Robin Ticciati im Interview
Robin Ticciatis Freundlichkeit und Offenheit scheinen unbezwingbar und haben doch nichts von der manchmal routiniert wirkenden Zugewandtheit, die sich einige Musiker im härteren angelsächsischen Klassikbetrieb antrainiert haben. Ticciati entwickelt seine Gedanken geduldig beim Sprechen, unterstellt Fragen im Zweifelsfall, dass sie auf etwas Intelligentes hinauslaufen könnten und fragt selbst viel: Ist »daring« eine angemessene Übersetzung für das altmodische Adjektiv »keck«, mit dem Anton Bruckner seine Sechste Symphonie kennzeichnete? Bruckners relativ selten aufgeführte Sechste gehört zu dem ungewöhnlich breiten Repertoire, das Ticciati in seiner Antritts-Spielzeit als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin dirigiert: Es reicht vom französischen Barock über Mozart, Berlioz, Schönberg und Wagner bis zu Widmann und zur deutschen Erstaufführung von Thomas Larchers Zweiter Symphonie. Auffällig dabei die Vorliebe für Raritäten wie Duruflés Requiem oder Messiaens Chronochromie. In den von mir besuchten Konzerten hat der Klang des Orchesters im Vergleich zu den oft eindrucksvollen und immer perfekten Aufführungen unter Vorgänger Tugan Sokhiev an Wärme und Lebendigkeit gewonnen. Bei zwei kurzen Treffen in Berlin unterhielten wir uns über Kammermusik, Carlos Kleiber, Schostakowitsch, Sibelius und den Rosenkavalier, den Ticciati in diesem Jahr bei den Festspielen in Glyndebourne, wo er ebenfalls Künstlerischer Leiter ist, nach der Premiere 2014 zum ersten Mal wieder dirigieren wird.
VAN: Du hast außer Klavier auch Geige gelernt. Kommst Du eigentlich selbst zum Spielen?
Robin Ticciati: Die Geige habe ich ganz aufgegeben und bin auf die Bratsche umgestiegen. Aber ich will unbedingt wieder mehr Klavier spielen, vielleicht werde ich ein Projekt mit den Akademisten des DSO machen. Bei all der geistigen Arbeit gibt es diesen Wunsch nach dem Kontakt mit den Tasten, zu spüren, wie sich eine Subdominante ›anfühlt‹. Und dann habe ich immer stärker den Eindruck, dass man durch die Kammermusik zu Komponisten wie Brahms oder Dvořák den direktesten Zugang findet.
Du hast lange mit einem relativ klein besetzten Orchester gearbeitet, dem Scottish Chamber Orchestra, dessen Chefdirigent Du zwischen 2009 und dieser Saison warst.
In meiner letzten Woche dort haben wir Dvořáks Neunte aufgeführt, mit der ich mich sehr lange beschäftigt habe. Manchmal habe ich den Klang einer größeren Streicherabteilung vermisst, aber vieles gelang gerade wegen der kammermusikalischen Besetzung wunderbar. Bei diesen absoluten Meisterwerken vergisst man oft, den Komponisten, von dem sie stammen, herauszuhören. Weil wir glauben, alles so genau zu kennen. Dann kommt es darauf an, sie gerade nicht Blockbuster-mäßig zu interpretieren.

Die Musikgeschichte war im 19. und 20. Jahrhundert von heftigen Kontroversen geprägt: Zwischen Brahms und Wagner, französischer und deutscher Musik, Schönberg und Strawinsky oder sogar noch Boulez und Henze. Heute würde einem dagegen zum Beispiel kaum ein Dirigent einfallen, der Brahms liebt, aber Wagner ablehnt oder umgekehrt. Ist mit diesen Konflikten und Spannungen nicht doch vielleicht etwas verloren gegangen?
Du meinst, dass unser Musikgeschmack gentrifiziert ist?
Ja, vielleicht. Gibt es einen ›großen‹ Komponisten, den Du ablehnst oder der dir wenigstens fremd geblieben ist?
Schostakowitsch. Möglicherweise fehlt mir da bisher der richtige Zugang…
… ich finde in seinem Spätwerk Vieles großartig, die Kammermusik oder seine 14. Symphonie.
Ich denke auch, dass die 14. für mich ein guter Einstieg sein könnte. Aber als ich vor Jahren einmal seine Erste dirigiert habe, bin ich mir wir ein Scharlatan vorgekommen. Bei manchen Schostakowitsch-Aufführungen habe ich den Eindruck, dass diese Musik die fragwürdigen Seiten unseres Berufs bedient.

