Entlang der Sieben letzten Worte von Joseph Haydn spricht Juditha Haeberlin, Konzertmeisterin des Ensembles, die ehrenamtlich als Sterbebegleiterin im Hamburger Hospiz arbeitet, mit dem Palliativmediziner und Autor Gian Domenico Borasio über gutes und selbstbestimmtes Sterben – und das entsprechende Leben. Ein Abend über Tabus, Rituale, Ethik und Durst mit Publikum im Resonanzraum auf St. Pauli.
Juditha Haeberlin: Als ich vor zehn Jahren dem Thema Tod begegnete, wusste ich von der Palliativmedizin, dass man irgendwelche Medizin bekommt, damit man schmerzfreier gehen kann. Mehr wusste ich nicht.
Gian Domenico Borasio: Es gibt manchmal Fehlvorstellungen über das Verhältnis von Palliativmedizin und Hospizarbeit. Ursprünglich war ›Hospiz‹ nur die Herberge. Die großartige Gründerin der Hospiz- und Palliativarbeit, Cicely Saunders, hatte die Idee, eine andere Art von Medizin zu machen. Hospiz ist eigentlich keine Arbeit, sondern eine Haltung. Für Cicely Saunders waren Hospiz- und Palliativarbeit dasselbe. Sie war gleichzeitig Sozialarbeiterin, Krankenschwester und Ärztin und nannte sich mit britischem Humor ›A One-Woman-Multiprofessional-Team‹. Inzwischen haben wir Hospiz- und Palliativarbeit seit 52 Jahren in der modernen Medizin. Aber eigentlich ist es nur ein Rückgriff auf etwas ganz Altes, auf das, was man in der Medizin 2000 Jahre gemacht hat, weil man nicht viel anderes machen konnte.

Können Sie das genauer erklären?
Da gibt es diesen schönen Spruch: ›Heilen manchmal, lindern oft, trösten immer.‹ Das ist eine alte Beschreibung des Arztberufes und es sollte auch heute noch eine Beschreibung des Arztberufes sein. Wir können sehr selten heilen, die meisten Menschen sterben an chronischen Krankheiten, die man zwar lindern kann, aber nicht richtig heilen. Lindern kann man sehr viel. Die moderne Palliativmedizin hat riesige Schritte gemacht mit der lindernden Therapie, wo es um die Beschwerden geht, nicht um die Grundkrankheit. Trösten können wir eigentlich immer, wenn wir nicht weglaufen vor dem Tod.
Und heute geht es in der Medizin vor allem ums Heilen?
Die moderne Medizin stand Ende des letzten Jahrhunderts angesichts der enormen technischen Fortschritte und auch der gigantischen Verbesserungen in puncto Lebenserwartung an einem Scheideweg. Integrieren wir in der Medizin auch geisteswissenschaftliche und soziologische Aspekte, sogar theologische Aspekte, um eine ganzheitliche Auffassung des Menschen in seiner letzten Lebensphase zu ermöglichen? Oder verdrängen wir den Tod komplett und tun so, als gäbe es ihn nicht, als sei er unser schlimmster Feind, und jeder Patient, der stirbt, ein Versagen unserer wunderbaren Heilkunst? Ich fürchte Sie wissen alle, welchen Weg die moderne Medizin konsequent bis heute gegangen ist. Mit Ausnahme der Palliativmedizin.
Und natürlich hat die Pharmaindustrie ihre ökonomischen Interessen.
Wir haben heute eine Medizin, in der der Mensch als Kostenfaktor betrachtet wird. Die Gesundheit wird zunehmend als Ware, als Dienstleistung oder Produkt gesehen. Der Gesundheitsmarkt ist der wichtigste Markt der gesamten westlichen Welt. Und am Lebensende wird richtig viel Geld verdient. Ungefähr ein Drittel der Gesamtausgaben eines jeden Menschen für seine Gesundheit findet in den letzten ein bis zwei Lebensjahren statt. Und da geht es um zig Milliarden pro Jahr. Vieles davon ist Geld, was ausgegeben wird um unser aller Sterben möglichst qualvoll zu gestalten. Es geht nur darum, Profite zu maximieren und Therapien oder andere Formen der Behandlung durchzuführen, die dem Menschen nicht weiterhelfen. Gesundheit und eine gute Sterbebegleitung sind ein Menschenrecht, keine Ware, die man auf dem Markt dem Spiel von Angebot und Nachfrage aussetzen darf.
