Ariane Matiakh hat gute Laune. Fröhlich und entspannt klingt sie, als sie mich von ihrem Straßburger Schreibtisch aus anruft – und sie bleibt es während des gesamten Gesprächs, obwohl die Verbindung mies ist. Die gute Stimmung mag an ihrem schönen Blick auf die Ill liegen oder an ihrem neuen Job: Im Herbst 2019 wird Matiakh Generalmusikdirektorin in Halle. Ich habe im Gespräch aber eher das Gefühl, dass ihre Offenheit und Herzlichkeit grundsätzlicher Natur sind.
VAN: Letzte Woche sind Sie spontan eingesprungen für den erkrankten Nikolaj Szeps-Znaider und haben in Halle ein Strauss-Programm dirigiert. Wie war’s?
Ariane Matiakh: Das war mein erstes Konzert als designierte Generalmusikdirektorin und eine gute Gelegenheit, sofort nach der Bekanntgabe meiner neuen Funktion in die Arbeit einzutauchen und die tiefe Verbindung zum Orchester zu verstärken. Ich arbeite schon lange mit der Staatskapelle, aber Einspringen ist immer etwas Anderes, besonders mit einem so großen Programm. Aber es hat uns sehr viel Freude gemacht, es hätte eigentlich nicht besser beginnen können.
Die Konzertkritiken waren auch durchweg positiv. In einem Artikel bin ich allerdings über die Formulierung, sie hätten ›absolute Professionalität bewiesen‹, gestolpert. Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich erst noch beweisen müssen?
Ja, immer, und noch mehr als Frau, das muss ich sagen. Es wird besser, aber wir leben in einer Welt, in der Frauen immer noch beweisen müssen, was sie können. Das spüre ich immer und immer wieder. Aber das hindert mich nicht am Arbeiten. Ich denke nicht zu viel darüber nach. Die beste Antwort ist einfach, die eigene Arbeit gut zu machen.
Sie haben in einem Radio-Interview gesagt, dass die Staatskapelle Halle einen ganz besonderen Klang hat, dadurch, dass einige Mitglieder im Orchester der Händel-Festspiele historisch informiert und auf historischen Instrumenten musizieren. Können Sie genauer erklären, was das macht mit dem Klang der Staatskapelle?
Der Klang ist voll von Kenntnis. Man spürt, dass die Musiker dort sehr viel Kenntnis einer großen stilistischen Bandbreite haben. Egal, welches Repertoire wir spielen, ich fühle die Wurzeln in der Alten Musik. Man kann sehr leicht und schnell arbeiten und sehr weit gehen in der Entwicklung von Stilen und der Einheit im Klang. Es ist sehr angenehm, mit einem Orchester alle Stile mit einem spezifischen Blick auf das jeweilige Jahrhundert, die jeweilige Zeit zu erarbeiten.
Wenn man weiß, wie man auf historischen Instrumenten musiziert, dann hat man ganz andere Möglichkeiten, auch auf modernen Instrumenten weiter zu gehen. Jemand, der mit einem historischen Bogen einen speziellen Klang schafft, der wird auch mit einem modernen Bogen noch weiter gehen in der Suche nach Farben, Artikulation. Und man kriegt eine größere Klarheit, eine andere Form der Reflexion, man denkt wirklich über die Dinge nach. Das meine ich mit dem Klang der Kenntnis.

Sie selbst kennen die historische Aufführungspraxis unter anderem aus dem Arnold Schoenberg Chor, in dem Sie während Ihres Studiums in Wien gesungen haben – welche Stimme eigentlich?
Sopran.
Singen Sie noch immer?
Unter der Dusche. Aber nicht als Profi. Meine Eltern sind beide Opernsänger. Ich war sehr lange Klavierbegleiterin in der Oper. Ich habe mich immer viel um die Stimme gekümmert. Dann war es logisch, dass ich auch singe. Diese Chance habe ich in Wien bekommen. Das war wirklich unglaublich. Die Dirigenten dort waren sehr wichtig für meine Entwicklung als Dirigentin – Nikolaus Harnoncourt zum Beispiel. Von Harnoncourt habe ich die barocke Aufführungspraxis gelernt. Das war eine faszinierende Zeit mit ihm, immer. Ich habe eigentlich meine ganze Karriere über mit modernen Instrumenten gearbeitet, aber ich habe mich sehr viel mit Barockmusik beschäftigt, wegen Harnoncourt und meiner Faszination für ihn.
