Sopranistin Nicole Chevalier im Interview
Sie singt die großen (verrückten) Frauenrollen an der Komischen Oper Berlin: Nicole Chevalier. Die Sopranistin wurde in Chicago geboren, sang an verschiedenen deutschen Opernhäusern und wurde unter anderem für ihre Darstellung der Violetta Valéry in Verdis La traviata an der Staatsoper Hannover gefeiert. Von 2012 bis 2017 war sie festes Ensemblemitglied der Komischen Oper und war dort zuletzt als Medea (Aribert Reimann) und in den Frauen-Partien von Hoffmanns Erzählungen zu erleben, nun kehrt sie regelmäßig als Gast zurück. Arno Lücker hat Chevalier ein paar Tage vor der Semele-Premiere an der Komischen Oper zu einem Gespräch getroffen.

VAN: Frau Chevalier, die Komische Oper Berlin hat eine hervorragende Zuschauerauslastung. Sie haben aber bestimmt schon einmal an anderen Häusern mit weniger Publikumszuspruch gesungen. Bekommen Sie das mit, wenn der Saal nicht ganz gefüllt ist?
Nicole Chevalier: Ja, das bekomme ich mit. Natürlich gibt es Momente, in denen man ins Publikum schaut und sieht, dass noch Plätze frei sind.
Es kommt bei mir aber auch drauf an, welche Rolle ich gerade singe. Wenn ich eine sehr dramatische Partie singe, dann bin ich so beschäftigt auf der Bühne, dass ich manchmal nichts anderes mitbekomme. Erst beim Applaus dann! (Lacht)
Die ›Oper‹, in der Sie jetzt die Titelrolle singen, ist ja eigentlich gar keine Oper, sondern ein Oratorium: Georg Friedrich Händels Semele aus dem Jahr 1743. Merkt man das dem Stück an – oder könnte genauso gut ›Oper‹ drüber stehen?
Der Mythos, um den es in dem Stück geht, wird sehr opernhaft erzählt, aber die musikalische Struktur ist anders. Es gibt nicht diesen großen Bogen, längere Erzählungen, mit Höhe- und Tiefpunkten. Es gibt ein paar Löcher. Auch in der Geschichte. Es sind einzelne Szenen, die fast für sich stehen. Ein bisschen wie bei Tschaikowskis Eugen Onegin. Aber wir haben da einige Dinge reingebaut, um die Szenen zu verbinden. Natürlich wäre es leichter, das konzertant zu machen. Es ist aber sehr spannend, wirklich in diese Geschichte hineinzucrashen! Wir haben uns gefragt: Wie weit können wir von der schauspielerischen Seite aus körperlich gehen, so dass wir die Musik nicht total ruinieren? Klar, wir versuchen nicht, die Händel-Festspiele in Göttingen zu sein. Hier haben wir diesen Fokus auf das Darstellerische – und wie Musik und Schauspiel sich mischen. Das ist gar nicht so leicht, denn die Musik ist sehr fragil. Die Phrasen sind so unglaublich lang. Wo atme ich eigentlich hier? Störe ich damit diese oder jene Linie?
Die von Ihnen verkörperte Semele will in der Geschichte den Gott Jupiter als Mann ›besitzen‹. Außerdem möchte sie noch viel mehr von ihm, nämlich Unsterblichkeit. Diese griechischen Storys… Immer eine Haupthandlung: Ein Paar, das nicht zusammen sein kann oder darf. Dazu zwei Eifersüchtige. Dann ein anderes Paar, manchmal Diener und Dienerinnen der Hauptpersonen. Irgendwann verkleidet sich einer der Hauptpersonen als Mann oder Frau, um an das Ziel zu gelangen, es gibt zahlreiche Verwirrungen und am Ende löst sich das Ganze auf und alle Pärchen kommen zusammen. Das sind Setzungen und Geschichten, die man gestalten muss, sonst bleiben sie kalt. Wie kommen Sie persönlich in Ihre jeweilige Rolle wirklich hinein?
Eigentlich sollte Semele von Laura Scozzi inszeniert werden. Aber sie ist erkrankt, also hat Barrie Kosky die Regie übernommen. Wir hatten ungefähr zwei Wochen mit Laura. Das Bühnenbild und viele Elemente der Ausstattung sind noch von ihrem Team, das Barrie übernommen hat. Er arbeitet also in einem vorgegebenen räumlichen Rahmen und hat darin sein Konzept entwickelt. Abstrakt gesagt geht es um verschiedene Varianten des Themas ›Liebe‹. Wir haben dabei versucht, die Geschichte auf die Liebe zwischen Jupiter und Semele zu fokussieren. Was verbindet die beiden? Das ist eine absolute Wahnsinnsbeziehung, von der vielleicht jeder hofft, dass er sie einmal im Leben erfährt. Immortality! Semele möchte einfach unbedingt an der Seite von Jupiter bleiben. Deshalb kann sie als Sterbliche nicht so bleiben, wie sie ist. Sie pusht das total. Man fragt sich: Warum will Jupiter ausgerechnet sie? Er ist ein Gott, er könnte Tausende haben! Es ist wie eine Self-Annihilation, wie eine Selbstauslöschung… Gleichzeitig kommt in dieser Beziehung das Kind in ihr heraus. Es geht uns also vor allem um die menschliche Dynamik. Es ist großartig, als Sängerin diesen einen Teil einer Beziehung von einem Gott zu einem Menschen zu spielen.
