Es ist Passionszeit. Unter den zahllosen Aufführungen der Bach’schen Johannespassion landauf landab gab und gibt es in dieser Saison auch zwei ganz besondere Formate: Eine großartig inszenierte und eine mit nur drei Mitwirkenden. Reinhard Mawick gefallen beide sehr, aber er kommt zum Schluss: Weniger ist mehr.
»Wir brauchen keine Imagepflege, sondern Irritationen«, schrieb Volker Hagedorn vor ziemlich genau einem Jahr an dieser Stelle. Und ja, es irritiert schon, wenn der Eingangschor der Johannespassion von Johann Sebastian Bach anhebt, aber kein Sänger in Sicht ist. Im Radialsystem zu Berlin stand das Werk »Johannespassion für Tenor allein, Cembalo, Orgel und Schlagwerk« auf dem Programm. Doch dann gehen auf der Bühne nur Elina Albach an den Tasten und Philipp Lamprecht an den aufgereihten Schlagwerken der Xylophonfamilie berserkergleich zu Werke, um den magisch-rauen Beginn des Eingangschors von Bachs erster Passion vor Ohren und Augen der atemlosen Zuhörerschaft zu zaubern. Toll! Aber bitte, die berühmten »Herr, Herr, Herr«-Rufe rückten näher, die Sekunden verrinnen, was soll bloß werden? Irritierend, sehr irritierend!

»Herr – Herr – Herr!« Aus dem hinteren Bereich des Raumes kommt dann diese eine Stimme, die in den folgenden gut 90 Minuten alle in ihren Bann ziehen wird. Der Tenor Benedikt Kristjánsson wandelt singend vom oberen hinteren Ende hinunter, bezieht dann ganz zentral auf der Bühne Position und singt in Tenorlage die Chorstimme des Soprans. Und die anderen drei Vokalparts? Sie sind als Gesang schlicht nicht zu hören, auch wenn Elina Albach mit vollgriffigen Partiturspielhänden recht erfolgreich versucht, alle Stimmen erklingen zu lassen.

Der Eingangschor der Johannespassion vokaliter nur mit der Sopranstimme und ohne die anderen – da fehlt doch was?!? Sicher fehlt da was! Aber die Devise »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters« gilt auch für das Ohr, und so stellen sich sofort Assoziationen ein, die diesen Mangel im Radialsystem reichlich kompensieren. »Ja, stimmt, es sind nicht mehr viele«, schießt es einem durch den Kopf, »hier sogar nur einer, der noch gläubig-überzeugt jenen Satz den Beginn des 8. Psalms der Bibel paraphrasierenden Satz singt: ›Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen verherrlicht worden ist.‹« Schön, aber auch beklemmend, schön beklemmend oder eben beklemmend schön – beschwörender Klang mit Leerstellen, und das Kopfkino dreht sich weiter: Da steht einer, nur noch einer, und, zack, plötzlich ist da, nur für ein paar Sekunden, ein Bild im hörenden Kopf: Der junge Sänger mit den langen Haaren im Zentrum der dunklen Bühne, ist er nicht wie jener einsame tote Christus, dem der Romantiker Jean Paul einst die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei schrieb? Benedikt Kristjánsson singt in suggestiv-souveräner Ruhe Herr, unser Herrscher und dann auch Zeig uns durch deine Passion, und durch Herz und Hirn des Betrachters schleichen sich angesichts dieser Darbietung jene monströs hoffnungslosen Zeilen, die Jean Paul 1796 ersann:
»Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«
Ist das nur mir passiert? Vielleicht. Aber was mögen die Mit-Irritierten im Radialsystem an diesem Sonntag vor ihrem inneren Auge gesehen und dem inneren Ohr gehört haben? Schon nach diesem Eingangschor kann man ahnen, dass es ein reicher, weil reduzierter Abend werden würde, denn Reduktion macht Platz für anderes. »Reduce to the max«, jener läppische Werbespruch, der einst für den Smart warb, gewinnt an diesem Abend überraschend neuen Sinn.
Lange stand die einchörige Passion Bachs nach Johannes (BWV 245) von 1724 nach ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert im Schatten der großen zweiten doppelchörigen Passion nach Matthäus (BWV 244) von 1727. Längst aber hat Johannes in den vergangenen Jahrzehnten im deutschen Kirchenmusik- und Konzertbetrieb Matthäus den Rang abgelaufen, schon aufgrund der Tatsache, weil sie mit weniger Ausführenden zu verwirklichen ist, wenn auch in der Regel mit mehr als dreien.
