Roland Kluttig wurde 1968 im sächsischen Radeberg als Sohn des Dirigenten Christian Kluttig geboren. Er studierte Klavier und Dirigieren bei Volker Rohde in Dresden, war Kapellmeister an der Oper Stuttgart, dirigierte Klangkörper wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin. Seit der Saison 2010/2011 ist Kluttig Generalmusikdirektor am Landestheater Coburg. Jetzt wechselt er als Chefdirigent des Grazer Philharmonischen Orchesters in die Steiermark.Eigentlich sollte für Kluttig in Coburg ein großes Abschiedskonzert gegeben werden. Es kam eine Pandemie dazwischen. Nach umfangreichen Maßnahmen konnten jetzt mehrere kleine »Farewell«-Konzerte im Landestheater der Stadt stattfinden. Mit Werken von Charles Ives (The Unanswered Question), Richard Wagner (Siegfried-Idyll – übrigens der Corona-Schlager überhaupt!), Gustav Mahler (zwei Rückert-Lieder) und György Ligeti (Concert Românesc). Aus diesem Anlass ist Arno Lücker nach Coburg gefahren – und hat Roland Kluttig einen Tag lang begleitet.
Ich war erst einmal in meinem Leben in dieser merkwürdigen, leicht hügeligen, etwas brütenden aber sehr schönen Stadt Coburg – mit seinen gut 40.000 Einwohner:innen. Man kommt sich immer etwas vor wie im Mittelalter. Die Veste Coburg, historische Bauten noch und nöcher. Selbst die Kanalisation beziehungsweise deren gusseiserne Bedeckung hat eine eigene Geschichte. Als mich Roland Kluttig gut gelaunt vom Bahnhof abholt – seit einiger Zeit braucht der ICE von Berlin (statt Umsteigeaktionen in Lichtenfels und, wenn ich mich recht erinnere, mehr als sechs Stunden Fahrt insgesamt) keine zweieinhalb Stunden – bleiben wir beim Gang durch die Altstadt bald stehen und blicken gen Boden. Kluttig erzählt von dem Streit um den »Coburger Mohren«, das Wappen der Stadt, das auf jedem einzelnen Gullideckel zu sehen ist…

Kurz streifen wir daraufhin die aktuellen Themen unserer Zeit, die (a)sozialen Medien, Trump… Doch schnell geht es nur noch um unbekannte Komponist:innen und wiederentdeckte Werke.

VAN: Das erste Mal haben wir uns vor ziemlich genau zehn Jahren in Berlin getroffen. Ich kannte dich vor allem als Dirigenten, der immer geholt wurde, wenn komplexe Uraufführungen auf dem Programm standen. 2010 wurdest Du dann Generalmusikdirektor in Coburg und hast mir damals ganz begeistert erzählt, wie Du Dich darauf freust, jetzt auch mal einen TRISTAN machen zu dürfen. Wie kam das zustande?
Kluttig: Ich war schon seit den Nullerjahren immer zweigleisig unterwegs. 2000 hatte ich an der Stuttgarter Oper angefangen, wo ich für Lachenmann und Nono eingesetzt wurde, aber gleichzeitig Hoffmanns Erzählungen, Don Carlos und Don Giovanni dirigiert habe. Ich war dabei schon die ganze Zeit auf der Suche nach einer Chefposition. Nicht wahllos. Aber mein Wunsch war es schon. In Coburg wurde damals Bodo Busse zum Intendanten ernannt – und hatte Interesse an mir. Ich kannte die Stadt überhaupt nicht, hatte aber nach dem ersten Treffen große Lust hier anzufangen. Dann folgte ein Vordirigat und eine Arbeit mit dem Orchester. Da war ich einerseits erschrocken über die katastrophalen Probenbedingungen. Ein winziger Saal! Ohne jede Art von Gehörschutz oder dergleichen. Die hockten in totaler Hitze eng aufeinander. Andererseits war ich sehr angetan davon, wie offen man auf meine Ideen und Fragen einging – und auch, wie musikalisch gut dieser Laden war! Ich hatte es bis dahin selten erlebt, dass ich aus so einer Situation rausgehe und denke: ›Mensch, hier würde ich gerne anfangen!‹ Auch die Stadt begeisterte mich. Ich stand auf dem Coburger Schlossplatz, der eine europäische Größe hat, die man gar nicht erwartet. Es war also kein: ›Wir gucken mal, was kommt…‹ Natürlich gibt es auch immer ganz viele Ängste, weil ich so eine Stelle vorher einfach noch nicht hatte: ›Oh Gott, bleibe ich jetzt in der Provinz hängen?‹
DU HATTEST VORHER IN BERLIN GELEBT. ALS DU DANN COBURG GESEHEN HAST, WAS HATTEST DU DA FÜR BILDER VON DIR IN EIN PAAR JAHREN VOR AUGEN?
Ein kompletter Umzug stand damals für uns noch nicht zur Debatte. Meine Frau hatte in Berlin eine feste Stelle. Sie hatte eine Schule gegründet. Wir sind in den ersten Jahren sozusagen doppelgleisig gefahren. Ich war bis dahin eh recht häufig unterwegs, habe letztendlich aber viel Zeit in Coburg verbracht. Zu deiner Frage… Ich hatte da alle möglichen Bilder vor Augen… Kleinstadt… Aber Coburg ist für seine Größe unglaublich lebendig. Am Landestheater herrscht ein total offener Geist. Ich habe hier nichts vermisst und die Zeit mehr und mehr genossen. Bei meinem Start habe ich auch nicht über die Dauer meiner Tätigkeit nachgedacht. Ich bin nicht so ein großer Lebensplaner.

