Zu NATIONALOPER #2
Das Radialsystem Berlin ist am kommenden Wochenende Schauplatz für den zweiten Teil eines Musiktheaterprojekts zu »Nationaloper«, initiiert von der Berliner Opernkompanie NOVOFLOT. Das Ganze findet unter dem Titel »NATIONALOPER #2« statt, und es werden gleich drei unterschiedliche Inszenierungen zum Thema des nationalen Kulturguts präsentiert. Neben NOVOFLOTs eigener Bearbeitung von Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz, zeigt die ungarische Gruppe Kretakör Foundation die Oper Bánk bán/ACT von Ferenc Erkel und das Schweizer Ensemble kraut_produktion mangels einer Schweizerischen Nationaloper ihre Inszenierung zum Schweizerpsalm. Die norwegische Regisseurin Susanne Øglænd besuchte für VAN eine Probe und sprach anschließend mit dem Regisseur Sven Holm über NOVOFLOTs Annäherung an Webers Oper.
VAN: Wenn man den Freischütz als Nationaloper begreift, also als Träger eines gültigen und übergreifenden Gefühls, so lese ich die Oper als eine Geschichte über die Panik des fleißigen Deutschen. Der zentrale Konflikt ist durchgängig und für alle Protagonisten der Leistungsdruck; also die Angst, nicht zu genügen und die daraus folgende Verzweiflung. Dies gilt sowohl im Privaten als auch im Gesellschaftlichen. Max singt immer wieder »Ich muss verzagen. Mich verfolgt Missgeschick.« Als freie Opernkompanie hat NOVOFLOT die Möglichkeit, den Stoff losgelöst von einer institutionellen Aufführungstradition zu lesen. Wie habt ihr euch an diese unangenehme Geschichte des ängstlichen Deutschen (hier eine Zusammenfassung der Handlung der Bayerischen Staatsoper) herangetastet?
Sven Holm: Wir haben ja bereits im vergangen Herbst das Projekt zur NATIONALOPER mit einer Ouvertüre (NATIONALOPER #1) eingeleitet, und ein ganz wichtiger Ausgangspunkt ist für uns der Ort gewesen, an dem sie stattgefunden hat: Die Trabrennbahn Karlshorst bei Berlin. Hier müssen die Pferde leisten, um einen Menschen (Jockey) gewinnen zu lassen. Dann wetten wiederum andere Menschen auf die Leistung bestimmter Pferde und gehen entweder mit 3 Euro 50 nach Hause oder haben 15 Euro verloren. Dass heißt, dieser Kreislauf, der für beide Seiten immer nur schrecklich sein kann und es immer nur einen Gewinner gibt, nämlich den Besitzer der Wettanstalt, ist für uns die Grundbasis unsrer Überlegungen gewesen. Klar, der Leistungsdruck ist etwas sehr deutsches. Die Frage ist immer: Wann beginnt der Verlust? Ich glaube in Deutschland gibt es so eine Mentalität, wo der Verlust immer schon sehr früh empfunden wird, das sieht man jetzt wieder bei der EM, wo eigentlich schon klar ist, dass man gegen Polen gewinnt und es beginnt schon der Verlust, wenn die Mannschaft mal nicht ganz so gut ist oder gar unentschieden spielt. Deutschland definiert sich durch eine Erfolgsdynamik; Exportweltmeister, Fussballweltmeister usw. Uns war es wichtig, ein Bild für diesen Erfolgsdruck der auf dem Einzelnen lastet, zu finden. Das ist das für uns im weitesten Sinne Nationale an dem Freischütz-Projekt und nicht die Pegida- oder meinetwegen die AfD-Diskussion. Unsere Darsteller werden auch tatsächlich am Anfang als Pferde vorgestellt. Natürlich spielen sie kein Pferd, aber sie sind nummeriert, es gibt Agathe, es gibt Max, es gibt eben die ganzen Figuren, auf die man dann setzen kann. Darüber hinaus ist es so, dass unser Figurenarsenal nicht narrativ und nicht logisch besetzt ist. Es geht eigentlich immer darum, den Figuren zu entfliehen, zum Beispiel gibt es drei Agathen. Manchmal sind alle drei Agathe und manchmal ist nur eine Agathe und manchmal gibt’s auch gar keine Agathe, weil sich keine Sängerin gefunden hat, die dieses Elend mitmachen möchte… den Probeschuss und das Probejahr, was ja am Ende noch viel schrecklicher ist. Manchmal wollen die Figuren die Verantwortung übernehmen und eine Figur spielen, manchmal wollen sie aber das komplette Gegenteil, weil sie eben diesen Leistungsdruck nicht aushalten, was ja wiederum auch viel mit Oper zu tun hat, denn die Oper ist ja auch gezeichnet von Leistungsdruck. Mit diesen Bildern gehen wir um.
Ich erlebe die Musik des Freischütz als extrem schizophren; da wird heitere, volkstümliche, oft marschähnliche Musik wie der Jägerchor oder der Jungfernchor eingesetzt, doch durch Webers grandiose Orchestrierung klingt diese helle Musik wie die absolute Horrormusik für die Protagonisten. Die Klangfarben verdunkeln sich und morphen regelrecht während des Zuhörens. Wie geht Novoflot mit der Musik um? Mit Besetzung und Klangfarben? Euer Format fordert ja auf diesem Gebiet radikale Entscheidungen.
