Wenn man den Komponisten Ondřej Adámek bei den diesjährigen Wittener Tagen für Neue Kammermusik treffen will, muss man Glück haben. Genau 45 Minuten Zeit hat er an diesem Wochenende, zwischen einer Vorführung seiner Airmachine und der Hauptprobe fürs Abschlusskonzert, bei dem sein Werk Man Time Stone Time uraufgeführt werden soll. Eigentlich hechelt er von Konzert zu Konzert, von Verbeugung zu Verbeugung, doch er wirkt entspannt. Mühelos ist er einfach überall – wenn nicht in Person, dann im Programm, auf einem Foto oder wenn jemand vorbeigeht und seinen Namen sagt.45 Minuten haben wir also, Adámek und ich, im historischen Haus Witten, wo alle paar Minuten Züge vorbeidonnern, in einem gläsernen Foyer, wo genau in diesen 45 Minuten auch noch eine Hochzeitsfeier stattfindet, mit Kaffee und weißem Spitzengedeck und zwei großen hellrosa Torten. Ein Mensch, der so viel wie möglich von dieser Zeit nutzen will, ist bedacht auf Effizienz – ruhige Ecke suchen, Aufnahmegerät anschalten, Fragen, Antworten. Ondřej Adámek aber scheint das Ticken der imaginären Interviewuhr nicht zu hören. Dabei hört er ständig irgendetwas. Zwischendurch, fliegt sein Blick einfach weg und sein Sinn ist plötzlich ganz woanders – erst Momente später macht er sein Gegenüber auf das aufmerksam, was er da wahrgenommen hat: das Quietschen seiner Airmachine, das irgendwer ein Stockwerk höher ausgelöst hat. Menschen, die meterweit entfernt stehen und etwas gesagt oder gemacht haben, das ihn amüsiert. Das Rauschen eines Autos auf der Straße, das Rattern eines fernen Zuges.Schnell hat man das Gefühl, nicht ganz hinterher zu kommen in dieser Wunderwelt, von der das durchschnittliche Gehirn das Allermeiste einfach ausfiltert. Adámek wirkt dagegen, als würde er alles zum allerersten Mal hören oder sehen oder riechen, und er freut sich, ständig freut er sich über irgendetwas und lacht. »Ein Theater ist das, nur für uns«, sagt er zum Beispiel, als das Brautpaar Anstalten macht die Torte anzuschneiden und die Hochzeitsgesellschaft langsam unseren Tisch einkreist. Der Satz ist messerscharf, und er ist ein Schlüssel. Denn er zeigt, was Adámeks Musik so anders macht als alles, was am Wittener Wochenende erklingt: Der 40-Jährige betrachtet die Welt wie ein Zuschauer im ersten Rang und er wundert sich und staunt über das, was sich ihm dort präsentiert. Seine Kompositionen entstehen so aus einer Unmittelbarkeit heraus, die derjenigen zwischen Darsteller und Publikum in einem Theaterstück gleicht, wo beide Seiten hochkonzentriert und ständig aufeinander reagieren. Adámek ist beides, Darsteller und Betrachter, und er reagiert in seinen Kompositionen spielend auf die Welt, die ihm ist wie eine wunderbare, große Theaterbühne.Die Werke, die er schreibt, sind so unterschiedlich wie Charaktere – sie erschüttern, wie sein Stück Schlafen. Gut. Warm., in dem er die seltsam optimistischen Postkartentexte und Briefe seines Großvaters aus dem Konzentrationslager Theresienstadt vertont. Sie faszinieren wie seine rein vokale Oper Seven Stones oder die Wittener Adaption Man Time Stone Time für Stimmen und Orchester, wo aneinandergeschlagene Steine klingen wie Konsonanten und vier Stimmen wie das Rauschen eines Waldes. Und sie bringen einen schlimm zum Lachen, wie eben die Airmachine mit ihren rhythmisch quietschenden Gummischweinchen und sich aufblasenden Einmalhandschuhen. Die Absurdität hat in dieser Welt einen festen Platz, doch nur wenige erkennen sie so gut und entlarven sie so kunstvoll wie der barfüßig auftretende Ondřej Adámek – der seiner Gesprächspartnerin als allererstes das Du anbietet.