WARUM WILL MAN EIGENTLICH CHEFDIRIGENT BEZIEHUNGSWEISE GENERALMUSIKDIREKTOR WERDEN? ALS KAPELLMEISTER:IN AN EINEM OPERNHAUS MUSS MAN JA DIE ›ZWEITSTÜCKE‹ DIRIGIEREN, MUSICAL, OPERETTE, URAUFFÜHRUNGEN, BAROCKOPER. UND DANN GIBT ES DIE ›CHEFSTÜCKE‹, WAGNER, STRAUSS… IST DAS DER GRUND?
[lacht] Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich fand den Begriff ›Generalmusikdirektor‹ immer schrecklich, weil er so eine militärische Komponente hat. Für mich hat sich hier ergeben, dass man den Begriff aber auch anders sehen kann, im Sinne eines ›Studium generale‹… Ein Generalmusikdirektor, der eben nicht nur Gastdirigent ist und immer nur für ein spezielles Repertoire gebucht wird. Sprich: Die Italiener:innen dirigieren Verdi und Puccini, die Deutschen Wagner und Strauss…
SELBST IN DER ITALIENISCHEN PROVINZ HOLEN SICH OPERNHÄUSER – TEILWEISE HIER TOTAL UNBEKANNTE – DEUTSCHE DIRIGENT:INNEN, WENN SALOME GEGEBEN WERDEN SOLL…
Stimmt. Ich selbst wollte mich nie festlegen lassen. Mein Interesse beginnt bei Rameau – und hört auch bei Lachenmann nicht auf. Tatsächlich hatte ich aber mit dem ›deutschen Repertoire‹ – Wagner und Strauss – bis dato überhaupt keine Erfahrungen. Ich hatte zwar in Stuttgart Don Carlos und Moses und Aron dirigiert, aber keinen einzigen Takt Strauss oder Wagner. Ich empfand auch beiden gegenüber eine gewisse Distanz. Eine Ausnahme war der Tristan, der reizte mich sehr. Ich hatte da bei einer Produktion in Stuttgart assistiert, mich natürlich total verknallt und gedacht: ›Das musst du mal ausprobieren!‹ Der Tristan wurde hier in Coburg mein erster Wagner. Später kam es dann zu einer Produktion vom Lohengrin – und Parsifal haben wir hier auch gemacht.
UND WIE HAT DAS COBURGER PUBLIKUM AUF WAGNER REAGIERT?
Es ist unglaublich, was Wagner hier in der Region für Kräfte freisetzt! Das habe ich tatsächlich nur bei diesem Komponisten so erlebt. Wagner war immer ausverkauft, als ob wir Blockbuster-Musicals spielen würden.
LIEGT DAS AUCH AN DER RÄUMLICHEN NÄHE ZU BAYREUTH?
Ich glaube nicht. Wagner ist schon ein deutsches Phänomen, auch, weil die Wagner-Verbände in Deutschland unglaublich gut vernetzt sind. Wenn einer von denen sagt: ›Hier läuft gerade eine tolle Lohengrin-Produktion!‹ – dann kommen die alle!

