»Die Welt zu Gast in Hamburg«, schwärmt die Elbphilharmonie auf ihrer Website und meint damit eigentlich: Die G20-Staatsoberhäupter zu Gast bei einem Elphi-exklusiv-Konzert – Beethovens Neunte mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und Kent Nagano. Nicht nur mir stellt sich da die Frage: Dürfen sich klassische Musikerinnen und Musiker dafür hergeben? Sollten sie sich weigern zu spielen? Den Auftritt mit einem eigenen politischen Statement verbinden? Oder dürfen sie es sich mit der Hoffnung bequem machen, dass Beethovens Neunte schon für sich selbst sprechen wird – »Alle Menschen werden Brüder«? Sagt sie in diesem Kontext nicht viel eher: »Unsere deutsche Architektur, unsere deutschen Spitzenmusiker*innen, unser Beethoven. Germany, it’s just great«? Und ist dazu trotz Text so deutungsoffene Konsensklassik, dass sich selbst üble Autokraten, von denen ja einige anwesend sein werden, dazu gemütlich in den Elphi-Sessel fläzen können? Wie viel politische Haltung verträgt und braucht der Klassikbetrieb?Das Laienensemble Lebenslaute dreht den Spieß um und fragt: Wie viel klassische Musik braucht politische Aktion?
»Wie nun ihr Herren / seyd ihr stum / Das ihr kein Recht kunt sprechen :/: Was gleich und grad / das macht ihr krum / helfft niemand zu seim Rechten«
Im strömenden Regen steht das Lebenslaute Ensemble im August 2015 mit 80 Musiker*innen im Braunkohletagebau Hambach und singt aus Heinrich Schütz’ Op. 5 den 58. Psalm. Vier Stunden lang haben Chor und Orchester vorher gespielt: Wolfs Feuerreiter, Teile aus Beethovens Sechster und Medeks Rheinischer Sinfonie, Schostakowitschs Walzer Nr. 2, Weills Hosiannah Rockefeller … Zwei riesige Braunkohlebagger und das Hauptförderband des Tagebaus stehen solange still. Ein mehrstündiges Katz-und-Maus-Spiel (inklusive einer Kletterpartie einen fast senkrechten, drei Meter tiefen Abhang im Tagebau hinab) mit der Polizei hat das Ensemble da schon hinter sich. Die Aktion war, wie alle großen Lebenslaute-Konzerte, öffentlich angekündigt, damit Presse und Publikum dazukommen können. Jetzt wird es dunkel, es regnet immer stärker und die Helfer*innengruppe mit den schützenden Pavillons lässt die Polizei nicht durch. Instrumente, Notenständer, Noten und Sitzgelegenheiten werden eingepackt. Noch eine halbe Stunde wird gesungen, mit Regenjacken über der Konzertgarderobe, dicht aneinandergedrängt im Scheinwerferlicht der Polizei- und Wachschutzfahrzeuge – ein ziemlicher Rummel, der trotzdem merkwürdig verloren wirkt in der Tagebau-Mondlandschaft. Dann ziehen die Lebenslaute-Aktivist*innen sich zurück.
»Wir sind kein Ensemble, das bei irgendwelchen Demos spielt, so nebenbei. Wenn wir spielen, ist es immer eine Blockade, eine Besetzung, irgendwie eine Form von Intervention«, erklärt ein Sänger. In den letzten Jahren spielten Chor und Orchester unter anderem bei Blockaden an den Eingängen der Befehlszentrale der US-Army in Stuttgart, vor dem Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt, im Atommülllager in Gorleben und am Werkstor von Heckler & Koch.

Alter, Berufe, Hintergründe, musikalisches Niveau – im Lebenslaute Chor und Orchester ist durch die Bank so ziemlich alles vertreten. Hier spielen Akademiker*innen, Handwerker*innen, Azubis, Rentner*innen, Student*innen, einige wenige Profimusiker*innen … Rechnet man Helferinnen und Helfern mit ein, tun sich jedes Jahr etwa 100 Aktivist*innen zu den großen Sommeraktionen zusammen. Ein ziemlich bunter Haufen, der sich beim Proben aber wenig von anderen Laienensembles unterscheidet (vielleicht sieht man etwas mehr wuschelige Frisuren und nackte Füße als üblich). Ein weiterer Unterschied: Zwischen den Proben gibt es immer wieder Aktionstrainigseinheiten. Rollenspiele, Übungen zur schnellen basisdemokratischen Entscheidungsfindung, Rechtsberatung, Diskussionen über den Ablauf der Aktion.