Sind solche Beziehungen nicht immer sehr gefährlich, weil sie auf einem ganz massiven Machtgefälle beruhen?
Für immer kann so etwas vielleicht nicht existieren. Aber der Versuch ist doch das Besondere! Mir ist so etwas auch schon passiert. Man kann sich jemanden als Partner überhaupt nicht vorstellen und weiß schon vorher, wenn man ehrlich zu sich selbst ist: Das kann eigentlich nicht klappen! Aber andererseits hat man sich trotzdem verliebt. Man will, man genießt, man kämpft!

Ihre Rollen sind immer sehr massiv angelegt. Sie sind eine totale Rampensau. Gab es diesen einen Moment in Ihrem Leben, der Sie dazu gemacht hat oder waren Sie schon immer extrovertiert veranlagt?
Irgendetwas war immer schon in mir drin, ich wusste schon immer: Ich möchte etwas sagen, ich habe etwas zu sagen! Aber ich bin eigentlich zufällig dazu gekommen. Ich hatte als Kind einfach ein Talent für klassische Musik, bin irgendwie reingefallen in diese Welt, ganz naiv. Es war ziemlich leicht für mich. Meine Mutter wollte Pianistin werden – und sie hatte vielleicht diese Hoffnung, einmal berühmt zu werden. Aber ihre Eltern haben gesagt: ›Das ist kein Beruf, das ist nur ein Hobby!‹ Zu mir hat sie gesagt: ›Nicole, du kannst machen, was du willst!‹ Und dann kam es einfach so. Wenn man jeden Tag im Theater arbeitet, dann kennt man seine eigene Gefühlslage ohnehin sehr gut. Man hat einen guten Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen und Gedanken. Die Traviata in Hannover allerdings war dann schon eine Art Startpunkt für mich: Was ist überhaupt möglich? Was kann ich in unserer ziemlich konservativen Opernwelt eigentlich machen? Deutschland ist da ein absoluter Genuss und man kann das mit der Opernwelt in den USA überhaupt nicht vergleichen. Regietheater geht da gar nicht! Obwohl es auch dort etwas lockerer geworden ist. Es ist ein grundsätzlicher Geschmacksunterschied.
Ich habe mich in der Traviata irgendwie selbst erfunden… in dieser Art des Spielens… Dadurch habe ich auch für mich selbst erfahren, was stimmlich alles möglich ist. Es geht nicht nur darum, schön zu singen, sondern eine Nähe zu seinen eigenen Gefühlen zuzulassen.
Nähe zulassen, auf ganz menschlicher Ebene, mit den ganzen Gefahren, die lauern… Das ist ja nun gerade ein großes Thema, auch in der OpernSzene.
Wir leben in einer Zeit der Kommunikation. Jeder hat eine Stimme. Jeder äußert sich. Das ist auf der einen Seite unglaublich toll und auf der anderen Seite schwierig. In unserem Job ist die emotionale Spannung eben meistens sehr hoch… (Zögert) Letztlich sollte jeder auf sich selbst aufpassen und das machen, was für ihn persönlich richtig ist. Die Bühne ist vielleicht einer der letzten Orte, wo erst einmal alles erlaubt ist. Hier kann jeder jemand anderes sein, jeder alles sagen… Und für die Bühne sollten wir diese Grenzenlosigkeit bewahren, finde ich.
Themenwechsel: Wenn Sie wählen dürften, welches Opernfach, welche Partie würden Sie gerne einmal singen?
Ich liebe das Fach des dramatischen Soprans! So eine richtig große dramatische Partie wäre toll! Wagner oder irgendetwas anderes Großes! Wie fühlt sich das überhaupt an, so etwas zu singen? Als Mann würde ich gerne Countertenor sein oder einfach ein tiefer Bass. Momentan gehe ich selbst mehr in Richtung dramatischer Koloratursopran. Da tauchen dann ganz andere Farben auf. Immer nur Ännchen im Freischütz zu singen, das wäre nichts für mich. Ich brauche Rollen, in die ich mich hineinbeißen kann. Aber ehrlich gesagt: Ich bin zufrieden mit dem, was ich momentan singe!
Haben Sie denn schon einmal Wagner gesungen?
Nur im Rheingold. So habe ich übrigens Barrie Kosky kennengelernt. Ich war seine Woglinde, in seiner Ring-Inszenierung in Hannover. Die drei Rheintöchter waren seine ›Las Vegas Showgirls‹! Ich dachte: Wer ist das? Was macht der mit uns? Das war unser Beginn! ¶