Ein Interview mit Klarinettist, Coach und Mediator Ralf Pegelhoff über das soziale System Orchester.
Für vieles musste das Orchester schon herhalten: Mal war es die Verkörperung eines Hochleistungsteams, mal das Idealbild einer pluralistischen Gesellschaft oder die Organisation der Zukunft, geprägt von kreativem Teamwork und Zuhören. Jenseits dieser Idealisierungen (und Projektionen) gibt es allerdings wenig Literatur darüber, wie das soziale System Orchester tatsächlich funktioniert, was es im Inneren zusammenhält oder auseinanderzieht, wie es sich verändert. Das liegt auch daran, dass Orchester sich ungern von außen in die Karten schauen lassen: Während Unternehmen, Verwaltung oder Vereine sich, mal mehr mal weniger freiwillig, neuen Organisationsmodellen geöffnet, und dabei auch externe Expertise zurate gezogen haben, wirken viele Orchester von außen wie eine Art Black Box. »Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht«, schreibt Bruno Latour in Die Hoffnung der Pandora, »braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.« Wie reibungslos die Orchestermaschine tatsächlich läuft, dazu kann Ralf Pegelhoff Auskunft gegeben. Der Klarinettist war Gründungsmitglied der Jungen Deutschen Philharmonie und des Ensemble Modern und ist seit 1983 Mitglied des Niedersächsischen Staatsorchesters am Staatstheater in Hannover, wo er auch Konfliktberater und Ansprechpartner für Mobbingfragen ist. Parallel arbeitet er seit 2006 als freier Coach, Prozessberater und Mediator.

VAN: Was haben Sie bei Ihrer Arbeit als Mediator und Organisationsberater über das soziale System Orchester gelernt?
Ralf Pegelhoff: Dass es gute Gründe dafür gibt, warum das Thema Kommunikation eine große Baustelle im Orchesteralltag ist. Als Musiker*in lernen wir von unserer ersten Unterrichtsstunde an, Schwächen zu vermeiden und uns nach außen hin stark und unangreifbar zu machen. Kommunikation über mögliche eigene Schwächen würde aber genau diesen Schutzwall aufbrechen. Dahinter liegt eine Grundangst, die uns von Anfang an begleitet, nämlich ›Ich genüge nicht‹. Das Gefühl kennen natürlich viele Menschen. Aber bei Musiker*innen wird es durch den Betrieb, durch die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, extrem verstärkt. Es äußert sich dann im Berufsleben in einer Art Verweigerungshaltung gegenüber jeglicher Art von Kritik am instrumentalen Können, weil jede Kritik das Gefühl des ›Nicht-Genügens‹ reaktiviert. Es ist also in gewisser Weise klug, Kommunikation zu verweigern, um dem aus dem Weg zu gehen. Wie sieht aber eine Entwicklung für ein Ensemble aus, wenn man sich gar nicht über die gemeinsame Leistung austauschen kann?
Wenn diese Grundangst schon während der Ausbildung anfängt, müsste man nicht auch dort schon ansetzen?
Genau. Ich gebe jetzt zum Beispiel an der Musikhochschule Detmold eine Schulung für Dirigent*innen zum Umgang mit Konflikten im Orchester. Insgesamt wird das Thema Teamentwicklung in der Klassikwelt viel zu stiefmütterlich behandelt. Wie gehen wir miteinander um, wie gehen wir mit Konflikten um? Wenn ich als Mediator zu einem Orchester komme, bestehen die Konflikte oft schon über zehn, fünfzehn Jahre und beeinträchtigen irgendwann die Spielfähigkeit einer Instrumentengruppe. Themen wie konstruktives Feedback oder ›wie funktioniert eine Gruppe?‹ müssten daher eigentlich schon in der Ausbildung thematisiert werden.
Stattdessen steht dort das solistische Können oft im Vordergrund, das eine ganz andere mentale Landkarte erfordert als das Spiel im Orchester.
