Obwohl Johanna Kinkel 1810 in Bonn geboren wurde und bald einen politisch auffälligen Namen trug, ist sie, die durch ihre zweite Ehe mit dem Theologen Gottfried Kinkel zu dem entsprechenden neuen Nachnamen kam, wohl nicht in direkter Linie mit dem im März diesen Jahres verstorbenen ehemaligen Bundesminister des Auswärtigen Klaus Kinkel verwandt.

Ebenfalls prominent war allerdings ihr erster musikalischer Mentor Franz Anton Ries (1755–1846), der als Geiger und Dirigent einst die kurfürstliche Hofkapelle in Bonn geleitet und nach ihrer Auflösung 1794 dort jahrelang fortgesetzt Konzertreihen organisiert hatte. Ries unterrichtete in den Jahren 1785 und 1786 den Teenager Ludwig van Beethoven im Violinspiel. Kinkel dagegen betrieb bei Ries Studien am Klavier.

Als Dirigentin leitete Kinkel das von ihr gegründete »Singkränzchen«. Vielleicht wurden ihrem ersten Mann – dem Musikalienhändel Johann Paul Mathieux – diese organisatorischen und künstlerischen »Umtriebe« zu viel. Die Ehe scheiterte und Kinkel zog auf Anraten Felix Mendelssohn Bartholdys nach Berlin. Hier bekam sie schnell Kontakt zu dessen Schwester Fanny Hensel und wohnte im Hause Bettina von Arnims, studierte Klavier und Komposition und finanzierte ihr Leben durch das Schreiben und Veröffentlichen von Liedern.

Im Zuge ihrer Scheidung lernte sie Gottfried Kinkel kennen und gründete den Dichterkreis »Maikäferbund«, der das Wochenblatt »Der Maikäfer. Eine Zeitschrift für Nicht-Philister« herausgab, von dem jeweils nur ein einziges Exemplar existierte und nach Lektüre entsprechend geheiligt und gewürdigt weitergegeben wurde. Johanna Kinkel wurde zur wichtigsten Vertreterin der Dichtung in Bonner Mundart – und ist bis heute ein nicht vergessener Teil der dortigen Stadtgeschichte.

Die Revolution 1848 verschlug die vierfache Mutter samt ihrer Familie ins Londoner Exil. Johanna Kinkels Gedichte glichen zu dieser Zeit zuweilen politischen Appellen. Der Text zu ihrem im Dezember 1848 komponierten Demokratenlied stammt sehr wahrscheinlich von Kinkel selbst. Hier heißt es in der zweiten Strophe: »Wer trägt des Blutes Zeichen am Gewande? / Wem sprüht der Bürgerhass aus giftgem Blick? / Wer küsst den Staub von eines Thrones Rande / Und zittert vor dem Namen Republik?«

Auch Johannas Mann war komplex in die Ereignisse der Märzrevolution involviert, so dass seine Frau nach der Flucht nach London den Lebensunterhalt ihrer Familie durch Klavierunterricht mit erwirtschaften musste. Diese Position, die Mitbestimmung, die Mitfinanzierung ihrer Familie, das Mitspracherecht, die Integration in alle – auch politischen – Geschehnisse brachte Johanna Kinkel dazu, einen Roman zu schreiben, der 1860 – posthum – erschien: Hans Ibeles in London: ein Roman aus dem Flüchtlingsleben. Damit wurde Kinkel im Rückblick zu einer frühen Vertreterin der Frauenrechtsbewegung.

Wichtige Essays – wie ihr umfangreicher Aufsatz Friedrich [sic] Chopin als Componist – und ihr politisches Vermächtnis durch den besagten Roman lassen Kinkel im Rückblick als ein schillerndes Multitalent aufleuchten: unheimlich begabt, umtriebig – und mit vielen bedeutenden schreibenden, komponierenden, denkenden Menschen ihrer Zeit befreundet und in regem Austausch.

Nach einem Herzinfarkt mit 46 Jahren und einer nach vorübergehender Gesundung sich akut verschlechternder Konstitution – Kinkel litt an schweren Depressionen – entschied sich Kinkel am 15. November 1858 offenbar für den Freitod. Der Sprung aus einem Fenster beendete mit 48 Jahren ihr aufreibendes und doch erfülltes Leben.

Johanna Kinkel (1810–1858) Die Lorelei

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Das 1838 komponierte Lied Die Lorelei nach dem berühmten Text Heinrich Heines steht bei Kinkel in h-Moll, einer mitunter als dunkel, versunken und kühl-leidenschaftlich empfundenen Tonart. In diesem Sinne bewegt sich Kinkel auf musikgeschichtlich traditionell-sicherstem Terrain – und liefert eine profunde, bewegende und mehr als nur handwerklich lobenswerte Vertonung ab.

Im Gegensatz zu Franz Liszt, der drei Jahre später (1841) in seiner Lorelei-Tonschöpfung den Text kreativ zerpflückt und eine oratorische Quasi-Mini-Oper mit Arien- und Rezitativ-Teilen daraus macht, gibt sich Kinkel ganz dem Heine-Rhythmus, dem typisch romantisch-süffigen Sound des Gedichtes hin. Die vermeintliche Heine-Ironie, welche sich hier wie archetypisch aus explizit-poetischer Benennung allmöglichen Wortinterieurs der Sehnsuchtsmelancholietrauersuizidsromantik im Zusammenwirken mit an die Grenzen getriebener – bald eben: negierter – Ernsthaftigkeit ergibt, wird durch die vollmundige Schlichtheit der Kinkelschen Vertonung erstaunlicherweise besonders deutlich herausgeschält.

Farbenfroh und wohl ganz im Sinne Heines lässt Kinkel bereits das – rhythmisch wie von Fanny und Felix beseelte – Klaviervorspiel zwischen Dur und Moll schwanken. Bei dem Wort »Abendsonnenschein« löst sich das Dur-Moll-Wechsel-Versprechen schließlich im Zusammenklang mit der Gesangsstimme subtil ein. Kinkel legt die Komposition dabei als Strophenlied an. Statt das Stück dafür allerdings als »konservativ« abzukanzeln, bietet das Werk freundlich an, sich der völlig überzeugenden Grundstimmungsevokation in h-Moll (und H-Dur) hinzugeben. Denn Kinkels Lorelei ermöglicht auf klassisch-tiefgründige Weise einen luziden Einstieg in das Verständnis des Heineschen Gedichts. Die Strophenlied-Struktur wird demgemäß eben nicht als repetitiv empfunden, da sich die Dichterin und Komponistin Kinkel dem Gedicht mit jeder neuen Zeile neu zu widmen scheint. Man achte darauf, wie die Gedichtzeilen für und für eine jeweils ganz eigene musikalische Umsetzung erfahren. In dieser emphatischen Vertonung kommt der Heine-Text ganz zu sich selbst – und jede Zeile zu ihrem Recht. Dies geschieht wiederum nicht aber im Zuge einer kleinteiligen, kurzatmigen Kleinmeisterei, welche sich in Form eines anheimelnden Stückes Musik selbstzufrieden in biedermeierlicher 19. Jahrhundert-Behausung zurecht- und eingezimmert hätte. Kinkels Liedkunst ist und kann mehr. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.