Ein Freitagabend im Februar, der zweite Tag der Berlinale. Ich bin mit Nils Mönkemeyer zur Premiere von The Dinner im Berlinale Palast verabredet. Der US-amerikanische Film des israelischen Regisseurs Oren Moverman läuft im Wettbewerb des Festivals. Leider hält er nicht was er verspricht, nämlich ein Kammerspiel mit guten Schauspielern (Laura Linney, Steve Coogan, Rebecca Hall, Richard Gere) und einer guten Buchvorlage (Het Diner des niederländischen Schriftstellers Herman Koch). Zwei Brüder, der eine erfolgreicher Kongressabgeordneter (Gere), der andere zynischer, psychisch labiler Geschichtslehrer (Coogan), treffen sich mit ihren Ehefrauen zu einem Abendessen in einem überkandidelten Haute cuisine Restaurant. Zwei Kinder der beiden Paare haben – wie in Rückblenden gezeigt wird – eine Obdachlose in einem Bankautomatenhäuschen angezündet und verbrennen lassen, ein drittes (adoptiertes) Kind hat den Film ins Netz gestellt, um sich an den beiden anderen zu rächen. Statt aus dem Grundkonflikt, wie man als Mutter, Vater, Bruder, Partner versucht, mit dem Verbrechen der eigenen Kinder umzugehen, dichte Kommunikation und dialogische Bewegung zu formen (wie Roman Polanski in seiner Verfilmung von Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels) ermüdet der Film mit einer Überfrachtung an Stilmitteln, inneren Monologen, Jump Cuts und Soundcollagen, oft mit plakativer Metaphorik und reichlich flacher Symbolik für den allgemeinen gesellschaftlichen Seelenzustand. Richard Gere nimmt man die vielschichtige Figur des zwischen Moralismus und Verlogenheit changierenden Erfolgspolitikers nicht recht ab, auch die Persönlichkeit der anderen drei bekommt partout keine Tiefenschärfe. Reichlich enttäuscht landen wir nach dem Film im P103 Mischkonzern in der Potsdamer Straße. Nachdem wir uns vom Frust gereinigt haben, bringt Nils die Musik ins Spiel.

Nils Mönkemeyer: Ich hatte das Gefühl, dass der Regisseur sie einfach immer hat machen lassen. Der Filmschauspieler ist ja, ähnlich wie der Orchestermusiker auf den Dirigenten, auf den Regisseur angewiesen, darauf dass der den Überblick hat und ordnet, wie und wohin etwas gehört. Wie laut darf die Person schreien im Verhältnis zur Szene danach, was ist die Nuance, um die es geht? Wieviel Prozent dürfen sie geben? Das war hier einfach immer das Gleiche. Es gab keine Dramaturgie.

VAN: Das Hyperaggressive war am Anfang noch ganz unterhaltsam, hat sich dann aber total abgenutzt. Die Vier waren überhaupt nicht in Kontakt miteinander, es gab keine Entwicklung, keine Subtilität.

Ich will nicht zwanghaft eine Parallele zur Musik finden, aber auch bei Musikern gibt es diese one trick ponies, bei denen man die ersten zehn Minuten lang denkt, ›Okay, das ist wirklich ganz toll‹, und dann setzt irgendwann eine Ermüdung ein.

Schauspieler sagen oft, dass man vor der Kamera alles kleiner machen muss als auf der Bühne. Wie ist das bei der Aufnahme im Verhältnis zum Konzert?

Genauso. Man kann etwas nicht so übertreiben, wie man es vielleicht im Konzert machen würde, weil es bei der Wiederholung lächerlich wirken würde. Bei der Aufnahme kannst du andererseits den Fehler machen, alles perfekt haben zu wollen, und dann gehst du kein Risiko mehr ein. Dabei kommt eine ›ganz schöne‹ CD raus, die jeder sofort wieder vergessen hat. Ist mir auch schon passiert.

Zu welchem Zeitpunkt fällt dir das dann auf?

Jedesmal, wenn ich beim Schneiden die Takes höre und denke: ›Jetzt mach doch endlich mal! Wieso spielst du das nicht so und so?‹

Hat jeder Künstler und jede Künstlerin diesen Selbstzweifel oder meinst du, es gibt Musiker, die ihre eigene Aufnahme hören und ›Besser geht’s nicht, Referenzaufnahme.‹ sagen?

