Im vierten Akt von Jean-Philippe Rameaus Oper Hippolyte et Aricie (1. Fassung 1733) unterbricht eine Ode auf die Jagd den Lauf der Tragödie. Diese Musik, ein Rondeau in D-Dur, bringt die Handlung nicht voran und ist doch essentiell. Geigen und tiefe Barock-Oboe führen mit einem teils majestätischen, teils hektischen Motiv, die anderen Bläser füllen die Zwischenräume mit eleganten Arpeggien. Eine Jägerin singt eine einfache Melodie, einen leicht verzierten D-Dur-Akkord, und ruft ihre Gefährten zu den Waffen. Wir befinden uns im Reich der Diana, und obwohl klar ist, dass das Töten eines Tieres ein blutiger und gewaltsamer Akt ist, gibt uns Rameaus Musik das Gefühl, dass es auch etwas Heiliges, ja sogar Keusches an sich hat.
In Hippolyte et Aricie (das Libretto stammt von Simon-Joseph Pellegrin), geht es vordergründig um die Liebeswirren zwischen dem König und Helden Thésée, seiner neuen Frau Phèdre, die sich zu Thésées Sohn Hippolyte hingezogen fühlt, und Aricie, deren Familie Thésée besiegt und vernichtet hat. Die Opernhandlung folgt grob Jean Racines Theaterstück Phèdre (1677), einem rasanten Werk, bei dem Druck und Spannung, die auf den vier Hauptcharakteren und ihren Vertrauten lasten, mehr und mehr zunehmen. Theseus ist ein mutiger (Frauen-)Held, Phèdre, seine königliche Gattin, ist isoliert, fühlt sich einsam und hintergangen. Hippolyte ist stolz und zugleich fasziniert von der frommen Aricie, die auch in der Niederlage ihre Würde nicht verliert. Phèdres Dienerin Œnone erkennt mit Blick auf ihre verzweifelte Herrin, »wie alle ihre Wünsche gegenseitig sich zerstören«. Dasselbe könnte man auch über Racines Charaktere sagen, die alle ihrer eigenen emotionalen Logik nach handeln, bis ein unschuldiges Leben ausgelöscht wird.
Während Racine das Drama unaufhaltsam voranpreschen lässt, wirkt Rameaus Oper eher statisch. Die Handlung ist nicht stringent, vielfach ist die Motivation der zentralen Charaktere nicht nachvollziehbar, gerne werden Wünsche der Götter als Grund für dieses und jenes vorgeschoben. Besonders Phèdre wirkt niederträchtig und in allererster Linie einfach nur horny, und nicht als ein Opfer sowohl der Abweisung und des Vertrauensbruchs, die sie durch ihren Gatten erfahren hat, als auch einer per se misogynen Gesellschaft. »Wozu diese nutzlose Reue?«, fragt sie sich in der Opernversion, während Racine sie in ihrer Ambivalenz, Zerrissenheit und tiefen Qual zeigt. Als Oper funktioniert Rameaus Werk jedoch. Die zahlreichen Auftritte von Nebencharakteren – die Jägerin, ein Seefahrer, die Furien – geben ihm die Möglichkeit, perfekte, kristallene kleine Stücke einzustreuen, die die weiterreichenden Implikationen des Mythos reflektieren. Wir befinden uns schließlich im alten Griechenland, wo Göttliches und Sterbliches sich mischt, wo Zeit anders und weniger linear vergeht.
Diesen Sonntag feierte Aletta Collins´ Inszenierung von Hippolyte et Aricie Premiere an der Berliner Staatsoper, in der der Bildende Künstler Ólafur Elíasson Bühnenbild, Licht und Kostüme gestaltete. Sowohl Fallstricke als auch Potential der Oper hatte man dabei im Blick. Die Welt, die hier erschaffen wird, hat wenig Ähnlichkeit mit der unsrigen. Als sich der Vorhang hebt, wird der Blick frei auf eine Bühne, die von einem sich bewegenden Prisma ausgefüllt ist, in dem sich graues Licht bricht. Im Verlauf des Dramas verändern sich die Farben: Ein Donnerschlag wird gleichzeitig visuell durch die Einführung eines Bronzetons umgesetzt und ein Besuch bei Hades wird vor allem farblich dargestellt. In Yuval Sharons Lohengrin diesen Sommer in Bayreuth fiel ein Bühnenbild, in dem ebenfalls ein Farbschema eine entscheidende Rolle spielte, durch, weil es nur zwei Modi hatte: blau und orange. Elíassons Farbpalette und auch die verwendeten Formen sind vielfältiger und verändern sich langsam, parallel zum Voranschreiten der Handlung. Die Kostüme sind recht abstrakt gehalten und wären auch auf dem Laufsteg einer Modenschau einer Berliner Kunsthochschule gut gekommen. So fühlt man sich der eigenen Zeit, Zeitlichkeit generell enthoben, findet Raum für die eigene Vorstellung, während gleichzeitig der innere Zusammenhang gewahrt bleibt, ohne dass all das wie ein pädagogisches Konzept wirkt. Dieser Eindruck wird selten gestört – »mach keinen dämlichen Quatsch« scheint ein sehr sinnvoller Ansatz für Opernregisseur*innen zu sein.