Die Entscheidung für die Besetzung war sehr klar: Das Orchester ist abgereist. So wie das Ensemble nicht durchgehend besetzt ist, hat sich auch das Orchester aus dem Staub gemacht und nur vier Posaunisten sind standhaft im Orchestergraben geblieben. Diese spielen die Partitur des Freischütz so gut sie können. Daraus ergeben sich relativ viele Absurditäten; auf der einen Seite, weil immer etwas fehlt im Orchester und auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass diese ganze Marschästhetik und die Bläserästhetik und das jägerhafte auf unproportionale und auch ironische Weise verstärkt wird. Die vier Posaunisten sind Musiker des Vertigo-Quartetts, bestehend aus phantastischen, namhaften Jazzmusikern, allen voran Niels Wogram, der auch ein extrem toller Improvisator ist. Die Improvisation ist ein wichtiges Mittel dieser Musiker, um aus der Partitur auszubrechen und sich nach und nach vom Ballast dieser Partitur zu befreien. Neben dem Bläserquartett gibt es zwei subversive Counterparts, die sich teilweise destruktiv, teilweise konstruktiv zu dem ganzen Geschehen verhalten: Der Klarinettist Claudio Puntin, der auch Klassiker und Jazzer ist und sich mit Elektronik und Klarinette einbringt, und der Amerikaner Chris Dahlgren, der mit Gitarre, E-Bass, Kontrabass und Gesang einerseits als Figur auf der Bühne vorkommt und anderseits aber auch zum Beispiel in der Wolfsschlucht durch E-Bass-Rückkoppelungen das Geschehen unterbricht, überlagert. Das sind die Ebenen. Man wird immer die Partitur erkennen, aber sie wird auch übermalt bis hin zu kompletter Verstimmtheit. Im Grunde genommen, wird das, was Du beschrieben hast, verstärkt und erweitert durch Improvisation, die in unserem Fall auch immer eine Utopie ermöglicht. Improvisation ist Befreiung von der Festgelegtheit der Partitur, und es wäre schön, wenn Max und Agathe sich aus ihrem Probejahr auch befreien könnten, was sie vermutlich nicht tun werden oder tun können werden. Das ist die Aufgabe der Musik.

Wir haben über die Partitur gesprochen; über Reduktion, Erweiterung, Umbau von vorhandenen Formen und über die Auflösung einer traditionellen Besetzung. Hinzu kommt aber noch ein anderer und wesentlicher Aspekt, der eure Arbeit prägt, nämlich das Einbringen von anderen Stimmen, Assoziationen und Fremdtexten. Kannst du da schon was verraten? Ich habe vorhin bei der Probe einen Text gehört; den »Nachttext« von Max im Zusammenhang mit der Wolfsschlucht. Was für Texte sind das?
Einar Schleef. Alles Schleef. Wir arbeiten nur mit Schleef-Texten und auch aus einem ganz bestimmten Grund. Wir finden, dass es kaum einen Autor gibt, der die deutsche Melancholie, den deutschen Wald so präzise und auch so umfangreich auf einen melancholischen Charakter übertragen hat wie Schleef. Malte Ubenauf, unser Dramaturg, ist großer Schleef-Fan und -Kenner und hat aus Tagebüchern und Theaterstücken ein Konglomerat von Texten destilliert, die unseren beiden Schauspielern in den Mund gelegt werden. Es gibt zum Beispiel Tagebuchtexte, wo Schleef beschreibt, wie das nach der Wende für ihn gewesen ist. Da geht es um eine fast dokumentarische Beschreibung Deutschlands. Man muss es sich vorstellen, wie zwei Spuren, die nebeneinander liegen. Da fahren zwei Züge, der eine ist der Freischütz, der andere ist der »Schleef«. Manchmal treffen sich die Züge, und manchmal fährt nur der eine Zug weiter. Am Ende trifft man sich wieder. Es sind zwei Spuren, mit denen wir versuchen, Deutschland zu beschreiben.

In der ungarischen Oper Bánk Bán von Ferenc Erkel, die neben eurem Freischütz auch Teil der NATIONALOPER #2 ist, gibt es die berühmte Arie »Házam, Házam, te mindenem« (»Heimat, Heimat du mein alles«). In der Oper steht diese Arie im Zusammenhang mit dem Freiheitskampf der Ungarn und der Märzrevolution von 1848. Es ist eine schwülstig-sehnsuchtsvolle Arie, die mit romantisierter Gestik einen nationalistischen (und etwas xenophoben) Patriotismus pflegt. Jeder Ungar hat auch heute noch einen Bezug zu diesem Lied. 2014 gab es in Budapest sogar einen von der Regierung inszenierten Flash-Mob mit Symphonieorchester zu Házam, Házam, wo letztendlich der ganze Kern der Budapester Innenstadt stehen blieb um dieses Lied mit gemeinsamer Rührung zu singen.
Da kommen schon merkwürdige Gefühle auf, vor allem in Bezug auf die Kulturpolitik, die in Ungarn betrieben wird. Vergleichbares wäre mit der Freischütz-Musik kaum denkbar. Da gibt es keine stimmige Nationalhymne. Flash-Mob-tauglich wäre in Deutschland höchstens ein Weihnachtslied, Wind of change oder Freude schöner Götterfunken. Aber Der Freischütz ist zu psychologisch, zu durchwachsen, auch »Durch die Wälder, durch die Auen« funktioniert nicht so.
… das liegt natürlich daran, dass die Funktion des Freischütz eine ganz andere war als jetzt in Ungarn. In Ungarn gab’s ja die Nation schon, die Oper ist später geschrieben (Anmerkung: 1861) und es ging darum diesen Nationalbegriff zu festigen. Das ist ja im Freischütz (Anmerkung: 1821) anders: Da ist es ja der Beginn, also eher nur der Glaube daran, dass es vielleicht mal zu Veränderung kommen könnte. Klar hat der Freischütz einen gewissen Stellenwert als Nationaloper und wurde ja auch missbraucht von den Nazis, aber er ist streng genommen keine richtige Nationaloper oder besser gesagt: Eine sehr kritische Nationaloper … ¶