Das gibt’s garantiert. (lacht)

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Gaspar Sanz: Instrucción de música sobre la guitarra Española: Passacalles por quarto tono punto alto, Nils Mönkemeyer (Bratsche), Andreas Arend (Spanische Gitarre); von der CD Barroco Español, erschienen bei Sony.

Filmemacher machen oft Testscreenings, machst du sowas auch?

Ja, dann spielen wir Freunden vor, oder machen bei einem neuen Programm ein Hauskonzert.

Und bei Aufnahmen?

Manchmal habe ich das gemacht. Bei der Bach-CD (den für Bratsche umgeschriebenen Suiten für Cello solo) waren im Studio die Komponisten dabei, die zum Album neue Stücke beigesteuert hatten. Das fand ich ganz toll, weil die einem dann Feedback gegeben haben: ›Genauso wünsch ich mir das‹, oder ›mach hier mehr in der Art‹. Womit ich bei meinen Aufnahmen zufrieden bin, ist der melancholische Aspekt, vor allem bei eher lyrischen Programmen. Gleichzeitig denke ich immer noch: ›Aber irgendwann muss ich doch einmal total auf den Putz haun.‹ Aber bis jetzt habe ich das Gefühl, dass ich das noch nie getan habe.

Woran liegt das?

Das weiß ich eben nicht genau. Bei der Aufnahme mit spanischem Barock (Barroco Español) war das Programm ›ungewöhnlich‹, die Komponisten kennt kein Mensch. Ich finde die CD auch gut, aber am Ende war die dann doch relativ kommerziell. Ich habe damit kein provozierendes Statement gesetzt. Irgendwie erwarte ich von mir immer noch diesen Moment, in dem ich alle total schockiere und das Porzellan klirren lasse. Vielleicht muss ich das aber ja gar nicht?

Wie könnte es passieren?

Es gibt Musiker, die spielen mit so einer absoluten Überzeugungskraft! Selbst wenn ich das total hässlich oder gar nicht gut finde, imponiert mir die Radikalität der Aussage. Dafür muss man die Vorstellung ablegen, dass die Leute etwas gut finden sollen. Das habe ich wahrscheinlich noch nicht getan.

Hast du ein Beispiel?

Wenn ich von Patricia Kopatchinskaja das Beethoven-Konzert höre oder mit Fazil Say die Violinsonaten, dann weiß ich: Ich würde keine einzige Stelle so spielen, wenn ich Geiger wäre. Aber mir imponiert, dass sie die Idee, die sie hatte, von vorne bis hinten durchzieht. Es ist dann wirklich von vorne bis hinten abgefahren und anders als alles, was man bei den Stücken vorher gemacht hat. Manchmal wünsche ich mir, dass ich so jemand wäre, und dann denke ich wieder, völlig egal, darum geht’s überhaupt nicht, das ist ein narzisstischer Gedanke. Hast du den Gedanken nie, ein radikales Magazin zu machen?

Doch, klar, aber in unserem Fall wäre halt die Frage, was Radikalität wäre und was sie bringt, wenn sie nirgendwo ankommt.

Das darf man sich eben gar nicht fragen.

Ja, Kunst entsteht aus radikaler Subjektivität, ein Magazin und Journalismus leben aber von verschiedenen Perspektiven und einer Komplexitätsreduktion dessen, was um uns passiert, die auch einen Leser finden wollen.

Es gibt ja auch Kollegen von dir, die sagen: Ich will nicht rumkotzen und was zerreißen und damit Leuten schaden, sondern ich empfehle einfach nur Sachen, die ich gut finde. Wie findest du das?

Ich glaube von einem Magazin wird schon erwartet, dass es eine Orientierung gibt und eine Meinung vertritt, also klar macht, was man gut und nicht so gut findet. Die Frage ist immer, auf welche Art man das macht.

Sagst du das nicht allein dadurch, dass du bestimmte Sachen nicht auswählst?

Aber wenn das jetzt als Fahrstuhlmusik verkauft werden würde, würdest du einfach nicht drüber reden.

Genau. Mich nervt da eher das Label.