»Die Verneinung alles selbstverständlich zu Verneinenden (Krieg, Gewalt, Faschismus) wirkt rasch wohlfeil. Und betulich. Und nervt«, regt sich Christine Lemke-Matwey in einem Zeit-Artikel über (die wenigen) in Bezug auf politische Themen mitteilungs-, beziehungsweise twitterfreudigen klassischen Musiker*innen auf. Zumindest den Vorwurf der Betulichkeit muss sich Lebenslaute nicht gefallen lassen. Hier werden zwar viele der großen linken Themen wie Flucht, Drohnenkrieg, Waffenexporte oder Atom- und Kohlestrom angegangen, wer ein Lebenslaute-Konzert spielt, bricht aber immer auch geltendes Recht und riskiert zum Beispiel eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.
Klassische Konzerte als Akt des zivilen Ungehorsams. Zu welchen Anlässen, erklärt der Leiter und Solist des Lebenslaute Chors: »Ziviler Ungehorsam wird dann wichtig, wenn die Regierung Dinge gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung durchsetzt oder auch gegen das eigene Gewissen und man mit anderen Mitteln nicht dagegen vorgehen kann.« Angefangen hat alles 1986 mit einer sechsstündigen Konzertblockade der Zufahrtswege zu einem amerikanischen Raketen-Depot im schwäbischen Mutlangen, organisiert von einem Kontrabassisten, einem Landwirtschafts-Azubi und einem Theologiestudenten. 120 Musiker*innen spielten unter anderem Beethovens Egmont-Ouvertüre und Schuberts Unvollendete.
Und warum gerade mit klassischer Musik auf die Barrikaden? »Rockmusik zum Beispiel peitscht mehr auf, klassische Musik wirkt friedlicher. Das liegt vielleicht auch an der historischen Distanz«, so erklärt es sich der Chorleiter. Ein ziemlich pragmatischer Einsatz der Kunst – aber ein wirkungsvoller, wenn es einem um gewaltfreien Widerstand geht. »Wenn wir konzentriert ein Konzert spielen, wirkt das auch auf die Polizei sehr friedlich, deswegen gibt es da keine Eskalation. Bei der Räumung bei der Aktion in Stuttgart (der Blockade eines Militärstützpunktes der US-Streitkräfte, Anm. d. Red.) hat ein Polizist mich gefragt, ob ich selbst gehen oder weggetragen werden möchte. Da habe ich gesagt: ›Ich gehe hier nicht freiwillig weg‹ und dann wurde ich eben getragen.« Ein dritter Sänger berichtet nachher, dass einige Polizist*innen sogar überrascht waren, wie »schön« die Musik war.
Klassische Musik zu hören oder zu spielen macht einen nicht zu einem besseren, einsichtigeren oder moralischeren Menschen. Sie ist in all ihren Traditionen, Symbolen und Verhaltensmustern aber so stark gekoppelt an Konnotationen wie Hochkultur, Sittsamkeit, Kontrolliertheit, Schöngeistigkeit, dass diese sehr viel stärker wiegen als das Bild der »linken Chaoten«. So werden trotz des zivilen Ungehorsams Feindbilder aufgebrochen zwischen Polizei oder Wachschutz und Blockierenden – sogar, wenn das Orchester wie im Fall der Tagebaubesetzung in Hambach mit lokalen Waldbesetzer*innen zusammenarbeitet, die von Polizei und Wachschutz auch schon als »Öko-Terroristen« bezeichnet wurden.

Dazu kommt noch, dass die Polizist*innen offensichtlich Respekt davor haben, die Instrumente zu beschädigen. Ein ganzes Sinfonieorchester lässt sich nicht so leicht räumen. (Dass einige Musiker*innen für die Lebenslaute-Konzerte ein zweites, nicht ganz so teures, liebevoll »Aktions-Geige« oder »Kampf-Cello« genanntes Instrument im Schrank haben, weiß die Polizei ja nicht).
Ein großes Lebenslaute-G20-Konzert ist nicht geplant. Aber einige Ensemblemitglieder wollen nach Hamburg fahren. Es ist also nicht ganz unwahrscheinlich, dass Schütz’ Wie nun ihr Herren auch am G20-Wochenende in einer Kammerchorversion rund um die Elbphilharmonie zu hören sein wird. Und was hält der Lebenslaute Chorleiter vom G20-Exklusiv-Konzert in der Elbphilharmonie? »Ach ja, es ist wie immer: ›Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing.‹ Aber: Die kriegen den Beethoven nicht kaputt.« Hoffentlich. ¶