Was tun wir hier eigentlich, Sonntag für Sonntag, für eine Handvoll Leute für 45,32 Euro? Der Job des Organisten wandelt sich – wenige Bewerber bei vielen offenen Stellen, fusionierte Gemeinden, weniger Gottesdienste und immer mehr Stimmen, die nach musikalischer Veränderung rufen. Es tut sich was – nur was genau, das ist noch nicht fassbar. Ein Bericht aus dem Organistinnenleben.

Strophe 1: Herrgottsfrühe

Die Stadt ist nie so still wie sonntags morgens. Wenn ich gegen 7.30 Uhr das Haus verlasse, sieht alles noch ganz blau aus. Manchmal höre ich meinen Schritt als einziges Geräusch in den Straßen und an den Hauswänden, und möchte dann instinktiv auf Zehenspitzen weitergehen. Wem auch immer ich unverhofft begegne, wir gucken uns kurz an und ignorieren uns so schnell es geht. Irgendwie wäre man zu dieser Zeit lieber allein auf der Welt. Fast ärgerlich, nicht der einzige wache Mensch zu sein.

Und ja, manchmal hasse ich es auch. Dass jeden Sonntag um 10 Uhr in dieser einen Kirche ein Gottesdienst beginnt, zu der ich mich so früh auf den Weg mache, um eine Stunde vor Eintreffen der ersten Besucher noch ein bisschen Ruhe zu haben mit dem Raum und dem Instrument und mit mir – das finde ich zwar manchmal nostalgisch-romantisch, aber oft auch ganz schrecklich nervig. Nicht, weil ich den Organist*innen-Job nicht gerne mag. Ich mag ihn. Sondern weil ich ihn 2019 zu einer Zeit ausführe, in der es sich für mich zunehmend irrelevanter anfühlt, was ich da eigentlich tue.

Denn die Landschaft verändert sich. Es kommen immer weniger Leute in immer weniger Gottesdienste – allein in Deutschland hat sich die Zahl von 1990 bis 2015 von 7.425.000 auf 3.333.271 Besucher weit mehr als halbiert. Orgelmusik und Orgelbau werden zwar zum immateriellen Kulturerbe erklärt, gelten aber insgeheim und auch bei manchen kircheninternen Gruppen, wie mir manchmal scheint, als ein bisschen uncool. Viele der 50.000 Instrumente in Deutschland sind in einem bedauerlichen Zustand, schimmeln, rosten, reagieren nicht oder falsch oder gehen beim Spielen einfach aus (alles schon erlebt). Immer mehr Gemeinden engagieren Bands und Popgruppen und veranstalten Gottesdienste, die modern sein sollen, was viele Besucher toll finden, manchmal toller als Orgelmusik. Ab und zu komme ich nach einem Dienst mit einer Besucherin oder einem Besucher ins Gespräch, die auf die Musik gehört haben und mir ein Feedback geben. Manche Organisten, mit denen ich gesprochen habe, haben dieses Glück aber nicht. Sie sind halt da, sie spielen, aber eigentlich interessiert kaum jemand dafür, was sie da tun – mit dem ersten Takt des Nachspiels setzt bei ihnen dann das Stühlerücken und Reden und fröhliche Begrüßen ein, und beim letzten Takt ist niemand mehr im Raum.

Strophe 2: 10 bis 15 Euro

Regelmäßig, fast jeden Sonntag also, preise ich den Herrn mit meinem Orgelspiel. Mit großen und mittelgroßen und kleineren Werken, meist deutscher oder französischer oder niederländischer Komponisten, mit Improvisation, Liturgie- und Choralbegleitung, gut trainiert auf den immergleichen Ablauf, wobei ich mich manchmal großartig fühle und manchmal wie eine intelligente Jukebox. Ich bin eine von schätzungsweise 30.000 bis 35.000 nebenamtlichen Kirchenmusiker*innen in Deutschland, und zudem eine, die das Glück hat, fest angestellt zu sein – auf einer reinen Orgelstelle (eigentlich umfasst Kirchenmusik ja noch weitaus mehr, Chor- und Ensembleleitung zum Beispiel). Ob und in welcher Form ich dabei selbst an diesen Gott glaube, der da allwöchentlich von der Gemeinde gepriesen wird, das ist eine andere Frage – aber zum Glück eine, die vonseiten meiner Kirche mir selbst überlassen wird.

