Das große Orchester der Tiere

Textpassagen Bernie Krause © Verlag Antje Kunstmann 2013 · Soundfiles © Wild Sanctuary 2013 · Illustrationen Creative Commons · Datum 8.6.2016

Seine Leidenschaft für die Klänge der Natur hat den Musiker Bernie Krause, der als Spezialist für elektronische Musik mit The Doors, Bob Dylan und George Harrison zusammenarbeitete, zum Forscher und Pionier der »Biophonie« gemacht. Vierzig Jahre umreiste er die Welt, um den Reichtum der Arten und die Klanglandschaften ursprünglicher Habitate, aber auch deren fortschreitende Zerstörung zu dokumentieren. Er hat am Amazonas Jaguars bei ihrer nächtlichen Beutejagd belauscht, Gorillas besucht und den Gesang der Buckelwale aufgenommen. Sein Buch Das große Orchester der Tiere (erschienen beim Verlag Antje Kunstmann) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Hören und die Erhaltung einer übersehenen, aber nicht minder bedrohten Ressource: der Musik der Wildnis, die am Ursprung der des Menschen steht.

Klang als mein Mentor

Es war ein glücklicher Zufall, der mich auf die Spur der Naturgeräusche führte. Ursprünglich war ich Gitarrist und spielte als Studiomusiker bei Sessions aller Art in Boston und New York. Als Mitte der 1960er-Jahre Musiker mit Synthesizern zu experimentieren begannen, zog ich nach Kalifornien, um am Mills College als Gasthörer Veranstaltungen zu elektronischer Musik zu besuchen. Dort lernte ich Paul Beaver kennen, einen Studiomusiker und Konzertorganisten aus Los Angeles, der für Filme wie Der Schrecken vom Amazonas und Krieg der Welten bizarre Soundeffekte kreiert hatte.

Die wunderlich klingenden Werkzeuge, die Paul für sein spezielles Gewerbe verwendete, waren frühe synthesizerartige Instrumente wie das Ondes Martenot, das Hammond Novachord und das Theremin, das eine gespenstisch schwankende Sopranstimme erzeugte, und eigene Erfindungen, darunter ein zwei Oktaven umfassender Keyboard-Synthesizer, verwendbar für schrille Science-Fiction-Effekte, den er »Kanarienvogel« nannte. Wir fanden sofort zu einer kreativen Synergie und gründeten das Duo Beaver and Krause. Gemeinsam führten wir den Synthesizer in Popmusik und Film ein, brachten fünf eigene Alben heraus und lieferten Musik und Effekte für viele Spielfilme – darunter Rosemary’s Baby, Apocalypse Now, Die Dämonischen und Performance – sowie für Fernsehserien wie Kobra, übernehmen Sie, Twilight Zone und Verliebt in eine Hexe (Bewitched). Wir arbeiteten so viel – manchmal achtzig Stunden die Woche –, dass ich mich nur an einen einzigen Aufnahmetag deutlich erinnere, und zwar mit den Doors für Strange Days. Zu Beginn der Session war die Musik voller Spannung und Energie. Aber im Lauf eines langen Abends wurden die Tracks zunehmend fragmentiert und schienen auseinanderzufallen. Als mir schließlich klar wurde, dass der Qualitätsverlust keine Ermüdungserscheinung war, schwor ich mir, künftig die Finger von Drogen zu lassen. Man schrieb das Jahr 1967.

1968 wurden Paul und ich von Warner Brothers für mehrere Platten unter Vertrag genommen. Den Anfang machten wir mit In a Wild Sanctuary, das erstmals ein Musikstück enthielt, in dem über lange Strecken Naturgeräusche als Komponenten der Orchestrierung eingebaut wurden; auch dass Ökologie zum Thema gemacht wurde, war ein Novum. Aber Vorreiter zu sein hieß, dass wir die Geräusche selbst sammeln mussten. Aus Angst um seinen blauen zweireihigen Kammgarnanzug und seine eleganten Halbschuhe – in denen Paul auch den Hitzewellen in Los Angeles trotzte – verweigerte er Expeditionen in die Wildnis und überließ diese Aufgabe mir.

In Paris startet am 2. Juli bei der Fondation Cartier die aural-visuelle Ausstellung zum Buch, hier gibt es weitere Informationen.  

