»Music education is now only for the white and the wealthy« war der Titel eines Beitrags im britischen Guardian von Mitte März. Charlotte Gill beklagt darin allgemein, dass die Wichtigkeit und der Wert musikalischer Erziehung an britischen Schulen schändlich verkannt und die Musik vernachlässigt werde. Schuld daran sei unter anderem der Leistungsindikator an englischen Schulen, der English Baccalaureate, mit dem eine konservative Politik die Zahl an Musik- und Fremdsprachstudierenden erhöhen wolle. Noch ein anderes Problem macht Charlotte Gill aus: Musik werde zu akademisch, zu verschult gelehrt, vor allem der zu starke Fokus auf Notation als Code schließe viele Kinder und Jugendliche aus. Sie fordert mehr Diversität. Die Reaktionen auf Gills Artikel waren gewaltig. Über tausend Kommentare am Artikel und so viele Gegenreaktionen, dass andere davon Übersichten erstellten. Einer der polarisierendsten Vorwürfe: Hier wird ein musikalischer Analphabetismus romantisiert. Wir wollen wissen, wie es um diese Thematik in Deutschland bestellt ist. Schließt die Vermittlung von Musik manche aus? Ist sie elitär? Hier antwortet Thomas Erlach, Professor für die Didaktik der Musik an der Universität Wuppertal, auf den Kommentar von Norbert Schläbitz in VAN-Ausgabe #104.

Hat der schulische Musikunterricht die Aufgabe, soziale Unterschiede auszugleichen? Die Fragestellung weist darauf hin, in welchem Maße die Bildungspolitik in Deutschland immer noch ideologisch aufgeladen ist. In jeder Gesellschaft gibt es soziale Unterschiede und keiner Regierung der Welt ist es bisher gelungen, diese zu beseitigen. Der Musikunterricht ist dazu ebenfalls nicht in der Lage und es ist auch nicht seine Aufgabe. Vielmehr geht es hier darum, Schülerinnen und Schülern durch vielfältigen Umgang mit Musik deren Eigenwert erfahren zu lassen. Das kann empirischen Studien zufolge durchaus auch soziale Folgen haben, zum Beispiel eine Verbesserung des Klassenklimas. Jede Art von Funktionalisierung von Musik ist jedoch problematisch. Daher ist auch die Argumentation über Transfereffekte – seien dies »Happiness«, sozialer Friede, Leistungs- oder Intelligenzsteigerungen – ein trojanisches Pferd: Denn sollte sich herausstellen, dass diese Effekte genauso gut durch Sport oder Aquarellmalen zu erreichen sind, ist die Musik schnell am Ende. Im Folgenden möchte ich diese Grundposition in vier Forderungen konkretisieren.

Erstens, Inhalte statt Kompetenzen

Seit etwa 20 Jahren legen schulische Lehrpläne in Deutschland keine Inhalte mehr fest, sondern – in terminologischer Nähe zur Betriebswirtschaft – »Outcomes« oder »Kompetenzen«. Eine Ausnahme sind hier lediglich die Waldorfschulen. Diese Entwicklung halte ich im Fach Musik für verfehlt, da die Inhalte dadurch beliebig werden. Deren Festlegung wird den Lehrkräften beziehungsweise den Fachkonferenzen der einzelnen Schulen aufgebürdet, was insbesondere Berufsanfänger*innen und fachfremd unterrichtende Lehrkräfte häufig überfordert. Die Folge davon ist eine »heimliche Kanonbildung«, das heißt, es wird solche Musik thematisiert und musiziert, die Lehrkräfte einer bestimmten Schule zufällig kennen. Ich plädiere für eine Rückkehr der wissenschaftlichen Musikpädagogik zur Inhaltsdiskussion in der Tradition der bildungstheoretischen Didaktik: Warum lohnt es sich (oder lohnt es sich nicht), bestimmte Musikstücke im Unterricht zu behandeln? Was gewinnen die Schülerinnen und Schüler dadurch an Kenntnissen, Erfahrungen und Handlungsoptionen? Klafki sprach 1958 vom »Bildungsgehalt« der Gegenstände, womit wir in die Nähe des von Schläbitz vehement abgelehnten Humanismus kommen, den ich nicht einfach so zum Tode verurteilen möchte.