Ich habe nur gerade daran gedacht: Es gibt ja immer mehr Magazine und Zeitungen, die die Kommentarfunktion abschalten, weil die Leute so negativ gepostet und sich irgendwann nur noch beschimpft haben. Warum haben wir das Bedürfnis, zu schimpfen und wieso denkst du, Leute lesen gerne einen Verriss?

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Nils Mönkemeyer spielt die Allemande aus der Suite No. 2 (BWV 1008) von Johann Sebastian Bach.

Das ist ja in der Klassikkultur noch relativ im Rahmen, einfach weil es keine kritische Masse an Öffentlichkeit gibt, die sich untereinander anstachelt.  

Neulich habe ich was bei JPC bestellt. Die haben ein anonymes Bewertungssystem mit Sternen als Kategorien, und alle Aufnahmen haben irgendwie nur zwei bis drei Sterne (von fünf). Ich frag mich immer: Sind das neidische Musiker oder wer ist das? Alexandre Tharauds Einspielung der Goldberg-Variationen bekommt zum Teil einen Stern, das ist doch einfach absurd. Wer ist das, und was glauben diese Leute, wer sie sind?

Vielleicht sitzt sein Konkurrent nachts am Computer und klickt.

Oder die Plattenfirmen. Findest du Konzertkritiken an sich etwas Interessantes?

Nicht so wirklich.

Wieso nicht?

Ich finde, wie man Konzerte erlebt oder bewertet, das ist so extrem subjektiv, dass es für mich oft einfach nicht so relevant ist, was X oder Y darüber schreibt.

Na ja, auf der anderen Seite lesen Leute gerne Reisetagebücher oder Erlebnisberichte. Und im Prinzip ist die Beschreibung einer Situation, wie es die Leute erlebt haben, etwas Interessantes. Wieso interessiert mich dann die Konzertkritik nicht?

In den seltensten Fällen geht es darin doch darum, was oder wie die Leute erlebt haben, oder?

Genau, das ist mein Kritikpunkt.

Meistens steht doch eher das vermeintlich objektive Urteil im Vordergrund, die Einordnung, der Vergleich.

Das finde ich absurd, seit ich ein Kind bin. Ich verstehe nicht, warum der Kritiker nicht sagt, ›ich finde …‹

Vielleicht hätte man das Gefühl, dass man sich dann die eigene Legitimation untergräbt, wenn es zu offensichtlich subjektiv ist. Beim Reisebericht gibt’s außerdem ja objektivere Kriterien. Der Strand ist aus Sand und soundso lang, ist nicht zugebaut …

Das wäre dann die Werkbeschreibung, in jeder Konzertkritik ist die Hälfte eine Stückbeschreibung.

Oft interessanter als die »Interpretationskritik« finde ich es, wenn eine gute Geschichte über die Musik erzählt wird.

Ja, aber man könnte doch auch schreiben: Ich bin Musikkritiker Reinhold Perz von der Physischen Allgemeinen Zeitung und alle finden ganz wichtig, was ich sage, und ich gehe ins Konzert und das Orchester spielt eine Sinfonie, die ich total scheiße finde, aber ich muss was drüber schreiben. Warum kann der Kritiker nicht schreiben: Ich mag das Stück nicht so? Das machen die nicht!

Machen Musiker auch nicht.

Ja, aber wir Musiker … stimmt.

Das geht mir auch auf die Nerven.

Oh ja, sag mal, die Tabus der Musiker …

Also das ist auf jeden Fall ein großes, deswegen musst du mir jetzt die drei Stücke sagen, die du nicht ausstehen kannst.

(überlegt)

I will survive.

Das gilt nicht.

Okay (schweigt länger)

Siehst du.

Nee, lass mich mal überlegen, ich sag das schon. Mir fällt gerade nichts ein. (überlegt) Gib mir nen Moment (überlegt). Es gibt schon so Stücke. Ah, Andante e rondo ongarese von Weber. Enescus Konzertstück kann ich nicht ausstehen und die Reger-Suiten für Bratsche solo finde ich auch total scheiße, sind zu schwer und: wofür?

Du darfst dich schon auf einen Anruf von Tabea Zimmermann freuen.

