Wir trafen den südafrikanischen Komponisten Philip Miller im Vorfeld der Aufführungen des verrückten Stückes – nenn’ es Kammeroper – Refuse the Hour und der Musikanimation Paper Music beim Festival Foreign Affairs in Berlin
Philip Miller sei nicht auf seinem Hotelzimmer, sagt man mir an der Rezeption des Ellington Hotels in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin. Ich will gerade schon wieder gehen, da kommt er doch um die Ecke. Er war noch kurz in den Berliner Festspielen, um technische Probleme für die Aufführungen von Refuse the Hour zu klären. Jetzt setzen wir uns in die Lounge neben die Radiokabine des Jazzradio 106.8, während um uns herum die Vorbereitungen für das Deutschland-Spiel am Abend auf Hochtouren laufen.
VAN: In einem Vortrag vor der südafrikanischen haben Sie darüber gesprochen, wie wichtig es ist, ›das Schweigen zu brechen‹ – als Komponist mithilfe von Klängen, aber auch im gesellschaftlichen Gefüge. Was war der Anlass?
Philip Miller: Es ging damals um mein Stück REwind: A Cantata for Voice, Tape & Testimony. Es ist ein Chorwerk, das mit Aufzeichnungen von Zeugenaussagen arbeitet, die nach dem Ende der Apartheid über einen Zeitraum von fast zehn Jahren vor der TRC gemacht wurden. Als weißer Südafrikaner und jemand, der daran glaubt, dass es Hoffnung in diesem Land gibt – das wir in der Lage sein müssen, nach der Apartheid frei von Rassismus zusammenzuleben – hatte ich den Wunsch, etwas über diesen Prozess auszudrücken. Auch wenn ich selbst nicht direkt in die TRC involviert war, war ich davon tief berührt und wollte als Komponist etwas über die Tatsache aussagen, dass Menschen angefangen haben zu reden. Man darf nicht vergessen, dass es Menschen während der Apartheid nicht nur verboten war zu schreiben, sondern auch zu sprechen. Das Schweigen hatte Methode. Die Menschen haben ihre Wut und Ablehnung dann dadurch ausgedrückt, indem sie zum Beispiel sangen. Viele Proteste verwendeten Lieder, die entweder einen Bezug zur Kirche oder zur Arbeiterbewegung hatten, und deren Botschaft ›Wir wollen nicht länger unter Apartheid leben.‹ war. Ich dachte darüber nach, wie man die Stimmen von Menschen, denen es nie zuvor erlaubt war, offen zu sprechen oder ihre Geschichten zu erzählen, in den Kontext von Musik und Klang stellen kann.
Was ist Ihr musikalischer Hintergrund?
Ich komme nicht aus irgendeiner spezifischen Kompositionsschule. Ich habe ein paar Instrumente gelernt und in England Komposition studiert, aber ansonsten keine spezielle Ausbildung durchlaufen. Anfang der Neunziger habe ich beschlossen, mich vollzeit auf das Musikmachen zu konzentrieren. In mancher Hinsicht war ich frei von diesem starken Druck, den viele Komponisten im Bereich elektronischer oder serieller Musik hatten. Ich war frei von Stockhausen und John Cage. Meistens arbeite ich, ohne eine fertige Idee im Kopf zu haben, das berührt das, was Stockhausen ›intuitive Musik‹ nannte. Ich durchlaufe bei der Arbeit einen Prozess des Experimentierens und Improvisierens. Wenn ich mit einer Gruppe Musiker/innen arbeite, bringe ich eine Reihe von Ideen ein, fast so etwas wie einen musikalischen Plan: Dinge, die die Musiker/innen in einen musikalischen Dialog eintreten lassen. Mich interessiert es sehr, wenn Menschen einander zuhören und mithilfe des Zuhörens aufeinander antworten.
Im Sommer präsentieren Sie ein neues Stück bei den Darmstädter Ferienkursen. Wie ist es, als südafrikanischer Komponist dorthin zu gehen?
Ich bin mir darüber im Klaren, dass Südafrika ziemlich abgeschnitten war. Ab den 1970 und 1980er Jahren gab es wegen der Apartheid einen Kulturboykott, eine Trennung von all dem, was in Europa und Amerika passierte. Die Regierung hatte große Angst davor, was die Menschen von den revolutionären Bewegungen dort lernen könnten. Und natürlich war zeitgenössische Musik sehr revolutionär. Während in den USA gerade Minimalismus angesagt war, mit Leuten wie La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich, dachte man in Südafrika immer noch: ›Oh, wir müssen Serialismus und elektronische Musik machen.‹ Als ich dieses Jahr in Darmstadt war, hat es mich sehr interessiert, wie isoliert Südafrika eigentlich war. Wo waren die afrikanischen Stimmen in Darmstadt, wo die schwarzen Komponist/innen? Was nicht heißt, dass keiner der Komponisten dort sich damit beschäftigt hat. Stockhausen spricht viel über Musik aus anderen Teilen der Erde, Japan, zum Beispiel. 1971 war er auch in Südafrika und hat sich unter anderem mit dem Anti-Apartheid Aktivisten Steve Biko getroffen, einer der Gründer der Black Consciousness Bewegung, der 1978 tragischerweise erschossen wurde. Es ist eine interessante Tatsache, dass diese beiden Revolutionäre sich getroffen haben.
