Ich saß in der Berliner Philharmonie, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin unter Kent Nagano, mit so etwas wie den »Greatest Hits« der deutschen Romantik und Spätromantik: Prelude und Liebestod aus Wagners Tristan und Isolde; eine orchestrale Version von Schönbergs Verklärter Nacht, Schuberts Unvollendete und die Vier letzten Lieder von Richard Strauss.

Über viele Dinge dachte ich an diesem Abend nach, zum Beispiel die Instrumentierung: wie es Schönberg wohl hinkriegte, bei Verklärte Nacht Rauheit und Schärfe der Fassung für Sextett in die Orchesterversion zu übersetzen; dass die Harfe beim Liebestod so weit von jeder Art Harfe entfernt ist, die eine wirkliche Isolde zu der Zeit gekannt haben könnte, wie der Juli vom Dezember; ich dachte über Gleichberechtigung nach und Ungleichheit: Das Orchester vor mir bestand zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen; eine Mezzosopranistin vor einem großen Orchester platziert, das hört sich gut an auf den besten Plätzen, nicht so sehr auf den billigen. Ich dachte auch an Wagners Nordische Mythologie und seine Vorstellung von einer Herrenrasse; über Schönberg, das prominenteste Opfer des Nazivitriols gegen jüdische Komponisten; ich dachte an Strauss’ Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus und fragte mich, was er wohl im Nachhinein gefühlt hat, zum Beispiel als er diesen Schwanengesang komponierte, sein letztes Werk, das so quer stand zu allen Nachkriegswirklichkeiten und der Musik, die von anderen europäischen Komponisten um dieselbe Zeit geschrieben wurde.

Wagner, Schönberg, Strauss: nur Schubert war irgendwie nicht im Gedankenstrang, der sich langsam in meinem Kopf entwickelte und der jeden dieser Komponisten in eine unterschiedliche Beziehung zu den Gräueln der Nazis setzte.

Und dann wurde Schubert auch Teil der Erzählung und brachte mich zu meiner Arbeit des Tages zurück: Über Musik und Folter schreiben.

Die Verwendung von Musik bei Folter und Misshandlung hat eine lange und weltumspannende Geschichte; es gibt viele Formen. Eine der verbreitetsten ist es, Gefangene dazu zu zwingen, zu singen oder zu tanzen, oftmals so, dass sie nicht nur psychologisch gequält werden, sondern auch körperlichen Schaden erleiden. Oder es wird mit sofortiger Exekution gedroht bei mangelhafter Darbietung. Menschen werden in anderen Fällen anhaltend lauter Musik ausgesetzt, das gehört zu einer Reihe von Methoden, die auf die sensorische Deprivation oder Überforderung abzielen. Musik wird auch eingesetzt zum Schlafentzug, zur Demütigung und vielen anderen Zwecken.

Eine Mexikanerin, die Opfer von Folter geworden war, erzählte im Interview mit Amnesty International, dass immer dann Musik gespielt wurde, wenn ihr Elektroschocks versetzt wurden. Ein Beispiel von vielen: Musik soll nicht nur Geräusche der Folter überdecken; bei genauerer Untersuchung ist sie oft eine zusätzliche Waffe gegen Gefangene, nicht zuletzt dann, wenn die Folter mit der Musik assoziiert wird. Dann löst Musik die Vorahnung aus, die Angst – die einer der wichtigsten Faktoren für Traumatisierung ist. Und so wird auch das Risiko einer erneuten Traumatisierung durch eben diesen Angstauslöser geschaffen.

Ariel Dorfmans Theaterstück Der Tod und das Mädchen – später erfolgreich verfilmt – ist eine der berühmtesten und eindrücklichsten Darstellungen der Foltererfahrung. Es geht um Paulina, eine Folterüberlebende in einem namenlosen südamerikanischen Staat, die mehrfach vergewaltigt worden war, während Schuberts Streichquartett No. 14 (mit dem Beinamen »Der Tod und das Mädchen«) im Hintergrund lief. Im Verlauf der Handlung – Paulina konfrontiert den Vergewaltiger – erklärt sie, wie das Stück in ihrem Kopf unauslöschlich mit der Foltererfahrung verbunden ist.