Als nebenamtliche Musiker mit kirchenmusikalischem D- oder C-Examen, also einer kirchenmusikalischen Ausbildung auf unterschiedlich hohem Niveau, oder einem Schulmusikabschluss mit Hauptfach Orgel in der Tasche sind wir sowohl in der katholischen, als auch in der evangelischen Kirche unter den Musikern in der Überzahl, heißt: Wir sind zwar eher selten die krassen Virtuosen, aber wir schmeißen einen Großteil der Gottesdienste und Messen. Die meisten spielen auf Honorarbasis Vertretungsdienste, manchmal bekommen sie dafür 10 oder 15 Euro pro Einsatz, manchmal 35 oder 50, das hängt von ihrer Qualifikation und von der Gemeinde ab und davon, ob sie vorher einen offiziellen Zettel ausfüllen und unterschreiben oder nicht. Und es gibt, vor allem in der katholischen und neuapostolischen Kirche, eine ganze Reihe von Leuten, teilweise professionell am Instrument ausgebildet, die den Job sogar umsonst macht. Ehrenamtlich.

Mir wurde in meiner C-Ausbildung immer zu verstehen gegeben, die Musik in der Kirche sei mit das elementarste am Gottesdienst überhaupt, und der Gottesdienst sei auch ein bisschen der einzig richtige Ort für Orgelmusik. Ohne uns Organisten wäre die Verbindung zum Höchsten quasi gar nicht möglich, so klang es durch, wir seien nämlich diejenigen, die das Unsagbare irgendwie spirituell ausdrücken und den Besuchern bei dem jeweils eigenen Ausdruck helfen können. Einigermaßen verstanden habe ich das aber erst später im Studium, als es vor allem um das Instrument, den Raum und den Klang selbst ging und um das, was ich damit alles tun kann. Orgel ist ja längst nicht nur Kirche. Sie wurde irgendwann von ihr geschluckt und ist ohne den institutionellen Rahmen kaum mehr denkbar. Ein Grandseigneur wie Jean Guillou, der Anfang des Jahres verstorben ist, versuchte deshalb auch sein Leben lang, die Orgel wieder aus diesem Kontext zu »befreien«, wie er es nannte. Er hatte aber eher mäßigen Erfolg.

Strophe 3: In der Blase

Organisten gehören zu den routiniertesten Musiker*innen, die es gibt. Durch den ständigen Einsatz und das regelmäßige etwas-präsentieren-Müssen, das ewige »F***, was spiele ich morgen?« hat sich deshalb bis heute die Improvisation erhalten, sie war nach dem Barock einfach nie weg. Es ist daher unglaublich spannend, auch mal andere Gottesdienste zu besuchen und zu hören, was, und vor allem wie die Kollegen so spielen – wenn auch, wie aus ein paar Gesprächen herausklang, eher wenige Organisten Gottesdienste besuchen, in denen sie nicht selbst orgeln müssen.

Zurück zur Frage: Was tun wir da also eigentlich, Sonntag für Sonntag, in aller Herrgottsfrühe, für eine Handvoll Besucher und 45,32 Euro? Wir sind unentbehrlich, aber auf unseren Emporen unsichtbar, wir leiten eine Gemeinschaft zum Singen an und sind dabei ja doch ziemlich allein, wir gehören selbstverständlich dazu und irgendwie auch nicht. Wer heute als junger Mensch mit Kirche zu tun hat, gilt zudem schnell als etwas seltsam. In der Organistencommunity auf Youtube sprechen Schüler und Studierende sogar davon, deshalb von den Klassenkameraden gemobbt zu werden.

Die allermeisten Organisten, mit denen ich in meinem Leben Kontakt hatte, sind gläubig, das heißt, sie tun das, was sie da tun, auch aus ganz privat-intrinsischen Gründen. Dann gibt es welche, die finden Kirche zwar in Ordnung, wenn auch ohne religiös zu sein, aber sie lieben das Instrument und das nächtliche Üben in der dunklen Kirche. Ein paar weitere – laut des Reports Kirche und Musik der Landeskirche Hannover von 2016 sind es etwa 30 Prozent der darin Befragten – sind von dem Job finanziell abhängig. Für alle aber ist die frühe Sozialisation in der Kirche durch die Familie wichtig – bei vielen sind die Eltern dort irgendwie selbst musikalisch tätig oder mal tätig gewesen. Dabei ist allen klar: Wir bewegen uns mit dem, was wir da tun, definitiv in einer Blase. Das merkt man an Weihnachten, wenn die Kirche plötzlich so voll ist, dass die Plätze nicht reichen, man aber trotzdem kaum jemanden singen hört. Die Mehrheit der Menschen kennt einfach die Lieder nicht, die uns als Ohrwürmer selbstverständlich durch den Alltag begleiten.

Strophe 4: Eine Millionen Gottesdienste?