Welche Art von Sounds sind besonders wichtig für Sie?
Ich spreche gerne von einer Klangwelt. Diese Welt umfasst Vogelrufe aus meiner Heimatstadt, es gibt dort einen besonderen Vogel, den man nur dort hören kann; oder Kirchenlieder – die Kirchenchöre in Johannesburg haben ihre Gottesdienste und Proben oft draußen, an einer Straßenecke abgehalten, wo ich wohnte. Diese Klänge beeinflussen mich genauso, wie mich Bach als junger Pianist beeinflusst hat.
Können Sie mir ein bisschen von Ihrer Zusammenarbeit mit dem Künstler William Kentridge erzählen, besonders von den gemeinsamen Stücken, die hier bei den Berliner Festspielen im Rahmen von Foreign Affairs aufgeführt werden?
Das erste ist Paper Music im Martin Gropius Bau, ein Kammermusikstück. Wir arbeiten da mit Zeichnungen und benutzen Animationen, um uns auf den Klang zu beziehen, und andersherum den Klang, um uns auf das Visuelle zu beziehen. Wir arbeiten oft simultan. Er zeichnet etwas – abstrakt oder figürlich – und macht daraus eine kleine animierte Sequenz. Diese sich bewegenden Papiere können ganz verschieden aufgefasst werden, je nachdem welche Musik darüber liegt. Wie in jedem kommerziellen Spielfilm: je nachdem, wie die Klangwelt oder die Musikwelt ist, intepretiert man Szenen ganz unterschiedlich.

Oft geht es in unserer Arbeit um das sicht- und hörbare Johannesburg. Zum Beispiel haben William und ich Lullaby for a House Alarm gemacht, die meisten Häuser in Johannesburg haben eine Alarmanlage. Wir haben auch Stücke gemacht, indem er Musik gehört hat – ich wusste aber nicht was, dazu Linien gezeichnet und mir dann das Video davon gegeben hat, worauf ich wiederum mit Klang reagierte.
Refuse the Hour ist ein Werk, das viele Jahre umhergereist ist. Es umfasst Video, Klang, Skulptur: William hält Vorlesungen ab, dazu tanzt Dada Masilo; es tanzt und spielt auch ein kleines Emsemble von Sänger- und Musikerinnen. Es ist ein verrücktes Ding, wir nennen es lecture performance. Es bringt Fragen über die Zeit hervor, philosophische und naturwissenschaftliche.
Refuse the Hour (Probevideo) beim südafrikanischen Design Indaba Festival, Februar 2015
Mit scheint, die Theaterbühne passt besser zu Ihrer Arbeit als der Konzertsaal. Fühlen Sie sich dieser Szene auch näher?
Ich kenne die Musikszene nicht gut genug, in Südafrika sind die Differenzen vielleicht gar nicht so groß, wegen der Technologie. Wenn du ein Video machen willst, kannst du das selbst tun, die Menschen sind in der Lage cross-medial zu arbeiten. Das hat die Art, wie wir die Musikkultur betrachten schon sehr verändert. Der Konzertsaal beeinflusst mich nicht, mir geht es eher darum, mit den Leuten zu arbeiten, die mich interessieren.
Mit unbegrenzten Ressourcen – welches Projekt würden Sie verwirklichen?
Gerade mache ich eine Klanginstallation für das Museum der Frauen in Südafrika. Mir kam die Idee, nicht mit Frauen zu arbeiten, die professionell in einem Chor singen – ich wollte mit Frauen arbeiten, die spezielle Erfahrungen haben, als Mütter, als Widerstandskämpferinnen. Eine Gruppe ist aus Khayelitsha, einem kahlen Ort, an dem das Leben mühsam ist. Ihre Stimmen werden Teil der Klangwelt. Ich würde wirklich gerne noch mehr über das ganze Land verteilt arbeiten und dafür viel reisen; sonst landet man immer wieder in den großen Städten mit seinen Projekten.
Bei Ihrer Rede vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission sagten Sie, dass es Sie manchmal deprimiert, dass die Leute ein Stück wie REwind hören und dann nach Hause gehen, und es ändert sich nichts.
Manchmal reagiert ein Publikum sehr intensiv, du führst danach Gespräche und denkst, was macht man mit diesen ganzen Emotionen? Dann gehe ich nach Hause, die anderen gehen nach Hause; das sind möglicherweise Orte, an denen sich nicht so viel geändert hat. Ich wurde gefragt, ob ich das Stück nicht noch mal aufführen würde. Aber ich zögere noch; ich muss nachdenken, welches der richtige Ort dafür wäre. ¶