Die Johannespassion á trois aus dem Radialsystem ist aber nicht die einzige besondere Darbietung in diesem Frühjahr. Eine weitere ging am ersten Aprilwochenende in Hamburgs Elbphilharmonie über die Bühne: Simon Rattle präsentierte erneut die szenische Fassung der Johannespassion in der Inszenierung von Peter Sellars aus dem Jahre 2014. Szenische Aufführung einer Bachpassion? Das mutet heutzutage und gar in Hamburg fast schon konventionell an, schuf doch bereits vor knapp 40 Jahren der Hamburger Ballettmeister John Neumeier seine berühmte Tanzversion der Matthäuspassion. Vor drei Jahren dann, 2016, untermalte Kent Nagano im Rahmen des Musikfestes in den Deichtorhallen mit einer 1:1-Version der Matthäuspassion die spektakuläre Inszenierung La Passione des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci, der unter anderem einen ausgewachsenen Reisebus über die Bühne schleifen ließ. Damals war die Bindung zwischen Passionsmusik und spektakulärer Aktionskunst eine spezielle und nur in Ahnungen auszulotende. Regisseur Peter Sellars geht in seiner Version klar andere Wege, denn das musikalisch herausragend gute Ensemble musiziert die Passionsgeschichte laut Partitur und liefert nicht nur wie Naganos Chor und Orchester 2016 aus dem Bühnenhintergrund einen Musikteppich, sondern die einzelnen Personen, ob Evangelist, Christus, Petrus, Diener, Mägde treten in einer ausgefeilten Inszenierung auf, die je länger je atemberaubender gerät.

Hatten den skeptischen Zuhörer/Zuschauer zu Beginn noch Zweifel befallen, ob ihm der perfekten Musizierenden zum Trotz szenisch eine Art »Oberammergau 2.0« drohe, wichen solch Schattengedanken spätestens im zweiten Teil zunehmend größter Bewunderung über das hochklassige und dichte Spektakel – befeuert und inspiriert durch einen die Bühne von Schauplatz zu Schauplatz erwandernden Simon Rattle.
Von den Solisten begeisterten besonders Mark Padmore als mit allen Fasern seiner Kunst beteiligter Evangelist und Roderick Williams als Jesus, der nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch ganz real die schwerste Partie hatte, denn fast das gesamte Stück über musste Williams als Gefangener und Gefolterter in äußerst unbequemen Haftpositionen verharren und wurde teils recht rüde hin- und hergeworfen. Aua, durchzuckte es einen da zuweilen, und als Williams während des Triumphteils der letzten Altarie (Der Held aus Juda siegt mit Macht) still abgehen und für den Rest der Aufführung schweigend auf einem Stuhl Platz nehmen durfte, war auch der mitleidende Betrachter ein stückweit erlöst. Sowohl sängerisch wie darstellerisch überzeugten auch Sopranistin Camilla Tilling, Tenor Andrew Staples (mit einer umwerfend schönen Erwäge-Arie) und Altistin Christina Rice (bei der lediglich gefragt werden muss, ob Peter Sellars’ Idee, sie als den Heiland stets herzende Frau im knallroten Kleid agierende Femme fatale in diese Passion zu schicken, seine beste Inszenierungsidee gewesen ist … eher nicht).
Ausdrucksstark und sehr überzeugend, nicht nur in seinem kernig-klaren Singen, sondern auch im darstellerischen Ausdruck, Bariton Georg Nigl in seinen Arien. Die Dialoge, die er, Pilatus, auf einem Stuhl sitzend mit dem zunächst kauernden und später gefoltert und geschlagen liegenden Jesus Roderick Williams führt, gehören zu den stärksten Momenten des Abends – unerbittlich bestrahlt von einer Verhörlampe, die Williams geradewegs ins Gesicht leuchtet und finstere Ahnungen an zeitgenössische Folterknäste in die Elphi trägt.

Zunächst irritierend, aber dann im Verlauf sehr stimmig, erscheinen die langen Pausen, die der Evangelist in seiner Erzählung einlegt, ja einlegen muss, da er von Szene zu Szene meist einiges an Wegstrecke auf der Bühne zu bewältigen hat. Der vertraute Fluss der Evangelistenpartie geht dabei zwar verloren, doch die Prägnanz der einzelnen Szenen der Passion wird geschärft. Abgerundet wird Sellars’ Inszenierung durch das Singen und Agieren eines wunderbaren Chores, des Choir of the Age of Enlightment aus London. Ob in den spektakulären Chören der entfesselten Volksmassen, oder den berechnend-hintersinnigen Antworten der Hohepriester oder in den Chorälen – die ausgefeilte Bewegungsdynamik der 32-köpfigen Gruppe von Bedrohlichkeit bis zum eigenen Entsetzen zieht alle in den Bann, und das bei einer überragenden Qualität des dargebotenen Gesangs. Absolut keine Wünsche offen ließ auch das auf historischen Instrumenten agierende Orchestra of the Age of Enlightenment, ebenfalls aus London. Naturgemäß – sie hatten zu tun und in der Regel keine Hände frei – konnte das Orchester in dieser Inszenierung nicht so auffallen, fügte sich aber mit höchster musikalischer Qualität und Sensibilität in das Gesamtgeschehen ein.
Der Applaus war für hanseatische Verhältnisse ungewöhnlich: standing ovations nach einer durch und durch geglückten, intensiv-innigen Aufführung. Im Herausgehen sagte eine Dame im schönsten Missingsch: »Gaaanz toll, das Stück möchte ich jetzt nur noch so hören…«. Wirklich? Zeigt diese Bemerkung neben der Begeisterung über die Großartigkeit solcher Inszenierungen wie sie Peter Sellars mit Simon Rattle und seinen Musizierenden auf die Bühne bringen, nicht auch eine Gefahr, nämlich die des Verlustes der inneren Bilder im Betrachter und Zuhörer?