VAN: War dir schon früh klar, dass du komponieren willst?

Ondřej Adámek: Ja, schon als ich ganz jung war. So mit 12 Jahren. Aber ich war damals ein bisschen traurig, dass ich die guten Jahrhunderte, in denen man schöne Musik schrieb, verpasst habe. (lacht)

Welche Jahrhunderte meinst du?

Vor allem Barock und Klassik. Das wäre schön gewesen. Hat aber nicht geklappt, zumindest nicht in diesem Leben.

Also hättest du lieber in diesem Stil komponiert?

Als Kind und Jugendlicher, ja. Aber dann habe ich die Musik von Martin Smolka entdeckt, mit 16 Jahren. Das hat alles verändert. Ich war fasziniert von dieser Energie, die seine Musik hat. Es ist eine Energie, die man auch in der Musik anderer Kulturen finden kann. Ich war zum Beispiel mit meiner Frau in Bali, weil ich die Gamelan-Musik so unglaublich finde, und es war dort noch tausendmal stärker, das zu sehen und zu verstehen. Oder auch zu sehen, dass ich es nicht verstehen kann.

Die Suche nach dieser Energie treibt dich an?

Ja. Man findet sie manchmal auch im Theater oder zum Beispiel in New York in Harlem in den protestantischen Gottesdiensten. Mir fällt dazu auch die polnische Regisseurin Marta Górnicka ein, zwei, drei Stücke, die ich von ihr gesehen habe: Diese Frauen bei ihr auf der Bühne, die da einfach nur stehen – das finde ich unglaublich. Diese Trans-Energie oder auch Körper-Energie, das ist etwas, das ich wie ein Bild vor mir habe, das ich erreichen will.

Spielen deshalb Performance und Bewegung auch in deinen Werken eine so große Rolle?

Auch. Mit meinen Sängern mache ich viel körperliche Arbeit, weil wir diese Energie kreieren wollen, aber auch, weil wir die Stimme in ganz extremen Farben benutzen wollen.

Ihr arbeitet ja sehr viel mit Geräuschen, mit Atem, mit Luft. Aber wo hört das Geräusch auf und wo fängt die Musik an?

Das ist eine große philosophische Frage – schön, oder?

Adámek hebt einen Zeigefinger ans Ohr, bedeutet mir, zu lauschen. Draußen rumpelt ein Zug vorbei, die eisernen Räder rattern rhythmisch über eine Weiche. Leise spricht er das Geräusch mit, »Dadam-dadi, dadam-dadi«, und beginnt immer breiter zu lächeln.

Zuerst war es nur ein Zug. Was hörst du jetzt?

Jetzt höre ich einen Rhythmus und verschiedene Klangfarben …

Und, war das der Zug oder ich? Das ist genau der Punkt. Darüber habe ich auch schon mit einem Freund philosophiert, der auch so ein Theatermensch ist und auch Bali liebt. Er meinte zuerst, Musik seien organisierte Klänge, aber dann hat er irgendwo gelesen: ›Music is human behavior.‹ Das ist ganz wichtig, finde ich. Wenn die Vögel singen, dann ist das noch keine Musik. Wenn ich aber sage: ›Hör die Vögel, wie sie singen‹, dann ist das Musik.

Weil sich unser Blick auf das Geräusch verändert hat?

Das ›human behavior‹, genau, die Tatsache, dass wir das Geräusch als Musik verstehen. Vielleicht ist es mit Gerüchen auch so – ist das hier schon ein schöner Geruch? Das wissen wir nicht, dann rieche ich und stelle fest: Ah, doch.

YouTube video

Also ist es in dem Moment, in dem es Menschen gibt, die etwas als Musik wahrnehmen,  Musik?

Wahrscheinlich, ja. Gibt es im Himmel Engels-Musik? Ja, wahrscheinlich auch.

Nur wir hören sie nicht. Das heißt im Umkehrschluss, ohne den Menschen gibt es auch keine Musik?

Wahrscheinlich nicht. Und ohne Engel auch nicht. (lacht)

Hörst du überall Musik?

Ich denke schon. Sogar wenn ich mir mit meiner elektrischen Zahnbürste die Zähne putze – und jetzt gerade auch.