VAN verlost für die Leser auf dem Sperrsitz zwei Exemplare des Buches.

Der Schriftsteller Thomas Hardy meinte einmal, es gebe zufällige Begegnungen, die den Lauf unseres Lebens änderten. Eine unerwartete Begegnung mit einem Menschen. Ein verlorener oder ungelesener Brief. Die lebhaften Farben eines Sonnenuntergangs. Eine Musikdarbietung. Dieses erste Projekt schien voller Möglichkeiten, solch einen Hardy’schen Zufall zu erleben, und ich machte mich mit einem tragbaren Rekorder und zwei Mikrofonen auf den Weg, um in und um San Francisco, wo ich damals lebte, Aufnahmen zu machen.

Im Oktober gab es zu der Zeit kaum Vögel zu belauschen – die meisten waren schon flügge und auf und davon, oder sie schwiegen. Dennoch, als ich an einem wunderschönen Herbsttag des Jahres 1968 im Schutzgebiet Muir Woods mein Mikrofon einschaltete, veränderte der mich einhüllende Raum mein akustisches Feingefühl. Der Sommernebel löste sich nach einer Weile auf, die Herbstsonne drang durch die Wipfel der altehrwürdigen Küstenmammutbäume und malte Lichtflecken auf den Boden. Abgesehen von ein paar kleinen Flugzeugen und gelegentlich einem Auto in der Ferne stammte das gedämpfte Hintergrundgeräusch – ein stetiges meditatives Wispern – von einer sanften Brise in den oberen Regionen des Waldes. Obwohl ich anfangs Angst davor hatte, allein zu sein – und sei es in einem Naherholungsgebiet wie Muir Woods –, wurde ich nach einer Weile vollkommen ruhig.

Wie ein Fernglas holten Mikrofone und Kopfhörer das Geräusch in unmittelbare Nähe und offenbarten mir Einzelheiten, die für mich vollkommen neu waren. Einige Vögel flogen droben durch den Stereoraum der Mikrofone – von rechts nach links –, der langsame Rhythmus der Schneidetöne ihrer wogenden Flügel war ein durchlässiger Mix aus Schwirren und abebbendem Zischen. Mit meinem tragbaren Aufnahmegerät war ich kein aus der Ferne Lauschender; vielmehr war ich in einen neuen Raum hineingezogen und ein integraler Teil der Erfahrung selbst geworden. Es war einer jener Augenblicke, auf die man zurennt und sie mit offenem Geist voll und ganz bejaht, voller Angst, es könnte gleich wieder vorüber sein, und in dem Wissen, etwas erlebt zu haben, nach dem man sich immer wieder sehnen wird.

Allein mit meinem Rekorder am Boden hockend und bemüht, klein und unauffällig zu erscheinen, wurde ich von jedem neuen Geräusch überrascht. Viele der subtilen akustischen Texturen rundum wirkten durch meine Stereokopfhörer überstark, denn ich hatte die Monitorpegel aufgedreht, um nichts zu versäumen. Die Wirkung war unmittelbar und heftig. Verlockende, erhebende Eindrücke von Leichtigkeit und Raum. Die Umgebungsgeräusche wurden in winzige Einzelheiten aufgelöst, die ich mit meinen Ohren allein niemals wahrgenommen hätte – das Geräusch meines Atems, die sachte Bewegung meines Fußes, der eine bequemere Position sucht, ein Schniefen, ein Vogel, der neben mir auf dem Boden landet, Laub aufwirbelt und dann mit seinen Flügelschlägen die Luft in kurzen, raschen Stößen bewegt, als er alarmiert wieder abhebt.

Schon damals wurde mir klar, dass Naturgeräusche einen riesigen Vorrat wertvoller Informationen bereithalten könnten, die nur darauf warten, entwirrt zu werden. Bis dahin war mir die Erkenntnis verschlossen geblieben, dass die Welt der Natur mit einer solchen Fülle wundersamen Geplappers durchdrungen ist. Wie sollte man das auch wissen? Viele von uns unterscheiden nicht zwischen dem Akt des Zuhörens und dem des Hörens. Es ist eine Sache, passiv zu hören, etwas ganz anderes ist es, mit ganzer Hingabe und aktiv zu lauschen.