Das bedeutet keineswegs die Rückkehr zu einem »amtlichen« Kanon von Musikstücken wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten; damals gab es verbindliche Lieder-Listen für Volksschulen. Schläbitz’ Forderung nach einer Vielfalt von Musiken und Ästhetiken kann ich voll und ganz unterschreiben, allerdings ist damit das Problem einer Beliebigkeit der Inhalte nicht gelöst. Hierfür ist die Beschäftigung mit Musikgeschichte unabdingbar: Welche Musik hat sich durchgesetzt und warum? Warum wird manche Musik heute noch gespielt, andere nicht? Geschichtsvergessen und einseitig wäre ein Unterricht, der ausschließlich aktuelle Musik behandeln würde. Gerade die europäische Kunstmusik bietet an sich schon eine unglaubliche Vielfalt an Ästhetiken, derentwegen junge Menschen aus fernen Ländern wie Korea ausgerechnet nach Deutschland kommen, um sie hier zu studieren. Die deutsche Musikpädagogik könnte da selbstbewusster auftreten, anstatt an der Selbstzerfleischung der »bürgerlichen« Musikkultur mitzuarbeiten und jungen Menschen in den Rücken zu fallen, die freiwillig und engagiert ein Instrument lernen, in die Oper oder ins Konzert gehen möchten.

Zweitens, Kulturschutzgebiete außerhalb des Mainstreams

Nach meiner Wahrnehmung dominiert im Musikunterricht und in Schulkonzerten der Sekundarstufe I, zunehmend aber auch in der Primarstufe, die Behandlung von Popmusik aus dem Mainstream-Segment, häufig mit der seltsamen Begründung, dass die Schülerinnen und Schüler diese Musik ja ohnehin in ihrer Freizeit hören. Der Begriff »Schülerorientierung« erweist sich hier nicht nur als Worthülse, sondern als pädagogischer Fehlgriff, fördert er doch eben solche Formen von »floskelhafter Musik«, die Schläbitz in klassischer Kunstmusik zu finden glaubt. Ich plädiere hier in Analogie zum Schutz wertvoller, weil seltener und schöner Tiere und Pflanzen für die Einrichtung von »Kulturschutzgebieten« im Musikunterricht. Dies gilt insbesondere für die klassische Kunstmusik, aber auch für andere »bedrohte« Musikrichtungen, als deren Anwält*innen Musiklehrkräfte in der Schule auftreten können und sollten.

Ein Vorzug der europäischen Kunstmusik ist dabei ihre Deutungsoffenheit, die unter anderem in der Unterscheidung von fixiertem Werk und interpretierender Aufführung ihren Ausdruck findet. Eine Vernachlässigung dieser Schutzgebiete ist fahrlässig, ein aktives Zurückdrängen so barbarisch wie die Sprengung des Berliner Stadtschlosses 1950. Ein solcher Musikunterricht der Kulturschutzgebiete ist keineswegs »akademisch«, er lässt sich zudem leicht an andere Schulfächer wie Kunst, Religion und Literatur andocken, bei denen die Erschließung tradierter Kulturphänomene selbstverständlich ist.

Drittens, Sinnerfüllte Notenlehre statt Eventkultur

Eine Besonderheit der Musiklehrepläne in NRW ist, dass das frühere Aufgabenfeld »Musik beruht auf Regeln« seit circa 1998 sukzessive abgeschafft wurde. Inhalte der Elementarlehre sollen stattdessen im Unterricht »nebenbei« behandelt werden. Im Lehrplan für die Grundschule wird lediglich die Verwendung von Notation »in welcher Form auch immer« gefordert, worunter zum Beispiel auch graphische Notation zu verstehen ist. Ich halte diese Unverbindlichkeit für einen fatalen Fehler, der für die Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler äußerst nachteilig ist. Statt eines Curriculums, das allmählich vom Einfachen zum Schwierigeren fortschreitet, ist der Musikunterricht geprägt durch einen bunten Strauß verschiedenster Themen und Projekte, vor allem aber durch zahlreiche Events, für die die Politik gerne mal Künstler*innen »von außen« für ein bis zwei Tage an die Schule holt. Nachhaltigkeit? Fehlanzeige. Im Oberstufenunterricht stehen Lehrkräfte dann vor dem Problem, wie sie mit ihren Schülern etwas sinnvoll interpretieren und in einen Kontext einordnen sollen, das diese nicht flüssig lesen, geschweige denn selbstständig analysieren können.

