Denkt man ans Cembalo, denkt man automatisch auch an die Exzentrik und Experimentierfreude der historischen Aufführungspraxis. Keine Barock-Einspielung kommt mehr ohne ein erstklassiges Instrument aus. Und doch wirkt das Cembalo fast komisch beschränkt: Egal, wie sanft oder heftig man auf eine Taste haut – der Ton klingt immer gleich laut. Wie kann man auf einem Cembalo expressiv spielen? Was ist in seinem Klang, das die Menschen anzieht? Hörte Bach seine Musik beim Schreiben innerlich auf einem Cembalo gespielt, einem eigentlich »unmusikalischen« Instrument? Um das herauszufinden, habe ich Pierre Hantaï, Cembalist und einer der führenden Bach-Interpreten, angerufen.

VAN: Wie variiert man Dynamik auf dem Cembalo?
Pierre Hantaï: Jeder Cembalist kennt andere Geheimnisse, um das zu erreichen. Zum Beispiel wirkt sich die Dauer eines Tons oft auf die Dynamik aus.
Wie?
Cembalisten spielen nicht einfach einen Ton nach dem anderen, wie ein Pianist das vielleicht auf einem Steinway machen würde. Man kann bestimmte Töne länger halten, dann hat man mehr Resonanz. Man kann Harmonien schaffen, Dissonanzen, Auflösungen und sogar physikalisch gesehen mehr Klang, wenn fünf Töne klingen statt einer. Im Umkehrschluss können kürzere Noten sanfter klingen, sie haben weniger Zeit, um im Instrument zu resonieren. Durch den Prozess des Experimentierens mit unterschiedlichen Tonlängen bei mehreren gleichzeitig klingenden Stimmen kommt man irgendwann zu ›lauteren‹ und ›leiseren‹ Klängen. Als Cembalist bin ich es gewohnt, den Eindruck von dynamischem Spiel zu erzeugen.
Sind die Dynamikunterschiede wirklich hörbar für das Publikum?
Ich glaube ja. Immer, wenn ich im Studio bin und mir im Regieraum anhöre, was ich gerade eingespielt habe, schaue ich auch auf den Computer-Monitor. Wenn man die Ausschläge anguckt, kann man die lauten und leisen Stellen und die Dynamik sehen.
Sicher, aber sehen und hören ist ja nicht dasselbe.
Man muss vielleicht auch daran glauben. Obwohl die Lautstärkeunterschiede beim Cembalo relativ klein sind im Vergleich zu einem Klavier, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Man muss daran glauben, dass es sie gibt und immer weiter nach ihnen suchen.
In großen Teilen des Cembalo-Repertoires gibt es keine Hinweise zu Dynamik und Ausdruck. Ist das ein Indiz dafür, dass das Cembalo weniger musikalisch oder expressiv ist als zum Beispiel eine Geige?
Nein. Ich bin davon überzeugt, dass Bach und seine Zeitgenossen Dynamik gehört haben. Wenn das Cembalo kein ausdrucksstarkes Instrument gewesen wäre, warum hätten sich dann so viele gute Komponisten die Mühe gemacht, so viel gute Musik für dieses Instrument zu schreiben? Warum gäbe es dann noch immer Cembalisten, die noch immer spielen, üben und aufnehmen?
In früheren Interviews haben Sie gesagt, dass es nicht der Klang des Instruments war, der Sie angezogen hat.
Ich gebe zu, dass ich es erst lernen musste, das Instrument zu lieben. Meine erste Liebe war Bach, vor allem Aufnahmen der großen Konzertpianisten des 20. Jahrhunderts, wie Glenn Gould.
Woher dann der Wandel?
Als ich zum ersten Mal Gustav Leonhardts Einspielung der Englischen Suiten hörte, hatte ich das Gefühl, dass man Bach selbst so näher kommen könnte. Irgendwie schien seine Verbindung zur Musik stärker.
Von Leonhardt wird oft gesagt, dass er die Grenzen der Cembalo-Welt neu gesteckt hat, sowohl mit Blick auf die Popularität als auch auf die Möglichkeiten des Instruments. Was ist Ihnen von seinem Ansatz in Erinnerung geblieben?
Leonhardt war wirklich der erste, der sich am Cembalo mit dem Iktus und dem Ausklingen beschäftigt hat. Wie kann man auf den nächsten Ton warten? Wie lange soll man warten? Sein Ansatz war auf jeden Fall sehr kleinteilig, aber auch eine Gegenreaktion zum Klavierspiel des 20. Jahrhunderts.
War er manchmal dogmatisch?