Das ist genau richtig. So verfällt man dem ›Wahn‹ – ich selber bin das während meiner Ausbildung auch –, dass man im Orchester eine Fortsetzung der wertschätzenden und unterstützenden Betreuung für die eigene Entwicklung, die man aus dem Studium gewohnt ist, erfährt. Wenn man dann aber im Orchester ankommt, muss man liefern. Ich war dankbar für den Tipp meines Professors: ›Vergiss alles, was ich gesagt habe, und orientier dich an dem, was jetzt auf dich zukommt.‹ Es gibt natürlich Kolleg*innen, die mit einer hohen Persönlichkeitskompetenz ausgestattet sind und das gut hinkriegen. Aber es gibt auch solche, die glauben, es gehe so weiter wie vorher. Wenn sie dann über 20 Jahre am 3. Pult einer Streichergruppe arbeiten, kann das sehr frustrierend sein, weil es keine Weiterentwicklung gibt. Persönliche Entwicklung als Orchestermusiker*in findet statt, wenn man sich weiter bewirbt, eine Hochschulkarriere macht, sich in Kammerensembles engagiert. Das kann positiv auf die eigene Orchesterleistung zurückwirken. Es kann aber auch passieren, dass man seine emotionale Kraft für die ›Nebentätigkeiten‹ verwendet, und nicht für das eigene Orchester.
Wie kann die emotionale Kraft im Orchester denn geweckt werden?
Einerseits natürlich durch gute Dirigent*innen, andererseits spielen auch Mitbestimmungsmodelle eine wichtige Rolle. Ich komme aus der Jungen Deutschen Philharmonie und dem Ensemble Modern, wo wir viel darüber nachgedacht haben. Wenn man keine Mitsprache hat, spielt man das, was auf den Tisch kommt, und verliert den Blick für das große Ganze. Ich finde es wichtig, dass große Häuser ihre Mitarbeiter*innen über alles, was im Haus stattfindet, transparent informieren und dazu einladen, Verbesserungsvorschläge einzubringen.
Aber besteht überhaupt der Wunsch nach mehr Mitbestimmung?
Es gibt zwei entgegengesetzte Strömungen: Einerseits möchte man über alles Bescheid wissen, andererseits aber keine Verantwortung übernehmen. Das passt nicht zusammen. Wenn man flache Hierarchien fordert und informiert sein will, muss man auch den Teil der Verantwortung tragen, den das mit sich bringt. Dazu sind viele Orchesterkolleg*innen nicht bereit. Auch in der jungen Generation gibt es da eine Tendenz zur Depolitisierung. Man will eine Orchesterstelle, weil sie unkündbar ist und man sich um nichts kümmern muss, sieht aber zunächst nicht, dass es darüber hinaus viele betriebliche Regelungen gibt, in die man sich einbringen und die man verändern kann. So besteht die Gefahr, dass der Elan verschwindet. Unter einer guten Leitung kommt er zeitweise wieder hoch. Aber im Alltagsbetrieb wird dieser nicht genügend gefördert.
Welche Möglichkeiten gibt es denn, diesen Elan zu fördern? Mitbestimmung bei der Programmgestaltung, bei der Dirigent*innenwahl … reicht das? Wird die überhaupt eingefordert?
Wir fordern sie ein, wir haben sie auch. Es ist trotzdem interessant, dass sich Musiker*innen, wenn die Intendanz ihre Meinung zur Wahl der Dirigentin oder des Dirigenten äußert, schnell nicht gehört fühlen. Natürlich sind wir auch nur ein Teil vom gesamten Ensemble. Die Sänger*innen, der Chor, die Intendanz haben ja auch ein Wort mitzureden. Wenn unsere Wunschkandidatin dann nicht genommen wird, aus Gründen, die wir nicht nachvollziehen können, weil es mit anderen Abteilungen zu tun hat, entsteht ganz schnell ein Frust nach dem Motto: ›Die machen da oben ja eh was sie wollen.‹ Dieses Lagerdenken verhindert letztlich, die eigene Position zu sehen und sich gleichzeitig in andere hineinzuversetzen. Es ist meiner Ansicht nach Aufgabe einer Führung, daran zu arbeiten, dass Musiker*innen sich gehört fühlen und sich einbringen. Das passiert zu wenig.
Ich habe den Eindruck, viele mittelständische Unternehmen mit 50 Mitarbeiter*innen machen sich mehr Gedanken um das Thema Führung als große Theater und Orchester mit mehreren hundert. Woran liegt das?