Bernie Krause – Muir Woods

Meine Ohren hörten zwar Geräusche, aber sie waren nicht geschult, die vielen Feinheiten einer ungezähmten Natur zu unterscheiden. Schon immer hatte ich meine Ohren als Filter benutzt, um Lärm auszublenden, und nicht als Pforten, durch die große Informationsmengen Einlass finden. Ein hochsensibles Mikrofonsystem erlaubt mir die Unterscheidung zwischen den Geräuschen, die ich wahrnehmen, und denen, welchen ich nachlauschen sollte. Über Kopfhörer vernehme ich Ausschnitte des akustischen Gewebes in so wunderbar klaren Details, dass es mich immer noch überrascht, wie viel ich früher versäumt habe. Zwei Stereomikrofone verwandeln den akustischen Raum – und wenn ich eine Lautstärke wähle, die ein wenig über der liegt, die ich ohne Hilfsmittel höre, bekomme ich einen Eindruck von dem, was »nicht von dieser Welt« ist, vielleicht ähnlich dem, was Astronomen wahrnehmen, wenn sie über das Hubble-Teleskop Bilder einer explodierenden Supernova aus fernen Winkeln des Universums empfangen.

Dorothea Lange, amerikanische Fotojournalistin der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, sagte einmal, eine Kamera sei ein Hilfsmittel, um ohne Kamera sehen zu lernen. Nun, dann ist ein Rekorder ein Hilfsmittel, um ohne Rekorder hören zu lernen.

Der orchestrierte Klang des Lebens

Bei meiner Suche nach einem einfachen, aber aussagekräftigen Begriff für die Tiergeräusche der Wildnis erschienen mir die infrage kommenden Ausdrücke zu wissenschaftlich abgehoben und unverständlich. Im Bereich menschlicher Lautgebungen waren die Wörter geradezu nichtssagend, zum Beispiel »anthropogene Geräusche«. Nichts passte so recht. Dann kam ich zufällig auf eine griechische Vorsilbe und eine Nachsilbe, die den richtigen Ton trafen: bio für »Leben« und phon mit der Bedeutung »Laut, Ton, Stimme«. Biophonie: die Laute lebender Organismen.

Neben den in der Klanglandschaft verborgenen akustischen Hinweisen kann uns die Biophonie insgesamt wertvolle Informationen über den Zustand eines Habitats geben. In einer ungestörten natürlichen Umwelt variieren Vielfalt und Inhalt der Klanglandschaften von Jahreszeit zu Jahreszeit, im Lauf eines Tages und je nach Wetter. Die für einen Ort einzigartigen organischen und nichtorganischen Elemente befinden sich in einem empfindlichen Gleichgewicht und charakterisieren jedes Habitat akustisch, so wie jeder Mensch seine typische Stimme, seinen Akzent und Tonfall hat.

Vor über 20 Jahren fragte ich einen Biologen, der für eine große Holzfirma arbeitete, ob ich in einem »Waldbewirtschaftungsgebiet« in der kalifornischen Sierra Nevada Aufnahmen machen dürfe, wo seine Firma eine Genehmigung für selektiven Holzeinschlag im Staatswald besaß. Der Ort: Lincoln Meadow am Yuba Pass, ungefähr dreieinhalb Autostunden östlich von San Francisco. Die gut einen Kilometer lange und rund 400 Meter breite Grasfläche war durch einen Bach geteilt und von Gelbund Küstenkiefern, Purpurund Koloradotannen und Douglasien sowie von einigen Mammutbäumen gesäumt. Den ganzen Frühling über waren dort zahlreiche Froscharten zu hören. Es war ein klangreiches Idyll. Bei Veranstaltungen in der Gegend versicherten der Biologe und seine Kollegen der Gemeinde, die neue Methode des selektiven Holzeinschlags ihrer Firma habe keine negativen Folgen für das Habitat; nur hie und da würden ein paar Bäume gefällt, die große Mehrheit der gesunden alten Mammutbäume bliebe verschont. Ich bat um Zugang zu dem Gebiet, um vor und nach den Fällarbeiten Aufnahmen zu machen.