Die Kirche verliert stetig Mitglieder, und so wurden vor einigen Jahren Mittel reduziert, heute werden hier und da Gemeinden zusammengelegt und in der Folge Gottesdienste gestrichen. Nicht en masse, aber es passiert, peu à peu. Ein Bekannter, der während seines Studiums bis zu sechs katholische Messen am Wochenende spielte, sitzt mittlerweile nur noch etwa vier Mal im Monat am Instrument. Bei 3.340 in Deutschland existierenden hauptamtlichen Stellen für A- (Masterabschluss) und B-Kirchenmusiker (Bachelorabschluss), wie man sie sich aus Statistiken des Musikinformationszentrums (MiZ) zusammenrechnen kann, gibt es rund 560 Studienplätze, was erst einmal gar nicht so schlecht klingt. Die verteilen sich jedoch auf sechs Jahrgänge, von denen wiederum nur etwa 65 bis 70 Prozent das Studium abschließen, und davon will auch längst nicht jede später auf einer unbefristeten Stelle als Kirchenmusiker*in arbeiten, wie eine Umfrage der Ämter und Referate für Kirchenmusik (AGÄR) der katholischen Kirche ergeben hat.

Die Berufschancen für die Absolventen sind im Moment definitiv gut, zumal eine Verrentungswelle bevorsteht, wie einige der für diese Recherche kontaktierten katholischen Bistümer und auch die evangelische Direktorenkonferenz Kirchenmusik anmerken. Letztere rechnet für die nächsten 15 Jahre mit rund 60 Verrentungen pro Jahr. Nebenbei sieht es bei den derzeit tätigen nebenamtlichen Kirchenmusiker*innen auch nicht besser aus – manche spielen zwar bis weit über das Renteneintrittsalter hinaus, doch das liegt bei vielen auch nicht in allzu weiter Ferne.

Die festen Stellen, die schon heute, vor allem im ländlichen Raum, aufgrund der wenigen Bewerber oft schwer zu besetzen sind, decken zudem nur einen minimalen Teil des Bedarfs der fast 25.000 evangelischen Gemeinden und katholischen Pfarreien mit ihren rund 46.000 Kirchen in Deutschland ab. Allein die evangelische Kirche feiert pro Jahr eine Million Gottesdienste, Zusatzvespern und -Metten wie an Heiligabend kommen noch hinzu – 2018 waren es 37.743 Gottesdienste an Weihnachten, außerdem weitere Jahresabschlussgottesdienste, Schulgottesdienste, Advents- und Passionsgottesdienste und so weiter. Damit ist man schnell bei einer Zahl rund um die 1,1 Millionen nur in der evangelischen Kirche, pro Jahr. Davon übernehme ich, wenn ich in meiner einen Kirche alles spiele, was anfällt, rund 70. Organisten, kann man daraus relativ leicht schließen, gibt es also viel zu wenige, vor allem solche, die den Beruf dauerhaft ausführen wollen.

»Ich sehe die Zukunft des Berufs etwas kritisch«, sagt Robert Burckhardt, 29, einer meiner katholischen Kollegen. Er spiele zwar gern und liebe es, »wenn die Leute Lust haben zu singen und bei den Klassikern regelrecht mitgrölen«, doch er habe das Gefühl, dass der Beruf des Organisten aus der Zeit falle. »Ich kenne immer mehr Organisten, die nicht mehr für Vertretungen gefragt werden«, sagt er. Das liege nicht allein an der Zusammenlegung der Kirchen und der Reduzierung von Gottesdiensten – vielmehr gibt es im Umkreis seiner Gemeinde immer mehr Bands und Musikgruppen, die die Feiern mit, wie es heißt, »modernerer« Musik gestalteten. In seiner Kirche passiert das seit einiger Zeit einmal im Monat. »Manche der Besucher hassen es, wenn die Band spielt«, sagt er und lacht. Andere dagegen würden sich im Gegenteil darüber freuen. Übrigens ist einer der Sonntage, an dem ich diesen Text schreibe, aus dem gleichen Grund orgelfrei für mich – weil auch in meiner Kirche eine Band spielt. Das ist nun natürlich der persönliche Eindruck junger Organistinnen im urbanen Raum – da stehen sie wirklich manchmal eher Schlange, als dass sich um sie gerissen wird, das nimmt der Präsident der Direktorenkonferenz Kirchenmusik, Kord Michaelis, nach Aussage am Telefon ebenfalls wahr. Der Popmusiktrend sei »kein Megatrend«, aber ja, es gebe ihn, und die Kirche mache sich dementsprechend daran, diesen Bereich durch Ausbildungen und Fortbildungen zu »professionalisieren«.