Ist das nicht anstrengend?

Nein, das ist schön. Ich nehme das ja schon mein ganzes Leben lang so wahr, und meine Frau nach mittlerweile zehn Jahren mit mir auch. Ein Komponist entwickelt sein ganzes Leben lang dieses innere Ohr. Ich erinnere mich, als ich zum Beispiel einmal mit Smolka geprobt habe – ich habe dirigiert –, da hat er ganz unglaubliche Sachen gehört. Er wollte ein C 30 Cent tiefer haben, aber ich konnte es nicht korrigieren, weil mein Ohr noch nicht so weit ausgebildet war.

Sind Geräusche oder die im Alltag wahrgenommene Musik Ausgangspunkt für deine Kompositionen?

Nein, eigentlich nicht. Ich sitze nicht am Tisch und rolle eine Flasche vor und zurück und analysiere das Geräusch, wenn du das meinst. Andere Komponisten arbeiten vielleicht so und lassen sich direkt von einem Klang inspirieren und kreieren dann ähnliche Klänge. Für mich ist der Startpunkt aber meist ein Bild oder eine Dramaturgie, ein Text oder eine Geschichte.

Warum ist dabei Sprache so wichtig für dich?

Weil Sprache schon Musik ist – und viel mehr als das. Wir haben einen Text mit einer Geschichte, wir haben einen Satz mit einer Information, wir haben jedes einzelne Wort, das mehrere Bedeutungen hat. Dabei hat Sprache aber auch einen großen Nachteil, denn einen Gedanken in Worte zu fassen, ist immer eine Reduktion – und eigentlich reduziert auch die Partitur die Musik. Aber jedes Wort hat seine Silben, seinen Rhythmus, seine Phoneme – nehmen wir das Wort ›springen‹. Da steckt das ›sch‹ drin, das klingt wie ein Becken, wir haben das ›p‹, das ist wie eine Flasche, die man öffnet, und dann das ›r‹, das kann eine kleine Trommel sein. Dann kommen das ›ing‹ und das ›en‹, die schwingen wie zwei Glocken. Da haben wir in einem Wort schon fünf Schlagzeugfarben drin. Das ist schon viel Musik.

YouTube video

Also verstehst du Sprache als eine Art Palette von Klängen?

Ja, eine Palette von kleinen Details, die man gut in Musik übersetzen kann, auf die man sich konzentrieren und die man ganz genau herausarbeiten kann. Dabei entsteht eine Spannung, die sich auf das Publikum überträgt.

Hättest du eigentlich mal gedacht, dass du so erfolgreich wirst?

Also erfolgreich bin ich nicht, würde ich sagen, aber ich kann machen, was ich will, und das ist fantastisch, ein großes Geschenk. Als ich noch in Tschechien gelebt habe, sah das ganz anders aus, ein Komponist konnte da nicht einfach nur komponieren und davon leben. Aber ich hatte in meinem Leben schon immer sehr viel Glück …

Nun, die Wittener Tage für neue Kammermusik haben dich als Porträtkomponisten ausgewählt, vergangenes Jahr hatte deine erste Oper Seven Stones Premiere beim Opernfestival Aix-en-Provence … ich würde das schon als Erfolg bezeichnen und nicht einfach nur als Glück.

Dass wir hierher eingeladen wurden, war für mich und mein Ensemble eine große Ermutigung, das schon. Vor allem, dass Harry Vogt mit mir alles schon vor zweieinhalb Jahren konzipiert hat, noch bevor mein Ensemble überhaupt existierte. Das war für ihn ein großes Risiko. Aber es ist auch sehr spezifisch hier, so eine kleine Stadt, in die alle Musikspezialisten kommen, um drei Tage lang Neue Musik zu hören, das ist nicht unbedingt die Zielgruppe, für die ich komponiere – er musste mich schon ein bisschen überreden, hier etwas zu machen.

Wer wäre denn deine Zielgruppe?

Eher gemischtes Publikum. Also alle möglichen Leute, die offen sind, jung, alt, dazwischen, Musiker und Nichtmusiker, andere Künstler und keine Künstler, Leute, die neugierig kommen und etwas erleben wollen. Nicht nur Spezialisten, die schon wissen, was ihr Geschmack ist, was letztes Jahr los war und vielleicht meine Airmachine schon kennen. Aber auf der anderen Seite ist die Spannung im Publikum unglaublich, das habe ich nicht erwartet, diese Stille im Saal.