Bernie Krause – Lincoln Meadow 1988, vor dem Holzeinschlag

Mit dem Segen der Firma installierte ich während der Sommersonnenwende 1988 meine Geräte auf der Wiese und zeichnete in der Morgendämmerung eine herrliche Klanglandschaft mit einer breiten Vielfalt von Tierlauten auf. Bei Abbildung 1 handelt es sich um die grafische Darstellung eines 22-sekündigen Klanglandschaftsclips vor Ort. (Eine meine Doktorandinnen bemerkte, das Spektrogramm der Lincoln Meadow erinnere sie an das abstrakte Gemälde eines Waldes.) In der ersten Aufnahme waren der Kiefernsaftlecker (eine Spechtspezies), die Bergwachtel, die Schwirrammer, die Dachsammer, die Lincolnammer, das Rubingoldhähnchen und zahlreiche Insekten zu hören. Beachten Sie die Dichte der gesamten Grafik.

Bernie Krause – Lincoln Meadow 1988, NACH dem holzeinschlag 

Ein Jahr später, nach Abschluss des Holzeinschlags, kehrte ich am gleichen Tag des Jahres, zur selben Uhrzeit und unter denselben Wetterbedingungen auf die Lincoln Meadow zurück. Erst einmal freute ich mich, dass sich scheinbar wenig geändert hatte. Doch sobald ich den Aufnahmeknopf drückte, wurde klar, dass die einst klangvolle Stimme der Wiese verstummt war. Verschwunden waren das Gedränge und die Vielfalt der Vögel. Verschwunden war auch die allgemeine Fülle des Vorjahrs. Die vorherrschenden Klänge waren das Plätschern des Bachs und das Hämmern eines Kiefernsaftleckers. Vom Wiesenrand aus ging ich ein-, zweihundert Meter in den Wald hinein, und da wurde klar, dass die Holzfirma, von der Wiese her nicht einsehbar, ein Werk der Zerstörung angerichtet hatte. Es war nicht gerade ein Kahlschlag, aber man hatte erheblich mehr Bäume gefällt als angekündigt. Auf Abbildung 2 ist der Bach als horizontaler hellgrauer Abschnitt am unteren Rand zu sehen, und der Specht verursacht die senkrechten Linien im Zentrum des Bildes. In den letzten 20 Jahren bin ich über ein Dutzend Mal um dieselbe Jahreszeit auf die Wiese zurückgekehrt, aber die bioakustische Vitalität, die ich vor der Abholzung eingefangen hatte, hat sich noch nicht wieder eingestellt.

Biophonie: Das Proto-Orchester

Es war kurz vor der Morgendämmerung im Rehabilitationszentrum für Orang-Utans von Camp Leakey, und ich saß am Ende eines Kais in einem Turm, der etwa 15 Meter über dem vorbeifließenden Sekonyer River mit seinem Schwarzwasser aufragte, gerade so hoch, dass man mitten in den opulenten Waldbaldachin hineinblicken konnte, wo Gibbons und andere Primaten dieser Gegend den Großteil ihres Lebens verbringen. Die Gibbons Indonesiens sind Sänger des Sonnenaufgangs. Ihre Gesänge sind so schön, dass es in alten Mythen der Dayak, der Ureinwohner Borneos, heißt, sie seien der Grund, warum die Sonne aufgehe. In den noch verbliebenen lebensfähigen Regenwaldhabitaten Borneos und Sumatras ist der Morgenchor von lang gezogenen abund aufsteigenden Stimmlinien aus der Nähe und Ferne durchdrungen, die von Gibbonpärchen stammen. Sie treten durch einen hochdifferenzierten vokalen Austausch miteinander in Verbindung, der bei jedem Paar anders ist – verlockende Duette der Zärtlichkeit und Eintracht.