Dorfmans Stück ist fiktional, aber die Aussagen von Folterüberlebenden dienten als Grundlage. Eine jüngere Studie von Katia Chornik lieferte Hinweise zur Verwendung von Musik in Dorfmans Heimatland Chile während der Pinochet-Diktatur. Wahrscheinlich hat er Schuberts Musik wegen des Streichquartett-Titels gewählt, der zum Namen seines eigenen Stückes wurde. Aber er könnte auch durch einen anderen, nicht fiktionalen Arzt inspiriert worden sein: Die Holocaust-Überlebende Fania Fénelon berichtete, dass Schubert und Schumann Lieblingskomponisten von Josef Mengele waren, der wie viele andere SS-Offiziere gerne klassische Musik hörte. Juliane Brauer stellt in einem kürzlich erschienen Artikel eine weitere Schubert-Verbindung vor, die sie aus der Prozessbefragung von Wächtern des KZ Sachsenhausen nach dem Krieg entnommen hat. 1942 schlugen zwei betrunkene SS-Leute Gefangene vor ihren Baracken zusammen; einer der Wächter brachte eine Waffe zum Vorschein und verlangte von einem der Gefangenen Schuberts Ave Maria zu singen. Das ist nur eines von zahllosen Beispielen von erzwungenem Singen in Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis, wo Musiker auch systematisch Musik als Zwangsarbeit verrichten mussten.

Es geht bei Folter immer um Macht, nie nur um die extreme Form der Gewalt. Folter zeichnet sich immer durch die absolute Machtlosigkeit eines menschlichen Wesens im Angesicht der absoluten Macht eines anderen aus. Daher ist sie ein so verheerender Angriff auf die menschliche Würde und die Persönlichkeit. Ich habe an anderer Stelle detailliert dargelegt, dass Musik ein so wirkungsvolles Folterinstrument sein kann, weil sie Machtgefüge repräsentieren und verstärken kann. In der Folter findet Musik aller Genres und Stile statt. Sie hat fast immer mit dem zeitgeschichtlichen, kulturellen oder politischen Kontext zu tun, in dem gefoltert wird. Aber sie ist keinesfalls begrenzt auf die Ausdrucksarten, die oft als »gewalttätig« oder »aggressiv« beschrieben werden. Sie muss nicht einmal besonders laut sein, sofern die Lautstärke nicht zur Foltertechnik gehört. Es gibt immer mehr Hinweise, die darauf hindeuten, wie verbreitet Musik im Zusammenhang mit Folter und anderen Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist; durch die Zeugenaussagen von Überlebenden kann man inzwischen die verheerenden Auswirkungen verstehen.

Diese Arbeit ist sehr wichtig, nicht zuletzt, weil sich viele Menschen schwer vorstellen können, dass Musik zum Folterinstrument wird. Über weite Strecken gilt das zwar auch für andere Arten sogenannter psychischer Folter, aber die Art, wie wir über Musik denken, spielt auch eine Rolle. Wir sind es gewohnt, der Musik positive Eigenschaften zuzuschreiben, sie mit glücklichen und bedeutenden Ereignissen in unserem Leben zu verbinden, so dass es für uns schwer vorstellbar ist, wie sie eine Quelle der Zerstörung, von Trauma und Schmerz sein kann. Das verschärft sich bei einem Repertoire wie dem bei meinem Konzert am letzten Freitag, das eng verknüpft ist mit Vorstellungen von Transzendenz und Erlösung und immer wieder als Spitze der musikalischen Leistungen des Menschen ins Spiel gebracht wird. Als der Verdacht aufkam, dass der deutsche Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht als junger Soldat Anfang der 1940er Jahre an Massenmorden an Juden beteiligt war, da verteidigte ihn zumindest ein Musikwissenschaftler mit dem Argument, Eggebrecht habe in seinen Briefen nach Hause darüber gesprochen, Beethoven zu spielen, das zeige einfach, dass er an etwas so unmenschlichem nicht dabei gewesen sein könnte.

