Ein Zufallsfund in frühen Jahren brachte unseren Autor auf Francis Poulencs Violinsonate für den ermordeten Dichter Federico García Lorca. Jetzt hat Volker Hagedorn sein Lieblingsvinyl wieder belauscht und mit Neueinspielungen verglichen. Fazit: Wir brauchen noch mehr Einspielungen! Und ein Reprint.
Von Francis Poulenc hatte ich noch nie etwas gehört, als ich mit siebzehn diese Platte bei »2001« entdeckte – ein florierender Kultladen in Hannover, kurz vor der Erfindung der CD. Raue gelbe Pappe, darauf eine Collage aus Noten und Schwarzweißfoto: Ein Typ mit langem, sympathischem Pferdegesicht à la Fernandel sitzt am Klavier, eine junge Frau mit Spitzenkragen steht zum Umblättern daneben, ein junger Geiger, das Haar gelichtet, spielt aus den Klaviernoten. Dahinter harmonieren spröde die Fächer einer Zimmerpalme und ein Fenstervorhang, darüber sieht man die Noten der Sonate pour Violon et Piano von Francis Poulenc. Das Vinyl war ein Volltreffer. Ein befreundeter Geiger und ich, wir hörten die Aufnahme wohl noch öfter als Sergeant Pepper.
Wir trafen darin vieles wieder, was wir »französisch« fanden: die Melancholie von Hausbooten auf der Seine im Regen, alte Filme mit Jean Gabin, Tränen der Liebe, ein bisschen Salonkitsch. Dazu kam aber auch etwas völlig Unklassisches in dieser extrem klassischen Besetzung. Aufbruch, dreiste Schnitte, kein Hauch von Tradition. Alles sprang einen an, berührte, war auf geheimnisvolle Weise verständlich, denn Kaufman und Hélène Pignari spielten es so, den sanften akustischen Nebel durchbrechend, den diese Aufnahme von 1954 hatte, 1972 neu gepresst bei Orion, kombiniert mit Strawinskys Duo Concertant. Dieser Poulenc war wie ein Freund, der einen zu Abenteuern führte.
Seiner Widmung an das Andenken Federico García Lorcas gingen wir damals nicht nach. Francis Poulenc, Jahrgang 1899, war nicht nur als homosexueller Künstler tief getroffen von der Ermordung des gleichaltrigen Dichters. Lorca, in den 1930ern der berühmteste spanischsprachige Autor Europas, verkörperte das liberale Spanien, das Francos Faschisten mit aller Macht verhindern wollten. Sie nahmen Lorca fest; in der Nacht zum 19. August 1936 wurde er in der Nähe von Granada erschossen, der Leichnam verscharrt. Eine Musik für diesen Mann im von Hitlers Deutschen besetzten Paris des Jahres 1943 uraufzuführen, wie es Poulenc und die Geigerin Ginette Neveu taten, war ein Akt von résistance.
Die Sonate ist aber völlig autark, sie braucht keine Gedenkfeiern. Extrem facettenreich, getrieben, melancholisch, witzig, verzweifelt: Das erste Thema nach den aufbrechendsten Anfangstakten, die es gibt, ist eine Metamorphose von Tea for Two, denn wie Lorca liebte Poulenc music halls, populäre Musik, Jazz. Das Grundmotiv wird bei ihm zur rasenden, existenziellen Äußerung, geschrieben in einer Diatonik, die durch Debussy hindurchgegangen ist zu eigener Sprache. Für die souveräne Verschmelzung diverser Musikkulturen war Geiger Louis Kaufman die Idealbesetzung: 1905 in Portland geboren, spielte er als »ghost fiddler« die Soli in Filmen wie Gone with the wind und Casablanca. Er traf Poulenc 1948 in einem Hotel in Chicago – der Geiger erzählt davon in »How Hollywood and Vivaldi discovered me«.
Sie gingen das Stück durch, Annette Kaufman blätterte um und das Foto entstand, das mich bei »2001« anlockte. Danach stieß ich lange auf keine Aufnahme mehr. Es gibt ein paar, aber selbst die besten konnten diese drei knappen Sätze nicht in die breite Wahrnehmung schubsen. Ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, genial und singulär, von seltsamem Schweigen umgeben. Ändert sich das jetzt? Zeitgleich haben zwei Geigerinnen die Sonate aufgenommen, denen man viel zutraut: Judith Ingolfsson für Accentus, Patricia Kopatchinskaja für Alpha. Natürlich ist es unfair, sie von Kaufman aus zu hören, der mit nervösem Ton so nahe an der Quelle spielt. Andererseits, wer will schon ein Imitat? Wir brauchen gegenwärtige Blicke auf diese Musik.
Bei Patricia Kopatchinskaja erblickt man vor allem sie und die Pianistin Polina Leschenko, die jede ihrer Gestaltungsideen, ob Decrescendo oder Ritardando, Kratzbürstigkeit oder Sentimentalität, überdeutlich zelebrieren. Immerhin halten sie sich im Allegro con fuoco anders als die meisten an Poulencs rasantes Tempo von 120 Vierteln pro Minute, und anfangs ist es interessant. Aber irgendwann vernehme ich nur noch »hört her, wie jazzig, hört her, wie zerbrechlich!« und erlebe kaum wirklich vertiefte Atmosphären. An der Melancholie des Intermezzo wird mit doppelt so viel Agogik herumgeknetet, wie Poulenc hineinschrieb – und er ist bei den Tempoangaben schon sehr differenziert.
Im Presto tragico gehen sie mit ihm vollends um wie mit einem Künstler dritten Ranges, der froh sein muss, mal aufgebrezelt zu werden. Breite Striche, wo staccato steht, springender Flüsterbogen statt détaché im Mezzoforte, abrupter Tempowechsel, während Poulenc »presser peu à peu« wünscht. »Très violent« lässt sich die Geigerin nicht zweimal sagen – da kratzt und kracht sie so lange drauflos, bis hinter den zerfetzten Noten das begehrte Etikett »kompromisslose Musikerin« erscheint. Sorry, hier glaube ich ihr keinen Ton. Eher schon Judith Ingolfsson, die mit Vladimir Stoupel den strukturbewussteren Pianisten hat, im Intermezzo ins Weite blicken lässt und im Presto mit Poulenc, nicht gegen ihn, weit stärkeren, angstvollen Sog entwickelt bis ans beklemmende Ende.
Schade, dass das Duo den ersten Satz in so mäßigem Tempo nimmt und ihn eher abarbeitet als ausfüllt. Und schön, dass es doch eine Aufnahme gibt, die der von Kaufman ganz eigenen Furor überzeugend entgegenstellt: die von Frank Peter Zimmermann und Alexander Lonquich, 1991. Und wie klingt Louis Kaufman nun, nach diesen Aufnahmen aus seiner Zukunft? Näher denn je, sprechend, verbindlich und dringlich. In knochentrockener Akustik scheinen er und Hélène Pignari die Musik wie einen Text zu lesen und wie einen Film zu realisieren, ein Konzentrat von Freuden und Schmerzen, und auch ein Rätsel, wie Federico García Lorca es aufschrieb: »Nur das Mysterium ermöglicht es uns, zu leben.« ¶