Zu einem anderen bis heute umstrittenen Symphoniker des 20. Jahrhunderts, Jean Sibelius, hast Du aber ein enges Verhältnis. Du wirst im April seine letzte Symphonie, die Siebte dirigieren.
Wir haben in dieser Spielzeit manche Sachen gemacht, die für mich neu waren, aber auch Stücke, die mir seit langem vertraut sind, wie Sibelius´ Siebte. Die Beschäftigung mit ihm werde ich mit dem DSO definitiv fortsetzen und vertiefen. Als wir auf unserer Tournee das Violinkonzert mit Christian Tetzlaff gespielt haben, dachte ich: Das Orchester hat das innere Brennen, das Sostenuto, die Kraft, die man für diese Musik braucht.
Ich finde die Form bei Sibelius oft nicht leicht nachzuvollziehen. Während seine Werke in Amerika und England seit Langem unumstritten sind, hat man sich in Deutschland traditionell mit ihm schwer getan. War Dir seine Musik immer nahe?
Sie umgibt mich seit meiner Kindheit und Jugend, besonders in den Interpretationen von Colin Davis. Einige Symphonien wie die Erste und die Dritte habe ich mit Jugendorchestern gespielt. Beim Beginn der Siebten spürt man, wie es sich für ein Kind anfühlen muss, zum ersten Mal das Licht zu sehen. Und über seine Fünfte Symphonie hat Sibelius sinngemäß gesagt, Gott habe Mosaikstücke vom Himmel geworfen und ihn dazu aufgefordert, sie zu einem Muster zusammenzusetzen. Seine Musik ist voll von solchen Bildern, die ich großartig finde.
Adorno hat in seiner gehässigen Glosse über Sibelius gesagt, dessen Themen stoße früh ein Unglück zu, so dass sie nicht richtig gehen könnten.
Vielleicht stimmt das sogar. Sie sind eigentlich alle ›Misfits‹, aber wundervolle Misfits.
Richard Strauss soll sinngemäß gesagt haben, er könne mehr als Sibelius, der aber der größere Komponist sei. Du hast im Antrittskonzert in der Philharmonie Also sprach Zarathustra dirigiert und stehst kurz vor der Abreise nach Glyndebourne für die Proben zum Rosenkavalier, den Du dort im Sommer wieder dirigieren wirst. Was reizt Dich an dieser Oper so besonders?
Das Stück ist so etwas wie der Mount Everest für Dirigenten.
Inwiefern?
Fast jeder Takt in diesen drei Stunden Musik stellt eine Herausforderung an die präzisest mögliche Form der Schlagtechnik, an die körperliche Umsetzung durch den Dirigenten dar: An welcher Stelle man beschleunigt oder mit der Zeit nachgeben muss, wann man in einem Walzer den zweiten Schlag zeigt oder nicht zeigt. Der Rosenkavalier ist ein unglaubliches Minenfeld für Dirigenten und kann zu einer Obsession werden.
Kennst Du den Film der Aufführung mit Carlos Kleiber, bei dem man ihn unten rechts im Bildfeld durchgehend sehen kann?
Und ob ich den Film kenne. Es ist ein manchmal deprimierendes aber andererseits auch großartiges Gefühl, dass es etwas gibt, das man einfach nur bewundern kann. Jedenfalls bei diesem Stück hat Kleiber die perfekte Balance erreicht zwischen dem Verständnis für die richtige Gestik, dem Noten-Gedächtnis, der Verbindung zur Bühne und dem Klang des Orchesters.
Bei genauerer Analyse finde ich seine Beziehung zu den Musikern unglaublich kraftvoll aber auch ziemlich düster. Wenn jemand auch nur um eine 32tel-Note von seinen Vorstellungen abweicht, scheint Kleibers Blick zu sagen: Du bist nicht würdig, hier mitzuspielen.
Geht es nicht letztlich darum, dass die Musiker sich als frei empfinden?
Ich denke, dass sie frei sind, weil sie ihn so sehr respektieren. Aber alles ist unglaublich kontrolliert.
Warum hat Kleiber so ungern oder jedenfalls in seinen letzten Jahren so selten dirigiert?
Teilweise lag das sicher daran, dass er die Verantwortung gegenüber den Stücken, das Gefühl, ihnen in jedem Takt gerecht werden zu müssen, auch als qualvoll erlebt hat.

Kennst Du das persönlich auch: das Musizieren als Bürde, Last?
Das Wort Last trifft es für mich nicht. Aber lass mich Deine Frage so beantworten: Früher habe ich ein Konzert dirigiert und bin dann nach einem Wochenende oder so zum nächsten Projekt aufgebrochen. Ich kannte es nicht anders und dachte, das gehöre zum Beruf. Seit ich weniger Programme übernehme, empfinde ich bis ungefähr vier Tage nach einem Konzert das Gefühl einer intensiven Müdigkeit, bevor die Kraft für das nächste zurückkehrt.
Harnoncourt hat mal gesagt, er fühle sich nach Auftritten, als sei ihm die Haut abgezogen worden.
Das ist ein großartiges, aber auch sehr drastisches und schmerzvolles Bild. So empfinde ich es selbst nicht. Mir hat sich ein anderer Vergleich eingeprägt und inzwischen bewahrheitet, den Colin Davis bei einem Kurs – ich war damals 14 Jahre alt – verwendet hat: Lachse schwimmen stromaufwärts, um ihre Eier zu legen. Dann drehen sie sich auf die Seite und lassen sich stromabwärts treiben.
Kreativität als Prozess der Verausgabung, Erschöpfung?
Ja. Aber ich fühle dabei vor allem Freude und Begeisterung für die Musik und lerne hoffentlich immer mehr, wie viel ich im Verlauf der Arbeit geben kann und muss. Mir wird mehr und mehr bewusst, wie viel das Dirigieren bedeutet und welche Verantwortung es beinhaltet. Das will ich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das DSO ist in diesem Lernprozess ein wunderbarer Katalysator. ¶