Entsprechend ungünstig sieht es inzwischen sogar bei Eignungsprüfungen an den Universitäten aus, da eine Notensicherheit nur noch bei denjenigen gewährleistet ist, die sich diese Kenntnisse außerhalb der Schule, durch eigenes Engagement und auf eigene Kosten angeeignet haben. Dabei ist das Erlernen der traditionellen Notation nicht schwieriger als die Grundrechenarten oder die Rechtschreibung. Wenn jemand in der Schule gelernt hat, Noten zu lesen, ermöglicht dies die Autonomie, sich zwischen allen erdenklichen Musikpraxen entscheiden zu können und sich an möglichst vielen musikalischen Teilkulturen zu beteiligen. Eine Parallele hierzu stellt das Schulfach Latein dar, das mehr als jeder deutsche Grammatikunterricht zu Genauigkeit und Entschleunigung im Umgang mit Sprache und Texten beiträgt. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass die lineare Schriftkultur des Buches überhaupt für traditionswürdig gehalten wird, womit wir wieder beim Humanismus wären.

Viertens, Koordinierte Musiklehrerbildung

Für den künftigen Musikunterricht zentral ist die gute (Aus-)Bildung der Musikpädagogen. Schläbitz’ Invektiven gegen die historische Musikwissenschaft sind hier meines Erachtens nicht zielführend – in dem unter anderem von ihm herausgegebenen Oberstufenband von O-Ton wird diese Abwertung beziehungsweise Ausmerzung der Musik früherer Jahrhunderte zum Glück nicht umgesetzt. Besser wäre ein stärkeres Zusammengehen der beiden Schwesterdisziplinen Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Martin Geck, bei dem ich in Dortmund studieren durfte, hat diese Verschwisterung in persona überzeugend gelebt, indem er sowohl Vorlesungen über die Musik des deutschen Idealismus als auch pädagogische Übungen zu Musik und Bewegung (in Trainingsanzug in der Turnhalle) durchgeführt hat, beides gleichermaßen niveauvoll.

Der akademischen Kultur wäre hier größere Durchlässigkeit zu wünschen. Dies gilt ebenso für die Verbindung von künstlerischen und wissenschaftlichen Zugängen zur Musik. Gerade in der Musikpädagogik ist ja die Einbeziehung subjektorientierter Verfahren wie Szenische Interpretation von Musiktheater mittlerweile selbstverständlich, meist unter dem Label »Bedeutungszuweisung«. Muss man da unbedingt Scherings Beethoven-Deutungen mit dem Bannfluch belegen, nur weil er sich vor 80 Jahren in einem ähnlichen Grenzbereich bewegt hat? Unbedingt zu fördern ist schließlich meines Erachtens eine Offenheit der Lehramts-Studierenden für verschiedene Musikgenres. Schläbitz’ Beispiel der Hip-Hop-Künstler, die sich weigern, klassische Notation zu erlernen, da dies angeblich ihre Kreativität behindere, macht mich da völlig fassungslos – wo bleibt hier die geforderte Vielseitigkeit? Nach meiner Erfahrung ist diese Offenheit bei »klassisch« sozialisierten Studierenden in der Regel etwas größer als bei »popularmusikalisch« sozialisierten – ich halte aber für beide Gruppen den Blick über den Tellerrand für notwendig. Völlig unabdingbar für ein Musikstudium im Lehramt ist allerdings die sichere Fähigkeit, Noten lesen zu können. ¶


Literaturhinweis: Immer noch wichtig für die Selbstreflexion von »Kulturmenschen« ist meines Erachtens Manfred Fuhrmanns Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, erschienen 1999 im Insel-Verlag.