Ja, aber die spielt das so schön, dass ich es fast vergesse. Die spielt es mit Liebe und ich nicht, dass ist einfach der Unterschied. Ich musste das für die Professurbewerbung in München spielen, und musste mich so zusammenreißen. Am meisten nervt mich, wenn ich ein Stück wieder spielen muss, keine neue Idee und dann das Gefühl habe, ich mache eine Kopie meiner Idee vom letzten Jahr oder so. Da habe ich eine totale Aggression dagegen und es macht mich fertig. Das geht aber manchmal nicht anders, weil die Programme zwei Jahre vorher festgelegt werden. Man stellt dann auf Autopiloten und macht so seine »Kunst«, aber das hat nichts mit Inspiration zu tun, diesen Moment hasse ich.

Darüber hat Vilde Frang neulich auch schon geklagt.

Ja, mit Vilde habe ich darüber auch oft gesprochen. Und du kannst es nicht ohne weiteres ändern, weil es vertraglich geregelt ist, der Veranstalter möchte vielleicht das Stück unbedingt, vielleicht macht es auch im gesamten Programm total Sinn … meine Antwort war noch nicht so befriedigend …

… du hattest Weber, Enescu, Reger …

Ja, das sind meine Top drei Bratschenstücke, aber ich brauche noch was anderes. Ich gehe kurz eine rauchen und überlege noch. (kommt zurück) Ich glaube Virtuosenmusik. Geht mir wahnsinnig schnell auf den Zeiger. Ich verstehe den Zirkusaspekt, aber ich finde, Musik muss mehr auslösen als Bewunderung. Die Paganini-Konzerte würde ich mir nie zu Hause anhören, aber es gibt eine Aufnahme von Gidon Kremer, da hat man das Gefühl, der Teufel spielt auf. Er gibt dem ganzen so eine diabolische Note, fast so eine Art hässliche Obsession, dass ich es plötzlich total genial finde. Gute Schauspieler besitzen ja auch diese Kunst, selbst bei banalen Drehbüchern eine doppelte Ebene reinzubringen, bestes Beispiel: Meryl Streep. Ein Musiker muss das auch können, ich bin noch dabei, das zu lernen. Es klappt nur, wenn man riskiert, dass es nicht nur schön, sondern auch hässlich sein darf. Wenn jemand alle Töne richtig spielt, wofür ich einen Heidenrespekt habe, weil man dafür wahnsinnig viel üben muss, setzt das auch eine gewisse Persönlichkeitsstruktur voraus. Mich interessiert das nicht so, und meistens interessieren mich auch die Spieler nicht, die daran viel Interesse haben. Die Kunst, eine Brahms-Sonate zu spielen, hat nichts damit zu tun, ein Paganini-Konzert gut zu spielen. Die wenigsten können beides gleich gut. Ein anderes Beispiel: Mir fällt Pathos sehr schwer. Deswegen habe ich auch so meine Probleme mit Rachmaninow. Ich kann mit dieser Art …

… dem Triefenden.

Das sagst du, für andere Leute ist es ergreifend. Aber mich ergreift das nicht und ich kann es auch nicht rüberbringen. Wenn ein Stück sowas erfordert, dann kriege ich das im Grunde einfach nicht hin und greife zu einem Kunsttrick, indem ich das Pathos breche. Eigentlich ist das aber eine Schwäche. Es gibt zum Beispiel die F.A.E. Sonate, eine Gemeinschaftskomposition von Schumann, Brahms und Albert Dietrich. Der Satz von Brahms ist ein Scherzo und ganz großartig. Am Ende gibt es aber so einen triumphalen Aufschwung nach F-Dur und große triumphierende Akkorde schließen das Stück ab. Innerlich sträubt sich bei mir da immer alles gegen diese heldenhafte Beweihräucherungsgeste, weswegen die Stelle bei mir entweder hysterisch oder etwas stramm gerät (lacht). Wenn Leute mit viel Pathos spielen, bekomme ich ein inneres Unwohlsein, mich nervt es dann auch, wenn Leute das so abfeiern, weil es eigentlich oft ein billiger Effekt ist. Zum Glück eignet sich die Bratsche sehr schlecht zum Pathos. Ich glaube, darum spiele ich auch Bratsche und nicht Geige.

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Nils Mönkemeyer und Vilde Frang spielen Mozarts Sinfonia concertante mit dem Kammerorchester Basel.

Stichwort Persönlichkeitsstruktur, welche muss man denn mitbringen als Solist?