Können Sie genauer sagen, was Sie vom ihm gelernt haben?
Zuerst: Die Art zu arbeiten, nachzudenken und sich Dinge vorzustellen – als Dirigent und als Mensch. Harnoncourt war jemand, der sehr menschlich war in seiner Art, in seiner Reflexion, seinem intensiven Nachdenken. Von ihm habe ich gelernt, dass man sehr viel Respekt haben muss gegenüber der Partitur, dem Stil und den Musikern. Und dann muss man natürlich viel arbeiten und sich intensiv mit der Aufführungspraxis beschäftigen, viel lesen, alle möglichen Infos sammeln… Manchmal habe ich nächtelang gearbeitet, nur um zu verstehen, ob zum Beispiel ein Menuetto wiederholt wird oder nicht. Man glaubt, dass das selbstverständlich ist. Ist es aber eigentlich nicht – genau im Gegenteil. Von Harnoncourt habe ich diese Freude am Suchen. Am Ende der Nacht – und auch das habe ich von Harnoncourt – weiß man aber nichts sicher, man wird nichts beweisen können. Man kann nur spüren und versuchen, mit viel Geschmack etwas Schönes zu kreieren. Das hat er mir beigebracht – die Dinge menschlich zu nehmen.
Sie sind jetzt selbst Lehrerin: Sie haben gerade eine Professur für Dirigieren am Pariser Konservatorium angetreten. Gibt es Dinge, die in Ihrer eigenen Karriere nicht optimal gelaufen sind und wo Sie sagen: Hier möchte ich konkret versuchen, das mit meinen Studierenden anders zu machen oder sie davor schützen?
Ich glaube, man lernt eigentlich sehr viel durch die Praxis – ein Orchester dirigieren und sich dadurch entwickeln. Eine große Chance für mich war eine Assistentenstelle [an der Opéra und dem Orchestre National de Montpellier]. Da habe ich sehr viel gelernt. Ich bereue eigentlich nichts. Meinen Studierenden werde ich sagen, dass sie versuchen sollen, so viel Erfahrungen vor dem Orchester wie möglich zu bekommen. Das ist das beste. In Paris werden wir versuchen, etwas mehr Orchestertermine für die Studierenden zu bekommen, und wenn das nicht möglich ist, dann wenigsten Ensembles oder Sänger dazu zu holen. Dirigieren ist einfach kommunizieren. Das Studium alleine vor der Partitur ist nur ein kleiner Teil unserer Arbeit.
Ich habe ja in Wien studiert und da hatte man immer die Möglichkeit – die Pflicht – sehr viel miteinander zu musizieren und auch sich selbst als Musiker zu entwickeln. Ich konnte dort Klavier und Geige spielen, singen, Kammermusik machen, Ensembles dirigieren, wirklich alles mögliche, sogar ein Mandolinen-Ensemble – mit dem habe ich die ganzen Wiener Walzer gemacht (lacht). Ich finde, in Paris ist das gemeinsame Musizieren nicht so gut entwickelt wie in Wien. Das ist eine Sache, die ich mitbringen will.
Sie haben eben von Ihrer Opern-Familie erzählt. Ich habe gelesen, dass Sie praktisch in der Oper großgeworden sind.
Ich bin da immer meinen Eltern gefolgt. Ich habe so viele Erinnerungen an alle diese Opern, an ganz verschiedene Aspekte – manchmal auch nur ein Kostüm oder eine Stimme. Aber meistens war es das Orchester. Mein Lieblingsort, um in der Oper auf meine Eltern zu warten, war neben dem Orchester im Graben, viel mehr als auf der Bühne. Der große Klang von großen Besetzungen im Graben, deutsche oder russische Musik – das ist meine erste Erinnerung. Das hat mich immer begleitet.