Sie haben mal den wunderschönen Satz gesagt: ›Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht mehr sein.‹ Das kennt jeder, der mal krank war, dass ich mich aufgehoben fühle, wenn jemand zuhört und meine Angst erkennt, in diesen fünf Minuten, die mein Arzt mir geben kann.
Relativ am Anfang meiner Arbeit in der Palliativmedizin wurde ich zur Beratung einer Patientin gerufen. Eine 87-jährige Dame, die Brustkrebs hatte im Endstadium und ich sollte sie mir anschauen, weil sie unruhig war. Ich habe sie untersucht, aber sie hatte keine körperlichen Schmerzen und dann habe ich mich neben sie gesetzt und sie gefragt, ob es irgendetwas gibt, wovor sie Angst hätte. Die alte Dame hat mir ihr ganzes Leben erzählt, inklusive einiger Sachen in ihrer Jugend, die mit der damaligen Moral nicht so ganz konformgingen. Sie hatte fürchterliche Angst, was nach ihrem Tode passieren könnte, aber als sie es erzählte, ist sie von selbst auf die Idee gekommen, dass es vielleicht gar nicht so schlimm war, was sie gemacht hatte und dass es die Barmherzigkeit Gottes gäbe. Ich habe nur zugehört und am Ende war sie viel ruhiger. Und als am Abend der Seelsorger der Station seine Runden drehte, begrüßte sie ihn mit den Worten: ›Sie brauchen heut’ nicht kommen, der Herr Pfarrer war schon da.‹ Die Seelsorger lachen heute noch darüber, aber wenn man ganz kurz darüber nachdenkt, gefriert einem das Lachen ganz schnell. Denn was sagt uns die Geschichte über unser Gesundheitssystem? Die Frau war komplett klar im Kopf, und doch transferierte sie den Arzt, der nicht anderes tat, als ihr eine Zeit lang zuzuhören, unbewusst in ein anderes Berufsfeld, weil dieses Verhalten mit ihren Erfahrungen mit Ärzten nicht im Einklang war. Da ist etwas fundamental falsch. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, in dessen Mittelpunkt wieder der Mensch und das Zuhören stehen.
Diese Musik ist der unschlagbarste Gottesbeweis, den ich kenne.
Welche Rolle spielt Spiritualität für Ihre Arbeit?
Wir haben mal einen Kurs in spiritueller Begleitung organisiert. Alle Teilnehmer gingen davon aus, sie würden lernen, wie sie die spirituellen Bedürfnisse der Patienten besser unterstützen können, sehr altruistische Motivation. Nur, der Kurs war ganz anders: Er war der Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität gewidmet. Das ist der Grund, warum der Kurs so nachhaltig auf die Teilnehmer gewirkt hat, auf ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit bei der Arbeit. Jeder Mensch hat eine ganz eigene Spiritualität, es ist völlig egal was für eine. Und für die Professionellen, die dort teilgenommen haben, ist es unheimlich wichtig, zu reflektieren, zu wissen, wo man steht.
Das zweite gesprochene Wort: ›Wahrlich, ich sage dir: Heut wirst du mit mir im Paradies sein.‹ Ein Mörder und ein Dieb, der eine macht sich über Jesus noch am Kreuz lustig und der andere sagt, ich reiche dir die Hand.
Ich möchte ein Plädoyer für den vermeintlich bösen Räuber halten. Der gute Räuber läutert sich und erkennt den Gerechten. Jesus dreht sich zu ihm mit goldenem Heiligenkranz und spricht mit sanfter Stimme, noch heute werde er mit ihm im Paradies sein. Das ist geradezu unerträglich kitschig und auch grundfalsch, aus rein christlicher Perspektive. Aus palliativmedizinischer Sicht gibt es zwischen den beiden Räubern keinen Unterschied, das ist ganz wichtig. Kein Mensch muss friedlich sterben, kein Mensch muss am Lebensende loslassen, das kann ich gar nicht mehr hören, furchtbar, diese rosa Soße. Das ist nicht die Realität.

Was sagen Sie Menschen, die Sie begleiten, wenn sie am Ende ihres Lebens stehen?
Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es Demut und mich zurückhalten mit meiner Vorstellung, was für diesen oder jenen Menschen ein gutes Sterben sein könnte, denn es kann etwas völlig anderes sein als das, was ich mir vorstelle und ich habe nicht das Recht, moralisch darüber zu urteilen. Es gibt so viele Arten zu sterben, wie es Menschen gibt. Das Ziel der Palliativmedizin, sagt Cicely Saunders, ist es, Raum zu schaffen, indem man Hindernisse wegnimmt, all das, was zwischen diesem Menschen und der maximalen Entwicklung seines menschlichen Potenzials in der ihm noch verbleibenden Lebenszeit steht. Natürlich sind finanzielle Sorgen, Schmerzen, unerledigte Konflikte in der Familie Hindernisse und die können wir versuchen, wegzunehmen. Aber was dann dieser Mensch mit diesem Raum macht, ist seine Entscheidung – auch wenn es auf alles und jeden zu schimpfen ist.
Es gibt ein wunderbares Gedicht von Dylan Thomas, da heißt es:
›Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.‹
Ein wütendes Aufbäumen gegen das Sterben. Dieses Gedicht hat er für seinen sterbenden Vater geschrieben.
Johnny Cashs letztes und bestes Lied mit Abstand. Das Video benutzen wir in unseren Studentenkursen. Wir bereiten die Medizinstudenten vor und schicken sie dann in Familien mit einem sterbenden Familienmitglied. Das spannende ist, dass sie überhaupt keine Aufgabe haben, und da drehen die völlig durch. Ein Student hat uns geschrieben: Das war der sinnvollste Kurs meines gesamten Medizinstudiums.
Wir beschäftigen uns ja viel damit, wie man ein gutes Leben führen kann, besuchen Wohlfühlkurse, Geburtsvorbereitung, Yoga noch und nöcher. Vielleicht wäre es gut, auch Sterbevorbereitungskurse zu besuchen. Wie gehe ich mit meinen Eltern um, was hinterlasse ich? Ich fände das gut.
Ich kann dem Publikum jetzt einen Crashkurs anbieten. Das Prinzip ist eigentlich nicht schwierig. Wir spielen jetzt ein Stück währenddessen jeder ganz intensiv nur über die Frage nachdenkt: Wie möchte ich sterben?
Egal, was Sie gedacht haben in den zwei Minuten, ich hoffe, dass Sie alle eines gespürt haben: Die Antwort auf die Frage, wie möchte ich sterben?, ist gleichbedeutend mit der Antwort auf die Frage, wie sollte ich leben. Ich kann schon sagen, im Großen und Ganzen sterben die Menschen so, wie sie gelebt haben.
Sie haben vorhin an der Bar gesagt, dass Männer und Frauen unterschiedlich sterben.
Tatsächlich ist es ein Klischee, aber auch eine statistische Realität, dass Frauen viel beziehungsbewusster leben und daher auch beziehungsbewusster sterben. Sie sterben in der Regel besser, weil sie besser gelebt haben. Sie haben vielmehr darauf geachtet, Beziehungen zu pflegen.

Wer Beziehungen pflegt, ist also am Lebensende glücklicher?
Wir haben eine Untersuchung gemacht über die Wertvorstellung von Menschen am Lebensende. 20.000 Menschen haben einen Fragebogen ausgefüllt und wir haben etwas herausgefunden, das wir überhaupt nicht erwartet haben. Es gab eine Achse zwischen egoistischen Werten – also Macht, Selbstverwirklichung, Hedonismus – und altruistischen Werten – Universalismus, Benevolenz, sich um andere kümmern. Alle Teilnehmer hatten am Lebensende eine Verschiebung vom Egoismus hin zum Altruismus. Und diese Veränderung hatte eine Folge für die Sterbenden: Die Lebensqualität wurde zum Lebensende deutlich erhöht. Mit dieser Studie haben wir – und das hatten wir überhaupt nicht beabsichtigt – eine der zentralen Aussagen des Dalai Lama wissenschaftlich validiert. Denn er sagt seit Jahrzehnten: Der Altruismus ist nichts anderes als eine Form von intelligentem Egoismus.
Ich glaube wir müssen gemeinsam schaffen, über den Tod zu reden, auch mit unseren Kindern.
Gian Domenico Borasio: Ich muss komplett widersprechen. Kein Mensch ist gezwungen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Man darf ihn auch bis an sein Lebensende verdrängen. Es ist nicht vernünftig und man sollte sich den Risiken bewusst sein, aber der Mensch hat das Recht, völlig irrationale und selbstschädigende Dinge zu machen. Meine Hoffnung ist, dass sich die Menschen die Informationen holen, um für sich selbst angemessene, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können, inklusive der Entscheidung, nichts zu entscheiden. ¶