Zu Beginn des Films Satyricon (1969) von Federico Fellini springt der junge Liebhaber eines römischen Soldaten, nachdem er aus der Versklavung unter einem gewalttätigen Schauspieler befreit wurde, einige Stufen empor und bewegt seine Arme, als würde er die Umrisse eines Quadrats nachzeichnen. Diese Geste ist verblüffend unschuldig. In Hippolyte arbeitet Collins mit ähnlich naiven, aber berührenden Gesten. Das erinnert an eine stärker stilisierte Art des Schauspiels, die wir heute nicht mehr gewohnt sind und hindert die Sänger*innen daran, in typische Opern-Posen zu verfallen. Sie stehen immer wieder wie versteinert da – was als Kritik aufgefasst werden könnte, aber keine ist, weil es zu den Charakteren der Oper passt. In den wenigen Momenten, in denen sich die gewohnten Operngesten auf die Bühne schleichen, geht etwas von der Magie verloren (Magdalena Koženás (Phèdre) Szenen alleine mit Reinoud Van Mechelen (Hippolyte) wirkten so merkwürdig und bedrückend, wie ein Abendessen zu zweit in so einer Familienkonstellation wahrscheinlich eben ist). Aletta Collins stellt all dem eine Gruppe von Tänzer*innen in hautengen Catsuits an die Seite, die der Handlung etwas mehr Sexiness verleihen.
Zuweilen wirkt Collins´ und Elíassons Hippolyte ein bisschen zu stylish, fast steril. Ich vermisse die Hässlichkeit der antiken Welt, den Furz aus Pasolinis Canterbury Tales (1972) oder die Rülpser und die Gewalt in Satyricon. Musikalisch gehört der bewusste Einsatz von Hässlichem zu den Highlights dieser Produktion. Besonders Kožená, Van Mechelen und Gyula Orendt als Thésée stechen hier heraus: mit klar verständlicher Aussprache und ohne Angst, von wunderschönen, reinen Klängen ins Nasale, Heulende, beinahe Schreiende zu wechseln. Eine Appoggiatura, die Kožená perfekt und ohne Vibrato intonierte, ist so voller Zorn, dass mir die Haare zu Berge standen. Das Freiburger Barockorchester spielt unter Simon Rattle genauso hervorragend wie man es von ihm gewohnt ist. Als der Gott Pluton Thésée verflucht, schafft es das Orchester, den begleitenden Es-Dur Akkord in Grundstellung wirklich furchterregend klingen zu lassen. Sie wechseln furios zwischen zartem und rauem Spiel, immer mit nahezu lupenreiner Intonation – es sei denn, diese wird absichtlich verlassen, als kleiner akustischer Biss in den Nacken. Besonders hervorzuheben sind die Perkussionisten Charlie Fischer und Markus Maggiori, deren Tamburinspiel schlichtweg perfekt ist.
Gegen Ende der Oper im fünften Akt schreibt Rameau ein für den Fortgang der Handlung ebenfalls nicht unbedingt notwendiges Zwischenspiel für Musetten, die wie Dudelsäcke klingen, Orchester und Chor – die wohl zärtlichste Jagdmusik, die je komponiert wurde. Die Musetten sind allerdings von etwas tollpatschiger Natur, weswegen das Publikum lacht. Als der Vorhang fällt, erntet Collins sowohl Bravos als auch Buhrufe. Wie Thésée, der von seinem Besuch bei Hades zurückkehrt, nur um zu sehen, wie – so glaubt er zumindest – sein Sohn versucht, seine Gattin zu vergewaltigen, wünsche auch ich mir, ich hätte meine Rückkehr ins echte Leben nach Hippolyte noch länger herauszögern können. Wie Phèdre schon wusste: Jemanden oder etwas mit Hingabe zu lieben, kann sehr einsam machen. ¶