Für mich ist Salome die perfekte Oper. Da stimmt einfach alles. Gibt es für Dich ›das perfekte Stück‹?
Es gibt viel mehr perfekte Opern als man denkt! Es ist ja nicht immer nur das Sujet. Für mich muss auch der Text stimmen. Salome ist in der Tat so ein Wurf. Zwar viel sperriger und nicht unbedingt ein Publikumsknaller ist für mich Bergs Wozzeck – genauso wie Debussys Pelléas et Mélisande. Ich würde da eine ganze Menge finden… La Bohème! Von den Verdi-Opern auf jeden Fall Rigoletto. Eine eigentlich perfekte Oper. Und die Geschichte perfekter Stücke beginnt natürlich mit Don Giovanni. Ich habe auch eine große Neigung zu Eugen Onegin, gerade wegen der Text-Musik-Stimmigkeit. Es gibt auch Werke, die man überhaupt nicht kennt und bei denen man sich fragt: ›Warum wird das nicht ständig gemacht?‹ Ich hatte vor Jahren das Glück, in Graz einzuspringen bei Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas. Ein Stück des sogenannten Rand-Repertoires. Nach der Produktion damals muss ich sagen: Das zählt für mich zu der Kategorie der ›perfekten Stücke‹!
DU GEHST JETZT NACH GRAZ ALS CHEFDIRIGENT. WELCHE KONSTELLATION FINDEST DU DORT VOR?
Graz ist eine Theater-Holding, die aus drei Häusern besteht: einem Opernhaus, zu dem ein Philharmonisches Orchester und ein Ballett gehören – geleitet von der Intendantin Nora Schmid. Dann gibt es ein Schauspielhaus, auch ein wunderschönes Gebäude, an einem völlig anderen Ort in der Stadt. Und – baulich verbunden mit dem Opernhaus in Gestalt eines modernen Gebäudes – eines der größten Kinder- und Jugendtheater Europas. Das Grazer Opernhaus ist von der Bühne und der Saalkapazität her das zweitgrößte in Österreich, es fasst 1.200 Plätze. Das sind schon sehr andere Dimensionen, auch, was die Zahl der Einwohner:innen von Graz im Verhältnis angeht. Das ist gar nicht so einfach zu füllen. Es ist ein richtig großes Haus – mit großer Geschichte. Bruckners Fünfte wurde da zum Beispiel uraufgeführt, Harnoncourt war Grazer – und hat viele Spuren hinterlassen.