Hatten Sie nie einen Hänger – im Teenageralter mit 15 oder 16 Jahren mal keinen Bock mehr auf klassische Musik?
Total, jeden Monat (lacht). Mein Vater hat mir immer gesagt – und so mache ich das jetzt auch mit meinen Kindern – : ›Wenn du 18 wirst, kannst du selbst entscheiden. Bis dahin musst du klassische Musik machen.‹ Und er hatte recht. Nach ein paar Jahren hatte ich so viel Spaß, dass es mit 18 für mich undenkbar war, aufzuhören. Es ist sehr leicht, die Nase voll zu haben, weil es viel Zeit braucht und Mut und nicht so einfach ist wie zum Beispiel Videogames spielen. Aber man lernt, dass durch die Arbeit irgendwann auch der Spaß kommt.
Sind Sie im Orchestergraben in der Oper auch auf die Idee gekommen zu dirigieren?
Das kam schon sehr früh. Es gibt dieses Foto von mir: vier Jahre alt, auf dem Küchentisch stehend und eine Wagner-Oper, die im Radio lief, dirigierend. Mit 14 habe ich dann richtig angefangen am Konservatorium. Das war sehr früh, der Lehrer hat ein bisschen gezweifelt, ob er mich schon nehmen soll, er hatte nur ältere Studierende. Aber ich habe ihm so viel Druck gemacht, dass er keine Wahl hatte (lacht). Ich habe immer eine große Freude daran gehabt, mit vielen Leuten zu musizieren. Aber ich war Pianistin. Das war nicht so einfach: Ich habe viel Kammermusik gespielt und auch im Orchester Piano oder Celesta, aber das geht nicht bei allen Stücken und ich war oft frustriert, weil ich nie eine Brahms-Symphonie spielen konnte zum Beispiel. Geige spielen war da meine einzige Chance, das habe ich auch versucht mit 14, aber das war schon ein bisschen zu spät. Zum Dirigieren war es gut, dass ich das gelernt habe, aber ich hätte nie ein Niveau erreicht, mit dem ich in einem Profi-Orchester hätte musizieren können. Also war Dirigieren meine einzige Möglichkeit, im Orchester zu wirken. Und vom Gefühl her hat es von Anfang an gepasst.
Noch einmal zurück zum Klang: Sie haben angekündigt, auch den skandinavischen Klang nach Halle bringen zu wollen. Was heißt das konkret?
Als Französin komme ich natürlich mit meinem Repertoire nach Halle. Auch mit Skandinavien bin ich aber sehr verbunden, nicht nur durch meine Arbeit, auch persönlich. Ich habe mich dort immer sehr zu Hause gefühlt. Der französische und der skandinavische Stil haben sehr viel gemeinsam. Und ich dachte: Wenn wir jetzt beginnen, am französischen Stil zu arbeiten, können wir das auch auf den skandinavischen Raum erweitern. Es gibt da so viel wunderschönes Repertoire, das nie gespielt wird. Wir werden natürlich auch Sibelius machen, aber nicht nur. Es gibt Atterberg, wunderschöne Sachen wie die Klavierkonzerte von Stenhammar… Wir werden auch Solisten aus Skandinavien einladen und Dirigenten. Da wird schon etwas passieren in Halle, was man in der Gegend sonst nicht findet.
Haben Sie überhaupt noch Zeit, Urlaub oder Pause zu machen?
Ich versuche es. Die letzten Jahre waren sehr voll. Jetzt habe ich verstanden, dass ich auch manchmal – nicht nur für meine Kinder, auch für mich selbst und die Inspiration – Pause machen muss. Darin werde ich immer besser (lacht). Ich bin jemand, der sehr viel arbeiten muss und mag. Aber man darf nie vergessen: Wenn man dirigiert, muss man die Leute, die Musiker inspirieren. Man muss selbst von der Partitur inspiriert werden und das an das Publikum weitergeben. Wenn mein Kopf zu voll ist und ich darum nicht träumen oder mir Dinge vorstellen kann, dann ist die Musik tot. Und weil ich das verstanden habe, muss und werde ich immer mehr Urlaub machen. ¶