Bernie Krause – GIBBONS

Als wir am Morgen nach unserer Ankunft die verträumten, glissandoartigen Stimmlinien der Gibbonchöre aufnahmen, fühlte ich mich an die vielen melodischen und klar arrangierten vokalen Opern und Folkduette erinnert, die ich in all den Jahren gehört und aufgeführt hatte. Wieder zu Hause, stieß ich auf ein chinesisches Gedicht aus dem 4. Jahrhundert, das genau das zum Ausdruck brachte, was ich an jenem Tag empfunden hatte:

»Traurig sind die Rufe der Gibbons in den drei Schluchten von Patung. Nach drei Rufen in der Nacht netzen Tränen die Kleidung [des Reisenden].«

Leider sind Gibbons in China inzwischen ausgestorben. In Indonesien kann man sie, wie mehrere eng verwandte Unterarten, in schwindender Zahl überall im Norden Sumatras um die Provinz Aceh – die im Dezember 2004 von einem Tsunami getroffen wurde – sowie in Borneo finden. Ihre Duette umfassen oft mehr als dreieinhalb Oktaven, doch bemerkenswerterweise fügen sich die Gibbonstimmen vollkommen in die übrige Biophonie ein.

Jede dieser Entdeckungen war für mich eine kleine Offenbarung, aber dabei blieb es nicht. Irgendwann stellte ich fest, dass das biophonische Verhalten, das ich auf dem Papier ablas, wahrscheinlich nicht einzigartig für Afrika und Borneo war, denn ich fand auch vor unserer eigenen Haustür Anzeichen einer zeitlichen Abstimmung. Die nordpazifischen Laubfrösche wetteifern zeitlich und frequenzmäßig um akustische Bandbreite: Auf den Ruf eines Frosches folgt unmittelbar der eines anderen mit einer höheren Frequenz. Im Kampf um das akustische Revier oder bei dem Versuch, eine attraktive Partnerin anzulocken, überlappen sich manchmal ihre Rufe. Die drei Exemplare, die im Umkreis unseres kleinen Schwimmbeckens leben, haben bereits ihr Terrain abgesteckt – jeweils eins an den beiden gegenüberliegenden Enden und eins im Gras etwa in der Mitte zwischen den beiden. Obwohl ihre stimmlichen Äußerungen hinsichtlich der Frequenz leichte Unterschiede aufweisen und in einem Chor herauszuhören wären, überschneiden sie sich zeitlich nur selten. Vielmehr singen sie in einem sauberen, gut strukturierten Rhythmus ähnlich dem Walzer im Dreivierteltakt, wobei der Alpha-Frosch das Tempo vorgibt. Egal, wie schnell der Alpha-Frosch quakt, die anderen füllen in rascher Folge die Zwischenräume mit ihrem eigenen, unverwechselbaren Quaken, wobei keiner einen anderen übertönt. Wenn sie dann richtig in Schwung kommen, ist es ein schneller Sechsachteltakt. Ich habe keine Ahnung, welcher Frosch die ersehnte Partnerin fand, aber in einem Jahr quakte der Alpha-Frosch bis Anfang Juni solo. Offensichtlich immer noch auf elegante Weise dem Wettbewerb verhaftet, schlug er den Takt mit einem einzelnen Quaken und Pausen auf den anderen Schlägen, die die anderen Frösche, wären sie nicht Mitte Mai verstummt, hätten füllen können. Andere Beispiele für verschiedene Bandbreiten zeigten sich überall in den zahlreichen Spektrogrammen, die ich ausdruckte – von Aufnahmen in Äquatorialafrika, Südasien und Südamerika.


Bernie Krause – LAUBFRÖSCHE

Die Coda der Hoffnung

In seinem Buch Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück schreibt Richard Louv: »Es ist noch nicht lange her, da bestand die Melodie der Tage und Nächte von Jugendlichen großenteils aus den Noten der Natur. Die meisten Menschen wuchsen auf dem Land auf, arbeiteten und fanden dort auch ihre letzte Ruhestätte. Die Beziehung war unmittelbar.«