YouTube video

Die Leute sollen also ins Konzert kommen, um etwas zu erleben – willst du vor allem unterhalten?

Nicht immer. Am wichtigsten ist mir, Distanz zu überwinden. Komponisten sind oft distanziert, denn das Komponieren an sich ist schon Distanzierung: Man stellt sich etwas vor, was noch nicht existiert, ein Stück, eine Situation, die Probe, die Instrumentalisten und so weiter. Und wenn dann alles fertig ist, kommt der Komponist vorbei und sagt ›Das bitte nochmal sauberer‹ und ›Das mehr zusammen, das stiller, das hier anders‹ – aber das Stück ist schon fertig. Theaterleute oder Choreographen arbeiten dagegen viel direkter. Ich will nicht, dass die Leute im Publikum sitzen und ein Gefühl von Distanz bekommen. Ich möchte ein Gefühl der Verbindung schaffen, ich möchte erreichen, dass die Energie nicht nur von der Bühne kommt, sondern dass sie zirkuliert.

Muss man dafür als Komponist viel von sich preisgeben?

Ja, vielleicht. Ich gehe jedes Jahr einen weiteren Schritt in diese Richtung. Anfangs war es schon schwer für mich, Texte über meine Stücke zu schreiben, und auch die Titel meiner Werke waren anfangs eher abstrakt und intellektuell. Nach und nach öffne ich mich aber immer mehr.

Als Dirigent bist du schon sehr nahbar, wie ich finde – es verschwimmen in der Folge immer ein bisschen die Grenzen zwischen dir und den Musikern. Geht es dir um demokratisches Musizieren?

(seufzt) Also bei den Proben kann man nicht demokratisch sein, wenn man effizient sein will. Wenn man die Musiker bezahlen muss und es schnell gehen muss, ist Diskussion leider nicht möglich. Ich versuche aber mit meinem Ensemble demokratisch zu sein, wir treffen die Entscheidungen zusammen, und sie sollen auch ihre Meinung sagen. Mir ist wichtig, dass man als Dirigent nicht distanziert ist, hinter dem Pult, der Partitur und der Gestik und mit dem Rücken zum Publikum. Ich habe vor Jahren mit anderen Dirigenten versucht, sie szenisch einzubinden, aber ich habe gemerkt, dass sie zu vielem nicht bereit waren.

Findest du, es gibt zu viele Grenzen in unserer Art zu musizieren?

Das ist schwierig. Wir sind nun einmal sehr mit der Tradition verbunden, so haben wir Musikmachen gelernt, mit diesem unglaublichen Tool, der Partitur, die uns ermöglicht innerhalb einer Stunde vielleicht schon 60 Prozent des Konzertes zu realisieren. Aber der Nachteil ist, dass wir mit diesem Blatt Papier mehr verbunden sind als miteinander, wir haben keine körperliche Freiheit, keinen Augenkontakt, und der Dirigent steht an seinem Pult und macht schöne Gesten. Aber macht er mit? Dirigiert er vielleicht auswendig? Bewegt er sich? Da gibt es noch viel Raum zur Entwicklung.

»Wenn die Vögel singen, dann ist das noch keine Musik. Wenn ich aber sage: ›Hör die Vögel, wie sie singen‹, dann ist das Musik.« Komponist Ondřej Adámek in @vanmusik.

Wie könnte das die Musik verändern?

Es kann einerseits anders klingen, dynamischer, und andererseits diese Energie bekommen, von der ich sprach, vielleicht sogar etwas Spirituelles. Wenn die Augen sich frei bewegen können, singe ich nicht mehr nur ein Lied, ich erzähle eine Geschichte. Idealerweise beginnt man damit schon in den Proben und arbeitet mindestens die halbe Zeit ohne Partitur und ohne feste Positionen im Raum. Ich arbeite daran, auf diese Weise Authentizität und Kraft zu generieren und in Veranstaltungen vielleicht sogar transzendentale Erfahrungen zu erschaffen. ¶

Hannah Schmidt

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.