Man muss sehr belastbar sein, unter starkem Druck funktionieren. Wenn man zu selbstkritisch ist, funktioniert man nicht mehr gut und wenn man zu selbstherrlich ist, dann stagniert man und wird irgendwann zu einer Karikatur dessen, was mal gut an einem war. Ich mag Musiker nicht, die sich beim Spielen einen runterholen. Diese Gefahr ist zwar immer da, bei jedem Konzert, Narzissmus spielt eine große Rolle, sonst würde man nicht das Rampenlicht suchen. Trotzdem nervt es mich wenn ich das Gefühl habe, dass Leute zeigen wollen, wie toll sie spielen und Leute sagen sollen, ja du bist ganz toll.

Und welche Teile der Persönlichkeit formen sich im Laufe des Berufs aus, gibt es eine ›déformation professionnelle‹?

Das finde ich eigentlich die interessantere Frage. Ich kann sie natürlich noch nicht abschließend beantworten, sondern nur einen Zwischenstand berichten. Ich finde, der Solistenberuf fördert Neurosen, und davor habe ich ehrlich gesagt bei mir auch Angst. Wenn man sehr viel spielt, besteht die Gefahr, dass sich gewisse Dinge einschleifen und man die irgendwann nicht mehr rausbekommt. Zum Beispiel: Ich treffe diesen hohen Ton nicht und entwickle deshalb vor bestimmten Stellen so eine neurotische Fahrigkeit, weil ich jedes Mal denke ›Oh Gott, ich schaffe es nicht.‹ Aber man steht ja unter Druck, man muss die ja schaffen, und dann erfindet man so blöde Ausweichmanöver. Wenn ich zum Beispiel sehr nervös bin, sind meine Finger nicht mehr so weich und mein Klang wird kratziger. Ich brauche aber für eine Stelle einen weichen Klang, und dann mache ich aus der Not eine Tugend, spiele die Stelle hässlich und tue so, als wäre das meine Interpretation. Das machen viele andere auch. Aber es ist falsch.

Gibt es auch Orte, die dich nervös machen?

Die Berliner Philharmonie, dafür klingt sie dann aber auch so toll. Aber eigentlich bin ich wirklich eher nervös vor Stücken, die ich schwierig finde. Das Konzert kann dann auch in Pusemuckel sein, ich hab trotzdem Angst.

Wie gehst du dann damit um?

Ich übe mehr. Es gibt ja verschiedene Arten von Nervosität, die schlechte ist die, die einen panikartig überfällt, und dann gibt es das Adrenalin. Aus dieser Art Nervosität, wenn man sie gut nutzt, kann etwas besonderes entstehen. Das lernt man mit der Zeit. Und ich kann es besser akzeptieren, wenn ich Angst habe, ich weiß, was mit meinem Körper passiert, wenn ich das habe, und ich kann es zu einem gewissen Grad ausgleichen. Bogenzittern ist zum Beispiel ein großes Tabu unter Musikern und eine riesengroße Angst. Das habe ich überhaupt nicht mehr. Es gibt ja zum Beispiel Geiger, die gucken die ganze Zeit auf ihre linke Hand. So eine Obsession, jede Note ganz genau zu treffen, das ist ja auch total an der Sache vorbei. Man kreist schon sehr ungesund um sich selbst, das ist ein Nährboden für Neurosen. (lacht). Ich glaube der Schlüssel zu entspanntem Spiel und Körperlichkeit ist, dass man milde verfährt mit sich selbst, meistens geht dann auch weniger schief.

Apropos Körperlichkeit: Wir hatten vorletzte Woche ein Gespräch zweier ehemaliger Mitglieder des Leipziger Thomanerchores in VAN, die sich auch über den schamhaften, etwas verklemmten Umgang mit Körperlichkeit im Chor unterhalten haben. Wie erlebst du das in der Musikerausbildung, gibt es da vielleicht auch Entwicklungen in eine bestimmte Richtung?

Ich glaube wir haben eine starke Verhaltensmaßregelung, wie wir diese Musik aufnehmen und empfinden sollten, und wie man sich dabei zu benehmen hat. Und das drückt sich körperlich aus. Für Instrumentalisten gibt es ja dieses Ideal des apollinisch Zurückgenommenen, ›ich trete hinter die Partitur zurück und ich bin das Sprachrohr‹, wir sind ja keine Darsteller. Dadurch üben wir diesen körperlichen Teil nicht besonders viel. Komischerweise gibt es Leute, die aussehen, als hätten sie einen Stock verschluckt, aber wenn sie spielen, klingt es trotzdem ganz toll.

