Vor einigen Jahren veröffentlichte VAN einen Beitrag von mir zum Thema Probespiele. Lese ich jetzt die kontroverse Diskussion zur künstlerischen Ausbildung an Musikhochschulen, muss ich zwangsläufig darauf zurückkommen.

Meiner Meinung nach tragen vor allem wir Orchestermusiker eine große Verantwortung dafür, dass der Unterricht an den Hochschulen nicht künstlerisch, sondern praxisorientiert abgehalten werden muss. Was bleibt den Professoren dort anderes übrig, wenn es bei den Auswahlverfahren für Orchestermusiker ausschließlich darum geht, unter möglichst großem Druck eine Leistung abzurufen, die mit dem Beruf nur sekundär zu tun hat? Wenn der Zweck eines Studiums darauf beschränkt ist, sich mehrere Jahre fast ausschließlich mit Orchesterstudien und Probespielkonzerten zu beschäftigen, um diese unter Stress auf den Punkt abrufbar zu machen – was häufig nur unter Verwendung von Medikamenten gelingt?

Das Procedere der Probespiele stammt aus einer Zeit, als das Angebot an guten Instrumentalisten gering war. Zeigte ein Musiker, dass er sein Instrument beherrscht, war das ausreichend, um ihn zu engagieren. Dafür war das Vorspielen eines Konzerts und einiger Orchesterstellen genug. Mittlerweile gibt es eine Fülle an guten Instrumentalisten, sogar ein Überangebot. Aus diesem Grund ist es nicht mehr zeitgemäß, ausschließlich die instrumentalen Fähigkeiten zu überprüfen. Worum geht es also? Welche Kriterien sind bei einem neuen Kollegen ausschlaggebend? Wie kann man herausfinden, ob der Kandidat diese Fähigkeiten besitzt?

Diese Frage müssen sich die Orchester stellen. Nicht im Gesamten, sondern in den einzelnen Gruppen, denn die Anforderungen sind sehr verschieden, sowohl zwischen Streichern und Bläsern als auch in den Stimmgruppen.

In einem Buch habe ich kürzlich detaillierter aufgeführt, welche Anforderungen meiner Ansicht nach eine neue Kollegin oder ein neuer Kollege für eine Horngruppe erfüllen muss – aufgeteilt in Solo- und Tuttipositionen. Ich habe mich auf die Hörner beschränkt, weil dieser Bereich mein Fachgebiet ist. Zusätzlich habe ich ein mögliches Auswahlverfahren vorgestellt, das diese Fähigkeiten abruft. Ich nehme nicht in Anspruch, dass dieser Weg der einzig mögliche ist. Aufzeigen will ich lediglich, dass es andere Verfahren gibt als die bisherigen, sofern man beginnt, darüber nachzudenken. Die so häufig gestellte Frage, wie wir Orchester es denn sonst machen sollen, kann durch Nachdenken und Diskussion beantwortet werden. Kurz zusammengefasst beinhaltet mein Vorschlag im Wesentlichen ein gemeinsames Musizieren des Kandidaten mit der jeweiligen Gruppe – bei Solohornisten auch mit Holz- und Blechbläsern. Es braucht nicht viel Zeit, festzustellen, wie flexibel ein Musiker ist, wie er auf das reagiert, was ihm angeboten wird, wie er Impulse von außen aufnimmt oder selbst welche gibt. Auch ob er sich intuitiv in den Klang einer Gruppe einfügen kann, ist sehr schnell festzustellen.

Gemeinsames Musizieren ist die Basis des Orchesterspiels. Beim Auswahlverfahren auf eben dieses gemeinsame Musizieren zu verzichten, ist schlichtweg unsinnig. Nebenwirkung des Spiels in der Gruppe dürfte ein sinkendes Stresslevel sein, denn nicht mehr das fehlerfreie Abliefern einer momentanen Leistung zählt. Zentrale Prüfungsthemen werden Flexibilität, Klangempfinden und das Setzen musikalischer Impulse.

Welche Konsequenz hätte das für die Ausbildung an den Musikhochschulen?

Das stetige (und stupide) Wiederholen von Probespielkonzerten und –stellen würde nicht mehr im Vordergrund stehen. Vielmehr könnte ein Studium ausschließlich dazu  genutzt werden, sich musikalisch in jeder Richtung weiter zu bilden und die Kompetenzen zu formen, die im Beruf gebraucht werden – auch dann, wenn der Sprung ins Orchester nicht gelingt, was für den Großteil der Studierenden zutreffen wird.

Wie viel Zeit für das Wesentliche, nämlich Musik, stünde plötzlich zur Verfügung, wenn sie nicht mehr damit vergeudet wird, sich auf Probespiele im herkömmlichen Sinn vorzubereiten, also Extremsituationen, die mit nichts vergleichbar sind, was sich im Berufsleben abspielt. Um etwaigen Einsprüchen gleich vorzubeugen: Als Hornist weiß ich, dass es auch im Orchester Stresssituationen gibt und man damit umgehen lernen muss. Diese sind, zumindest meiner Erfahrung nach, anders gelagert als im herkömmlichen Probespiel. Ändert man das Aufnahmeverfahren, wird es trotzdem eine Prüfungssituation bleiben, die bei fast allen Kandidaten mit Aufregung verbunden sein wird – das ist nicht anders als im Orchester. Gelingt es aber durch eine Änderung des Aufnahmemodus den Kandidaten zu ermöglichen, aus Aufregung heraus konstruktive Energie statt Angst entstehen zu lassen, werden alle davon profitieren – mit Ausnahme der Hersteller von Betablockern.

Musikalische Weiterbildung hätte also mehr Raum. Es wäre Zeit, sich mit vielen verschiedenen Formen von Musik zu beschäftigen, nicht nur Klassik. Es wäre Zeit, sich mit dem Entstehen von Klang auseinanderzusetzen. Es wäre Zeit, sich ein umfassendes Wissen um das eigene Instrument und dessen Möglichkeiten anzueignen, sowie das Wissen um alle Techniken und Besonderheiten, die Voraussetzung für die Interpretation von Musik aller Epochen sind. Es wäre Zeit, sich mehr dem gemeinsamen Spiel zu widmen und Erfahrung darin zu sammeln. Es wäre mehr Zeit, sich damit zu beschäftigen, wie man sich als Musiker auf einem freien Markt behaupten kann. Es wäre auch mehr Zeit zum Lesen und für Konzertbesuche.

Alle diese Beschäftigungen würden das fördern, was in den Aufnahmeverfahren geprüft wird. Auch für den späteren Beruf wäre man wesentlich besser vorbereitet. Dass dafür auch ein großes Können auf dem Instrument notwendig ist und dieses trainiert werden muss, versteht sich von selbst – auch dafür wäre mehr Zeit.

Das mag alles sehr idealistisch klingen. Einen Versuch wäre es wert. Denn Wandel beginnt immer in den Bereichen, die man selbst verändern kann. Wir Orchestermusiker stehen hier ebenso in der Pflicht wie die Hochschulen. ¶