Das ist zwar bizarr, aber nicht ungewöhnlich. Immerhin ist es einfacher, die Welt aufzuteilen in die, die zivilisiert und jene, die es nicht sind, als die Basis dieser Einteilung in Frage zu stellen, oder auch unseren Anspruch, auf der Seite der Guten zu stehen. Solche Einteilungen sind wieder bedeutend geworden vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise, wo sogar Politiker der Mitte grundlegende Menschenrechte und humanitäre Erfordernisse ignorieren. Der race to the bottom in Sachen Asylrecht hat eine direkte, zerstörerische Wirkung auf Überlebende von Folter. Die jüngsten Änderungen am deutschen Asylrecht, die das Prozedere beschleunigen und die Ausweisung einfacher machen sollen, werden verhältnismäßig viele traumatisierte Menschen diskriminieren: teilweise, weil es oft mehr Zeit braucht, das sagen Therapeuten, bis man sich ein Bild von der Geschichte einer traumatisierten Person machen kann; aber noch mehr, weil Posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD, engl. post-traumatic stress disorders) weniger Gewicht bei Asylanhörungen haben werden. PTSD, so der Gesetzgeber, seien schwer mit Gewissheit zu diagnostizieren und werden daher oft vorgeschoben, um die Abschiebung zu verhindern. Diese Logik ist so falsch wie sie zynisch ist, wenn man sich den Umfang von Diagnostik-Handbüchern und Richtlinien klarmacht, die Therapeuten und Medizinerinnen zur Verfügung steht und die auch das Ergebnis seit Langem bestehender Forschung und Praxis zum Umgang mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Folter sind. Was die Änderungen am Asylverfahren bedeuten, ist, dass jene, die am meisten leiden, am wahrscheinlichsten wieder in die Länder geschickt werden, in denen sie verfolgt wurden. Es ist noch nicht lange her, dass Formen sogenannter psychologischer Folter rechtlich gar nicht als solche anerkannt waren.

Sogar unter Menschenrechtlern herrscht immer noch zu wenig Bewusstsein über die Auswirkungen bestimmter Arten von Folter, darunter auch die mit Musik – und das, obwohl die Medien umfassend über die Benutzung von Musik im »War on Terror« der CIA berichtet haben und trotz der Forschung auf diesem Gebiet, wo vor allem die Musikwissenschaftlerin Suzanne Cusick zu erwähnen ist. Die Debatte darüber, was Folter ist und was nicht, entwickelt sich weiter, parallel zu unserem Verständnis geistiger Gesundheit und noch allgemeiner, Wohlbefinden. Die Tendenz, die wir gerade in vielen Ländern beobachten können, die Realität von Folter anzufechten und kleinzureden, läuft Gefahr, alle Fortschritte der letzten Jahrzehnte im Kampf gegen Folter zunichte zu machen. Das spielt in die Hand derer, die foltern und wissen, dass die schlimmsten Wunden, die die Folter hinterlässt, die sind, die am Schwierigsten vor Gericht zu beweisen sind. Und nicht nur in dieser Hinsicht versagen wir angesichts der überlebenden Opfer. 2013 wurde ein Bericht von der Britischen NGO Freedom from Torture veröffentlicht, der auf die Folgen von Armut auf das Leben von Folterüberlebenden aufmerksam machte. Der Bericht enthält Geschichten von Menschen, die sich die Fahrt zu Therapiestunden nicht leisten konnten oder einem ernsthaft unterernährten Überlebenden, der sich nicht genug Essen leisten konnte, um an Körpermasse zuzulegen – was ihm sein Arzt für die Wiedergenesung dringend empfohlen hatte.

Die UN-Anti-Folter-Konvention verbietet nicht nur Folter und andere Formen gewaltähnlicher, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Sie verpflichtet auch Staaten dazu, Folter vorzubeugen und Überlebende zu rehabilitieren – dazu gehören auch jene, die Asyl suchen oder als Flüchtlinge gelten. Indem sie einen Kurs einschlagen, der dies demonstrativ erschwert, können sich Regierungen an Foltergeschehnissen mitschuldig machen, die von anderen Staaten begangen wurden und die für viele Opfer nach der Befreiung einfach nicht enden werden, nicht enden können. Vor ein paar Jahren sprach ich mit einem Mann, dessen Onkel gezwungen wurde, die Lieder des politischen Gegners, der ihn eingesperrt hatte, zu singen. Als er freikam, sang er die Lieder für sich weiter: er hatte Horror davor, wieder eingesperrt zu werden und dann vergessen zu haben, wie sie gehen. Keine Lösung für ihn, keine Kadenz, nur die dauernde Zugabe seines eigenen Traumas, unvollendet. ¶