Das Thema Führung ist am Theater ein kompliziertes, weil die meisten davon tatsächlich noch nie etwas gehört haben. Gerade bei Intendant*innen gibt es da einen großen Nachholbedarf. Die haben nach wie vor alle Macht der Welt, treten oft wie Fürst*innen auf, ohne sich irgendeinem Regulativ unterwerfen zu müssen. Es geht lediglich darum, durch gute Inszenierungen Publikum zu binden, sich selbst zu profilieren und das Renommee des Theaters zu stärken. Darauf, wie das Haus insgesamt funktioniert, wird wenig geachtet. Auch die Politik hat kein Interesse an der Entwicklung von Theatern hin zu modernen Unternehmen. Sie ist vielmehr daran interessiert, dass die Auslastung stimmt und das Renommee des Theaters und der Stadt gemehrt wird. Da fehlt das Bewusstsein, dass auch Kultur nicht im luftleeren Raum entsteht, und autoritäre Regisseur*innen, die auf der Bühne rumschreien, nicht mehr geduldet werden können. Viele Theater haben mittlerweile Betriebsvereinbarungen – bei uns heißt die ›Betriebsvereinbarung zum Partnerschaftlichen Verhalten am Arbeitsplatz‹ – in denen auch Gastregisseur*innen klargemacht wird, welche Grenzen im Umgang miteinander eingehalten werden müssen. Und dass Mitarbeiter*innen alles Recht der Welt haben, sich gegenüber Gastregisseur*innen entsprechend durchzusetzen. Das ist eine gute Entwicklung.
Trotzdem hält sich hartnäckig das Vorurteil, ein großes Theater dürfe auf keinen Fall wie ein Unternehmen geführt werden.
Ich halte das für einen ausgemachten Kropf, weil sich Intendant*innen damit genau den Puffer zulegen, der verhindert, dass irgendjemand etwas kontrollieren kann. Das entspricht dem narzisstischen Weltbild vieler Intendant*innen. Ich warne davor, dass das so weitergeht. Denn das macht die Theater von innen kaputt.
Sie haben von Grenzen gesprochen, die es in der Arbeit und im Umgang miteinander einzuhalten gilt. Dazu gehört, dass man sich untereinander solidarisiert, wenn diese überschritten werden. Wie ist es denn um Solidarität im Orchester bestellt?
Solidarität war vor 30, 40 Jahren wichtiger, heute geht es eher darum, wie ich am besten durchkomme. Ich glaube, es ist auch eine gesellschaftliche Entwicklung. Ich habe bei Aushilfen in anderen Orchestern mitbekommen, wie Kolleg*innen von Dirigenten regelrecht vorgeführt wurden. Ich habe mich gefragt, warum da kein Vorstand etwas sagt. Es gibt leider eine Tendenz den Kopf zu senken und zu denken ›Hoffentlich bin ich nicht der nächste‹.
Der Mut sich zu wehren entsteht dann, wenn man das Gefühl hat, dass andere einem nicht in den Rücken fallen. Leider ist es immer wieder der Fall, dass gerade Orchesterkolleg*innen dieses tun und sich so bei höhergestellten Persönlichkeiten ›einschleimen‹, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. Ein anderer Grund ist, dass man sich vielleicht gar nicht solidarisch zeigen will, weil es zu anstrengend ist. Wenn man es ins Orchester geschafft hat, ist man der eine von 100, der durchgekommen ist und dabei viel einstecken musste. Sich dann zu exponieren und Solidarität zu zeigen, das überfordert.
Glauben Sie eigentlich, der öffentliche Dienst ist eher Fluch oder Segen?
Ich glaube schon, dass er in erster Linie ein Segen ist, weil man die Chance hat, auf einem relativ sicheren Fundament sein Leben einzurichten. Was meiner Ansicht nach fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass man da in einem Bett liegt, das nicht selbstverständlich existiert, und das nur dann weiter ein Bett bleibt, wenn man gemeinsam daran arbeitet. Die Anspruchshaltung, ›ich bin jetzt hier, und das bleibt so bis zur Verrentung, ohne dass ich etwas dafür tun muss‹, ist katastrophal. Es dreht sich dann oft nur noch um das Thema Geld. Dies ist ja auch das wichtigste Thema der Gewerkschaften. Mich frustriert manchmal, dass es bei den Verhandlungen zu wenig darum geht, generelle Veränderungsprozesse anzustoßen.
Ich habe das Gefühl, gerade Gewerkschaften haben Angst, über strukturelle Themen zu sprechen, um bloß keine Kürzungsdebatte zu befeuern.
Genau, das ist ein Totschlagargument, das auch so benutzt wird. ›Ihr kriegt genug Geld vom Staat, jetzt seid mal schön dankbar dafür, und von euren internen Problemen wollen wir nichts wissen.‹ Die gesellschaftlichen Veränderungen sind aber so fundamental, dass wir uns alle diesen stellen müssen. Wenn wir das nicht tun, werden wir verändert, und es werden nur ein paar Spitzenorchester überleben. Wir haben nur eine Chance, wenn wir uns von innen heraus selbstbewusst aufstellen. Das wünsche ich mir für viele Orchester. ¶