Natürlich liefern Inszenierungen Bilder, das ist ihre Aufgabe, ja, das ist das Surplus der Königsdisziplin Oper, und natürlich ist die Johannespassion auch eine Oper, ein Drama. Aber wie wertvoll innere Bilder sein können, beweist die eingangs geschilderte, reduzierte »Johannespassion für Tenor allein, Cembalo, Orgel und Schlagwerk« bei ihrem Auftakt an jenem Sonntag im Berliner Radialsystem.
Elina Albach und Benedikt Kristjánsson nahmen die Herausforderung mit einem Sänger an. Ein Sänger! Das geht natürlich eigentlich nicht, und gerade im Eingangschor empfindet Albach dies weiterhin als Mangel. Sie ist mit der vorliegenden Fassung, die viele, so auch mich, mit ihren Leerstellen tief beeindruckte und innerlich anregte, längst noch nicht zufrieden. Den Eingangschor will sie für folgende Aufführungen nochmal überdenken und verändern, und überhaupt, diese Johannespassion ist längst nicht fertig. Sie ist ein work in progress und soll es für das Trio aus Tenor, Tasten und Schlagwerk bleiben.
Wenn man Elina Albach erzählen hört, dann klingt vieles in der Uraufführung realisierte, was das Publikum total überzeugen konnte, wie aus der Not geboren. So schön Traversflöten sind, eigentlich möchte man nach der berückenden Erfahrung im Radialsystem die Arie Ich folge Dir gleichfalls mit freudigen Schritten nie mehr ohne die betörend-leichten Xylophon-Glockenschläge des famosen Philipp Lamprecht hören.
Die Sensation ist der Sänger: Benedikt Kristjánsson steht da und singt. Eindringlich, mühelos, umfassend. Er singt nicht nur die Evangelistenpartie, logisch, nein, er singt auch einige Arien, die er eigentlich sonst nie singt: Beide Sopranarien, das Bass-Arioso Betrachte meine Seel, und die Bass-Arie Mein teurer Heiland lass dich fragen – merkwürdigerweise lässt er beide Tenorarien aus, aber bei künftigen Aufführungen möchte ihn Elina Albach, so der Plan, zumindest um Erwäge bitten, die zentrale, mittige Arie der Person.
Und Kristjánsson singt die Choräle und nicht nur das: Vor jedem Choral verebbt das Geschehen, Kristjánsson tritt vor und gibt den Einsatz. Wem? Dem Publikum. Denn das ist gebeten, die Choräle zu singen, wenn’s geht bitte vierstimmig, so wie’s sein soll – abgedruckt sind dafür alle Noten im Programmheft, und zwecks Choralsingen wird das Licht im sonst rabenschwarzen Zuschauerraum etwas hochgedimmt. Die etwa drei Hundertschaften Publikum im Radialsystem kriegt das recht gut hin, keinesfalls ist es peinlich, denn diese Mitsingerei hat nichts von einem Singalong oder anderen populären Bach-Publikumsbespaßungen, sondern es bildet eine eigene Ebene in dieser Miniaturpassion. Die Pausen vor und nach dem Choral und dass sich objektiv gebärdende langsame Metrum, das der Evangelist der Menge vorgibt, heben die Choräle klar vom feinziselierten, dramatischen Geschehen der drei ab.
Aber wie geraten nun die dramatischen Chöre mit diesem einen Sänger? Ganz einfach, er singt nicht. Sondern er spricht in das virtuose, mitreißende Musizieren von Tasten-Elina und Schlagwerk-Philipp ganz langsam, manchmal flüsternd die entsprechenden Worte hinein: »Wir DÜR-FEN NIE-MAND TÖ-TEN …«. Er spricht und das Kopfkino des Publikums erhält reichlich Nahrung. Man könnte sich in den Details dieser besonderen monströsen Miniaturpassion verlieren – zum Beispiel in der überwältigend tiefen, matten, abgedimmten Wirkung der Es ist vollbracht-Arie – sie ist ursprünglich für Alt – und wird vom alleinsingenden Passionssänger eine Oktave tiefer dargeboten. Zum Schauern und Weinen schön! Oder in das famose Choralspiel des Xylophons in Mein teurer Heiland (»Jesu, der du warest tot«), wo gleichzeitig Elina Albach überbordend, vollgriffig, perlend, sprudelnd die das Stück tragende Continuostimme aussetzt. Sie hat wohl den teuren Heiland viel zu fragen – eins aber darf nicht fehlen: der verstörend schrecklich-schöne Schlusschoral Ach Herr lass dein lieb Engelein. Den singen sie zu dritt und a cappella. Da stehen sie alle zusammen, die Drei von der Johannespassion, im Zentrum der Bühne und singen den Satz. Ein vertraut, verstörender Abschluss eines Projekts, das dem Grundsatz reduce to the max auf dem Feld der Bachpassion alle Ehre machte. ¶