterdrückt. Wir sehen das gerade in Osteuropa, wo Menschen mit Romani-Hintergrund als Corona-Sündenböcke dargestellt werden. Da müssen wir dagegenhalten. Und: Die Mehrheitsgesellschaft muss den Mut haben, sich zu reflektieren, den eigenen Antiziganismus wahrzunehmen. Ich denke, das kann funktionieren. Und dann wird das Erleben für alle Menschen ein ganz anderes sein, auch das Kunst- und Musikerleben. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com