Debussys Pelléas et Mélisande bei der Ruhrtriennale

Text · Fotos © Ben van Duin · Datum 23.8.2017

Die Ankündigung, Barbara Hannigan werde zum Auftakt der diesjährigen Ruhrtriennale die Mélisande geben, klingt in Sabine Webers Ohren wie ein »unüberhörbarer Lockruf« nach Bochum. Diesem ist sie gefolgt – und berichtet.


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Die Ausnahmesängerin Barbara Hannigan meistert alle weiblichen Rollenklischees, die ihr Regisseur Krzysztof Warlikowski zumutet. Fixerin vom Bahnhof Zoo, Pseudoflittchen oder apathische Fürstenlady à la Gracia Patricia – immer ist sie eine vor allem stimmlich umwerfende Barbara Hannigan. Selbst wenn sie in Unterwäsche auf den Boden geworfen wird. Nur eben als Mélisande konnte sie nicht rühren, was die Regie wohl auch nicht in Betracht gezogen hat.

Mehr als dieses geheimnisvolle Wesen neben sich herlaufen zu lassen oder ihr (sexuelle) Gewalt anzutun, was ihr zu Anfang gehauchtes »Ne me touchez pas!« als eine Aufforderung ins Gegenteil verkehrt, ist Warlikowski nicht eingefallen. Auch nicht zu ihrem Wesensverwandten Pelléas. Wie Daenerys Targaryens durchgeknallter Bruder aus der Serie Game of Thrones mit langem strähnig-weißem Haar wird er erst gar nicht in die Lage versetzt, beziehungswürdig zu sein. Hilflos sitzt oder steht der mit Bariton Phillip Addis stimmlich hervorragend besetzte Pelléas meist mit vorgeneigtem Kopf herum und läuft dann irgendwohin. In der großen Liebesszene im letzten Akt sitzen Pelléas und Mélisande an einer Bar – links im Bild – ohne Blickkontakt und hauchen nüchtern ins Glas oder in die qualmende Theaterzigarette: »Ich liebe Dich!« »… Ich Dich auch«. Null Erotik! Einzig der Gewaltmensch Golaud passt als Ego-Macho ins Bild. Und Bariton Leigh Melrose, auf der letzten Ruhrtriennale als gequälter Alberich in Wagners Rheingold zu erleben, überzeugt auch in dieser Rolle. Mit Bart und Undercut wie ein französischer Snob und irgendwie auch wie eine fantastische Nebukadnezar-Debussy-Mischung, mit hoher, ständig blutender Stirn braust er auf, macht auf Drohgebärde und zieht sich wieder auf einen Stuhl zurück. Im dunkelweinroten Anzug unterm Ledermantel wird er bereits im Prolog zum eigentlichen Playmaker und führt auf Englisch ins Spiel ein. Mit Worten aus einer Inszenierung nach Christoffer Boes Film Reconstruction – »Es endet immer auf diese Weise. Ein wenig Magie, ein wenig Rauch. Etwas verschwindet … Ein Mann kommt in eine Bar, sieht eine schöne Frau… aber vergessen Sie nicht, es ist alles Illusion … dennoch tut es weh«, schlägt er sich eine Flasche gegen die Schläfe und fällt um. Zu sehen dann von oben gefilmt auf einer großen Leinwand ganz hinten. Da liegt er wie in einer Werbung für Männermode.

Weh tun vor allem die Einblendungen von einer Schafherde, die ihr eigener Leithammel zum Schlächter führt. Das Video mündet darin, dass ein Schaf nach Bolzenbetäubung am Fuß aufgehängt tatsächlich geschächtet wird. Auf einem seitlichen Bildschirm über der Bar wird die Sequenz mehrmals gezeigt. Die Metzger-Schlächter treten dann in blutigen Schürzen auch noch auf und waschen sich an einer weißen Waschbeckenreihe links hinter der Bar das Blut von den Unterarmen. Aber was wird in dieser Oper eigentlich geschlachtet? Die Frau, die nicht ins gewalttätige Männerbild passt? Der Männer-Typ Pelléas, der nur zum Leben erwacht, wenn er sich mit einer Langhaarperücke auf dem Kopf Travestiefantasien hingibt, die er – armes Baby – nicht ausleben darf? Insgesamt hat die Inszenierung in der Einheitsbühne von Małgorzata Szczęśniak viel Aktion zu bieten. An der Bar links. An einem fürstlichen Tisch vorne, der später zum Kranken-, dann zum Totenbett wird. Und hinten auf einer Show-Treppe, die das Orchester umfasst.

Unter dem Debussy-Spezialisten Sylvain Cambreling liefern die Bochumer Sinfoniker auch betörend feingefächerte Klangflächen, Violin- und Cellosoli, drehen auf. Nach dem Kellergang beispielsweise, auf den Golaud Pelléas mitnimmt, um ihn fies einzuschüchtern. Der Gang zu bedrohlichen Klängen im Orchester führt natürlich auf der Show-, jetzt Kellertreppe, ums Orchester herum und wird durch eine orchestral opulente Lichtapotheose beendet. Dennoch hat die magisch-nebulöse Musik Debussys, in der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle kaum Raum. Sie wirkt über weite Strecken wie willkürlich unterlegte Filmmusik, weil die Regie in keinem Moment auf sie reagiert. Wo bleibt die versprochene Magie in diesem symbolischen Spiel, das von Andeutungen und Zauber lebt? Natürlich geht es in dieser Oper auch um Gewalt, um gewalttätige männliche Eifersucht. Aber auch um unbegreiflichen Zauber, den man nicht verstehen und deuten, aber spüren muss, um dessen Verlust auszumachen. Ein so großartiges Sänger*innenensemble, dabei auch Franz-Josef Selig, der seine profunde Bassstimme König Arkel hier als Helmut Kohl-Verschnitt leihen durfte, und Sara Mingardo als seine Frau Geneviève oder Yniold mit Moritz Bouchard aus dem Knabenchor der Dortmunder Chorakademie, ist noch selten zu erleben gewesen. Aber mit einem solchen Realismus ist Debussy nicht wirklich beizukommen. Etwas mehr Magie wäre schön gewesen! ¶

... arbeitet seit über 15 Jahren für verschiedene Radioprogramme der ARD. Dazu zählen Beiträge, Features, die Moderation von Musiksendungen und live moderierte Konzertübertragungen. Darüber hinaus ist sie für verschiedene Printmedien und Online-Magazine als Opern- und Konzertkritikerin oder Berichterstatterin für internationale Festivals unterwegs. In ihrer Freizeit rudert sie auf dem Rhein, auch wettkampfmäßig.