Strophe 5: Schwungvoll, bitte

Vor vier Jahren formulierte Klaus-J. Rathens im Deutschlandfunk, Kirchenmusiker seien selbst schuld an ihrem »Niedergang«, hätten sie doch »viel zu lange am althergebrachten Repertoire« festgehalten und sich »viel zu selten bemüht moderne und vitalisierende Elemente zu integrieren«. Ob das so stimmt, ist schwer zu sagen. Die Popmusik-Bewegung um die sogenannten »Neuen Geistlichen Lieder« (NGL) gibt es immerhin schon seit den 70er Jahren (Kirchenmusiker haben da auch mitgemacht), der Gossenschlager »Danke für diesen guten Morgen« hat sogar schon 1961 einen Preis gewonnen. Die entsprechenden Akkordsymbol-Workshops gibt es schon lange, und seit ein paar Jahren sogar eine Popmusikakademie für Kirchenmusiker.

Davon abgesehen haben aber vor allem improvisierende Organisten schon immer supermodernes Zeug gespielt, Neue Musik par excellence, sie gingen in der zeitgenössischen Klassik mit dem Puls, prägten ihn in wenigen Fällen gar mit. Manche (vielleicht viele) von ihnen aber verachten leider das beschwingte Tralala der Pop-Kirchenlieder, das manche Gemeindemitglieder besonders schön finden. Stichwort Jukebox: Man spielt im besten Fall nun einmal das, was die Gemeinde gerne mag (sie soll ja singen). Oder, wie mein Organisten-Kollege Kai Kuzina, 30, sagt: »Man kann sich natürlich darüber streiten, ob das jetzt schöne und anspruchsvolle Musik ist, aber wenn Menschen etwas emotionales mit diesen Liedern verbinden und Gott in diesem Kontext eventuell sogar eine Rolle spielt, habe ich absolut gar nichts dagegen, diese Lieder auch in der Messe zu spielen.«  

Aber vielleicht ist das Bild mittlerweile einfach viel zu weit verbreitet: Organisten sind alte Männer, die auf eine altmodische Art vor alten Leuten altmodische Lieder spielen. Darüber kann man jetzt mit den Schultern zucken und noch ein paar laute Register ziehen, um die gemeinen Stimmen zu übertönen. Ich muss aber sagen, dass es mich schon etwas getroffen hat, als während eines meiner Dienste die Pfarrerin ankündigte, nächste Woche spiele die Band, das sei ja »mal was Schwungvolles«, und deswegen sollten alle kommen.

Dabei kann man ja auch schwungvolle Sachen auf der Orgel spielen, dachte ich etwas trotzig, sehr schwungvolle sogar. Nur klingt das Instrument eben auch mit nicht so schwungvollem Repertoire ziemlich großartig, deshalb nimmt das Schwungvolle bei vielen Organisten einen eher kleineren Teil des Gespielten ein, zugunsten von Wände vibrieren lassender französischer Romantik oder, vielleicht, auch mal ein bisschen smoother Improvisation mit Solostimmen im langsamen Tempo. Das alles gilt jetzt hier für den Idealzustand: mittelgroße bis große und vor allem funktionierende Orgeln. Denn um auf einem maroden Instrument mit sechs oder acht spielbaren Registern schwungvolle Dinge zu tun, muss man sehr begabt und motiviert sein. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Strophe 6: Und trotzdem

Zwar glaube ich nicht, dass »die weltliche Popmusik zu einer Entheiligung der Liturgie beigetragen« hat, wie es in einer katholischen »Stellungnahme zur gegenwärtigen Lage der Kirchenmusik« heißt, und dass das entsprechende Handlungen nach sich ziehen muss (eine Gemeinde verbot einem ehemaligen Kommilitonen gar, in der Messe entsprechende Stücke zu spielen). Aber ich glaube auch nicht, dass Popmusik die Rettung der Kirchenmusik oder der Kirche an sich ist. Überhaupt wäre die Annahme größenwahnsinnig, ein musikalischer Genrewechsel könnte das vermögen. Gott ist nicht cool (was hätte er auch davon?) und die Kirche wird es wohl auch nicht mehr werden. Wer beides mag, ist heute ein Nerd, und das ist okay. Gott ist auch ohne Orgel und ohne Kirche Gott. Und Orgel ist auch ohne Gott und Kirche großartig. Nur die Kirche, denke ich, die braucht irgendwie beides, und vor allem Leute, die kommen. So laufe ich müde durch die blaue Stadt und fange langsam an darüber nachzudenken, was ich gleich spielen soll. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.