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Johannes Brahms: Sonate No. 2 Es-Dur für Klavier und Klarinette (Viola), op. 120,2; Nils Mönkemeyer (Bratsche), William Youn (Klavier); vom Album »Brahms« erschienen bei Sony.

Warum haben so viele Musiker Musiker als Freunde?

Weil das so mühsam ist, zu erklären, was einen antreibt, diesen Beruf zu machen.

Das gilt doch aber für viele Berufsgruppen, oder? Was treibt den Arzt an, den Pfarrer, den Anwalt …

Vielleicht liegt es auch daran, dass man mit der Musik schon eine Sprache hat, und deshalb das tatsächliche Sprechen weniger übt. Wenn ich mit Leuten Kammermusik spiele, habe ich das Gefühl einer sehr intimen Unterhaltung. In dem Moment, in dem ich mich als Musiker mündlich äußere, ist mein Statement viel eindeutiger, als wenn ich ein Stück spiele, das in jedem einzelnen Zuhörer anders Resonanz erzeugt. Die Worte definieren die Dinge mehr. Es kann sein, dass ich als Musiker davor ein bisschen Angst habe. Unter Musikern kannst du auch anderthalb Stunden einen Small Talk über Musik führen. Wenn du einen Nicht-Musiker triffst, musst du über andere Dinge sprechen, das ist dann schwieriger. Du hast ja zum Beispiel eine bunte Biografie, ich nicht, ich spiele einfach nur Bratsche. Ich habe nicht wie du mehrere Fächer studiert, in der Entwicklungszusammenarbeitet gearbeitet, dann ein Magazin gegründet und vielleicht mache ich in fünf Jahren nochmal was anderes. Hab ich nicht. Meine Geschichte ist: Ich spiele Bratsche. Wenn ich mich nicht selber für andere Dinge interessiere und danach aktiv suche, habe ich in meiner Biografie, außer es läuft richtig schief, keinen Punkt wo ich die Freiheit oder Notwendigkeit habe, mich neu zu orientieren. Und das macht schon einen großen Unterschied. Das meinte ich mit der Blase, wenn du nur mit Musikern zu tun hast, und das passiert ganz leicht. Viele wollen das auch so, weil sie sich sonst unverstanden fühlen, oder das Gefühl haben, sie können keine Verbindung herstellen. Vielleicht sind wir Musiker auch einfach sehr zentriert, und außer Musik interessiert uns nichts. Traurig, aber könnte wahr sein.

Es gibt ja genug Leute, die von Sachen keine Ahnung haben und trotzdem zu allem ihren Senf dazugeben. »Bescheid zu wissen« ist ja nicht unbedingt eine Voraussetzung, um mitreden zu können. Ich habe gerade überlegt, ob dieses Gefühl, sich nur äußern zu können, wenn man viel weiß, oder sich für etwas zu interessieren, von dem man schon viel weiß, auch etwas mit dem Perfektionismus zu tun hat, mit dem man als klassischer Musiker aufwächst.

Ja, es kann sein, dass man diesen Perfektionsdruck zu übertragen geneigt ist. Ich tue das auch. Ich war früher ziemlich schüchtern, und wenn ich heute in eine fremde Gruppe komme, gibt es immer noch diese Angst, was falsches zu sagen. Ich mache auch alle meine Hobbys sehr exzessiv. Wenn ich etwas nicht gut kann, finde ich es auch nicht so sinnvoll. Ich liebe es, weil ich es auch von der Musik so gewöhnt bin, sehr tief in eine Materie abzutauchen – diese Schönheit, sich in etwas zu verlieren. Und gleichzeitig fehlt mir oft die Leichtigkeit. Als ich zum Beispiel in Spanien gelebt habe, habe ich erst nach zwei Jahren angefangen zu sprechen, aber jeden Tag gelernt, weil es mir einfach zu peinlich war, einen Fehler zu machen. Das war mir auch bewusst, aber es fiel mir extrem schwer. Klar, das was man tut, verändert einen auch. ¶

Hartmut Welscher

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com