Verschiebt sich Dein Antritt in Graz jetzt wegen der Pandemie?
Es war dort unter anderem ein sehr aufwändiges Saisoneröffnungskonzert geplant. Das muss leider ausfallen. Ich leite jetzt eine Produktion, die eigentlich im März hätte Premiere feiern sollen, Mieczysław Weinbergs Die Passagierin unter der Regie von Nadja Loschky. Das war alles schon sehr weit geprobt. Am Anfang war ich skeptisch, was den Stoff von Die Passagierin betrifft, weil darin eigentlich ein nicht darstellbares Thema verhandelt wird und ich auch dachte, so etwas könnte nur Schönberg… Aber ich habe mich drauf eingelassen – und bin sehr gespannt. Zu Recht ist Weinberg jetzt so bekannt geworden. Ich war schon immer ein Ausgrabungs-Fan! Ich setze mich zum Beispiel für den mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas ein – einer meiner absoluten Herzenskomponisten. In Graz werde ich bei unserem Eröffnungskonzert am 12. September Werke von Ives und Weinberg mit der zweiten Symphonie von Józef Koffler kombinieren. Koffler…
… KENNE ICH GAR NICHT…
Yes! [lacht] Ein großartiger Komponist! Er war Jahrgang 1896, hat zu Zeiten der k.u.k.-Monarchie in Lemberg studiert, war ein Schüler von Roman Haubenstock-Ramati. Er schaffte es leider nicht in die Emigration und wurde 1944 von deutschen Einsatzgruppen ermordet. Er verbindet auf hochinteressante Weise Schönberg mit Neoklassizismus. Da gibt es noch ganz viel zu entdecken!
DU HAST MIR MAL ERZÄHLT, DASS DU ›RAUSCHHAFTE‹ MUSIK NICHT SO GERNE MAGST, RESPIGHI, FRANCHETTI UND SO WEITER… ÜBERHAUPT BIST DU EHER NICHT DER TYP ›LANGHAARIGER DIRIGENT‹. HAT DIESE BESCHEIDENHEIT, DIE DU AUSSTRAHLST UND DEIN RUF DES ›SERIÖSEN HANDWERKERS‹ MIT DEINER HERKUNFT ZU TUN, VIELLEICHT SOGAR MIT EINER ›OSTDEUTSCHEN DIRIGENTEN-SCHMIEDE‹? ODER IST DAS EINE DOOFE FRAGE?
Nein, überhaupt nicht. Vielleicht hast du Recht. Das hat bei mir sicherlich mit einer protestantischen Prägung zu tun, die ja in der Geschichte auch nicht immer das Richtige zutage gefördert hat. Es gab zum Beispiel germanozentrierte-protestantische Generationen, denen es vor noch gar nicht so langer Zeit niemals eingefallen wäre, Sibelius zu dirigieren – oder Berlioz! Programmmusik! Da war man kritisch! ›Das ist was Äußerliches!‹ Und gerade Berlioz und Sibelius wurden für mich dann zu zwei sehr wichtigen Komponisten. Natürlich komme auch ich nicht ganz aus meiner Haut. Ich bin ja Sohn eines Dirigenten [Anm.: Christian Kluttig (* 1943)], der selbst seines Zeichens viele Jahre Generalmusikdirektor in Halle und Koblenz war. Ich würde mich auch nicht völlig frei von ›GMD-Attitüden‹ bezeichnen. Das bringt die Sache manchmal mit sich – und das muss man immer wieder auch selber reflektieren. Für meinen Beruf brauche ich aber keine langen Haare – und mitunter ist eine Haltung à la ›Wir machen das jetzt aber so, basta!‹ in so komplizierten Strukturen, wie man sie an einem Opernhaus eben vorfindet, auch von Vorteil. Ich versuche trotzdem, meinen Umgang, meine Haltung gegenüber den Menschen, mit denen ich arbeite, zu reflektieren. Das gelingt mir nicht immer. Aber ich denke zumindest darüber nach.

Nach dem Interview gehe ich noch ein bisschen durch die Stadt, sitze sinnlos aber entspannt auf einer Bank herum und höre über den Livestream, wie Werder Bremen sich in die Relegation rettet. Anschließend laufe ich zum Landestheater, hole meine Karte ab – und gehe zu dem mir zugewiesenen Rang. Das Theater, so erzählte mir Kluttig vorher, hat ein sehr ausführliches Sicherheitskonzept entwickelt, um überhaupt Konzerte stattfinden zu lassen.Und natürlich ist das Konzert im schmucken Landestheater eine besondere Erfahrung. Mein erstes als Besucher seit Beginn der Pandemie. Ives’ The Unanswered Question ist das perfekte Werk für die momentane Situation. Die Trompete stellt Fragen – in Musik formuliert. Die Streicher ruhen. Irgendetwas steht still. Kluttig weiß, was er tut. Auf den bloßen »Handwerker« sollte man ihn allerdings nicht reduzieren. Man merkt, wie ihm die Musiker:innen folgen, man spürt den Respekt. Das ist nach zehn Jahren GMD keineswegs üblich. Kluttig geht in Freundschaft – und bringt den Valse triste von Sibelius und den fünften Ungarischen Tanz von Brahms als Zugabe.

Als wir nach dem Konzert in einer Bar noch etwas Gesundes essen, verspüre ich den Wunsch, ihm in Graz wieder zu begegnen. In seiner Wohnung sitzt Kluttig mit seiner Frau auf gepackten Koffern. Ich wünsche ihm einen guten Umzug – auf baldiges Wiedersehen.

Im Zug nach Hause – ich werde erst nach Mitternacht eintreffen – hängen die Leute mit ihren Schutzmasken auf halb vier ermüdet in ihren Sitzen. Ich bin dankbar, mal wieder Livemusik gehört zu haben – und denke: »Komische Zeit.« Und: »Roland Kluttig: Guter Mann!« ¶