Absolut nicht. Leonhardt war sehr froh darüber, dass all seine Studenten unterschiedlich gespielt haben. Er sagte, sein Ausgangspunkt sei, dass er sehr wenig weiß über das, was auf einem Instrument erreicht werden kann. In seinen Unterrichtsstunden hat er immer versucht, nicht nur weiterzugeben, was er wusste, sondern sich auch von neuen Ideen überzeugen zu lassen. Sein Unterricht war nie dogmatisch oder festgefahren. Er hätte seine Zeit nie vergeudet, um jeden einzelnen Ton mit Artikulationshinweisen zu versehen. Tatsächlich erinnere ich mich, wie er mir irgendwann in den 1990ern sagte, dass er das Gefühl habe, dass sich viele Cembalisten zu sehr in Artikulations-Details verlieren.
Stimmt das heute noch?
Vielleicht. Aber ich finde es auch gut, dass Leute neue Sachen ausprobieren und anders spielen als andere. Wir alle haben unsere eigene Art, uns auszudrücken. Wenn ich etwas vom Unterricht mit Leonhardt mitgenommen habe, dann, dass das Cembalo letzten Endes ein sprechendes Instrument ist. Klarheit und Schönheit, das ist, wonach wir streben.
Sollte es zumindest einen gemeinsamen Ausgangspunkt geben, von dem alle Cembalisten starte, wie zum Beispiel Rameaus Ausführungen über Technik?
Quellen wie Rameau sind sicher nützlich, aber wenn man sie liest, merkt man, dass sie wirklich nur die Grundlagen behandeln. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ohne die harte Technikschule geht es nicht. Es gibt auch heute noch Cembalisten, die die Arme zu sehr bewegen oder die zugrundeliegende Mechanik nicht verstehen – die könnten die Rameau-Lektüre wirklich gebrauchen! Aber Technik-Unterricht ist keine künstlerische Ausbildung. Im 20. Jahrhundert haben Cembalisten – allen voran Leonhardt – es geschafft, Feinheiten und Dynamik zu erschaffen, indem sie mit den technischen Grundlagen der historischen Quellen experimentiert haben.
Das Cembalo verlangt einen relativ autodidaktischen Zugang. War in Ihrer Ausbildung klar vorgegeben, wie Sie an das Instrument herangehen sollen?
Ich hatte in gewisser Weise das Glück, dass ich frei war von institutionellen Zwängen oder Einflüssen. Meine Brüder und ich haben im Rahmen unserer musikalischen Ausbildung nie ein Konservatorium besucht.
Überhaupt nicht?
Nein. Mein Bruder Marc lernte Barock-Flöte und Jérôme Gambe, aber wir waren sehr jung, als wir angefangen haben – ich war neun. In den 1970ern gab es nicht viele Kinder oder Teenager, die sich für Alte Musik interessiert hätten. Und die historische Aufführungspraxis war damals auch noch nicht wirklich in den Akademien angekommen.
Wie sind Sie dann an Aufführungsroutine gekommen?
Ich habe mit meinen Brüdern gespielt! Als Kinder organisierten wir Konzerte und probten zuhause. Das hat uns niemand verboten.
Hat sich Ihr Zugang zum Instrument geändert über den langen Zeitraum, den Sie es schon spielen?
Ich atme jetzt mehr am Instrument. Jedes Mal, wenn ich zu den Goldberg-Variationen zurückkehre, habe ich das Gefühl, dass ich ihnen mehr Platz zum Sprechen gebe.
Sie haben die Goldberg-Variationen zwei Mal aufgenommen. Warum hat eine Einspielung nicht gereicht?
Neben Bachs Kunst der Fuge sind die Goldberg-Variationen das schönste und wichtigste Werk für Tasteninstrumente. Ich habe sie als Teenager gelernt und spiele sie seit mittlerweile fast 40 Jahren. Aber seit der ersten Aufnahme vor 25 Jahren bin ich ein anderer Musiker geworden – ein anderer Mensch.
Was genau ändert sich, wenn man so ein Mammut-Projekt ein zweites Mal einspielt?
Man hat zum Beispiel Zugang zu Instrumenten, die man vorher nicht spielen konnte. Falls ich die Goldberg-Variationen noch ein drittes Mal aufnehme, würde ich das gerne mit einem Instrument machen, das lange in Leonhardts Apartment stand, einem Nachbau eines Mietke-Cembalos. Es ist wundervoll. Aber es gibt auch zeitgenössische Instrumente, die restauriert werden und dann noch besser, authentischer klingen. Man muss auf ihnen anders spielen, weil sie viel mehr nach Laute oder Theorbe klingen – sie sind weicher, resonieren mehr. Man muss abwarten, bis sie anfangen zu sprechen, um expressiv zu spielen. Am lautesten sind manchmal Stille und Pausen.¶