Obwohl sich die Landschaft meiner Kindheit im Übergang vom Ländlichen zum Urbanen befand, hallt der Soundtrack, von dem Louv spricht – und der vor 70 Jahren in das Gehirn des Kindes eingebrannt wurde –, immer noch klar und deutlich in mir nach. Wenn wir unsere Hörneuronen frühzeitig schulen, bleibt uns das so erworbene Gehör und die Offenheit für Hörerlebnisse – Ähnliches gilt für das  Fahrradfahren oder Schwimmen – meist erhalten, insbesondere, wenn wir sie ab und zu aktivieren. Mich hat die Wildnis zwar stets auf rätselhafte Weise angezogen, aber ich bekam erst mit fast 30 Jahren die Gelegenheit, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Damals war mein Gehör intakt, jedoch aufgrund von Trägheit und weil ich, gedrängt von Freunden und Wissenschaftskollegen, von den Klängen der Wildnis zu einer eher formalisierten Musik übergegangen war, schlechter geworden. Auch übten die Kraft urbaner Klanglandschaften und die aufkommenden Technologien der Musikindustrie eine enorme Anziehungskraft auf mich aus. Mit dem Synthesizer und meinem Eintritt in die Musikwelt Hollywoods wurde ich Teil eines Systems – eines exklusiven Zirkels von Künstlern, Studiomusikern und Produzenten –, in dem alle willige Gefangene waren. Eine Zeit lang verdiente ich fast mühelos mein Geld, und mein Ego erfuhr enorme Bestätigung. Doch der geruhsame unterschwellige Klangstrom meiner jungen Jahre war nur unter einem Berg von Lärm vergraben und wurde wieder zum Leben erweckt, kaum dass ich vor ungefähr 40 Jahren den Wald von Muir Woods betrat und einen Rekorder einschaltete.

Der Ökologe Paul Shepard ging sogar so weit zu vermuten, dass die akustischen Elemente von Urlandschaften in unsere DNA eingeschrieben sein könnten. Den Gedanken entwickelte er, lange bevor das menschliche Genom kartiert wurde, und er glaubte, Klanglandschaften würden, wie alle anderen Klangarten auch, physisch von uns aufgenommen und im Lauf der Zeit genetisch verankert. Darüber hinaus meinte er, eine lebenslange Verbindung zu den natürlichen Klanglandschaften der Welt sei entscheidend für unser emotionales, spirituelles und physisches Wohlbefinden. Dem kann ich nur beipflichten und damit Shepard meinen Respekt zollen.

Tief in uns verborgen finden sich Spuren dieser genetischen Verbindung: Im Lauf meiner vielen Gespräche mit R. Murray Schafer meinte der Komponist und Musiker einmal, dass wir alle emotional wie physisch von einem bestimmten natürlichen Klanglandschaftstyp angezogen würden, der zu verschiedenen Zeiten in unserem Leben auftauche. Bei manchen ist es der Klang der Wellen am Meer oder an den Ufern eines Sees. Andere neigen eher zu Auenlandschaften, bewaldeten Gebieten, durch die ein Fluss fließt. Wieder andere sind bezaubert vom zarten Wind und dem Geflüster der Lebewesen in den Hochwüsten oder den alpinen Regionen der Welt. Und zweifelsohne gibt es auch die, die von bestimmten Musikrichtungen oder dem Chaos der Metropolen angelockt werden, wo der Lärm »Action« und Betriebsamkeit signalisiert.

Jeder verfügt in sich über eine Totem-Klanglandschaft, wie ich es nenne, die wir hören, wenn wir in den Spiegel schauen oder uns unserem Partner zuwenden, um mit ihm über eine Atempause vom Alltag zu sprechen. Ich neige zu dem Gedanken, dass, wie bei der Entscheidung, die ich nach meinem ersten Aufnahmetag im Muir Woods traf, unser wildes limbisches System, das sonst heftig unterdrückt wird, viele dazu bringt, instinktiv – unbewusst, reflexhaft – auf der Grundlage von Klängen lebensentscheidende Beschlüsse zu fassen.

Als Achtzehnjähriger konnte ich nicht ahnen, welche Richtung mein Leben einmal nehmen würde. Inzwischen habe ich weit mehr als die Hälfte meiner Jahre mit der Aufnahme von Klängen lebender Organismen und natürlicher Habitate verbracht. Für mich gibt es keine Aufgabe, die lohnender oder fesselnder sein könnte. Nichts Herrlicheres, nichts Heilsameres, nichts, was mehr über unser Verhältnis zur Natur offenbaren würde. Jedes Habitat mit seiner einzigartig strukturierten Stimme ist für mich eine Art Musikbibliothek, deren Partituren die »Natur« als Ganzes um ihrer selbst willen aufführt.

Die kollektive Stimme der natürlichen Welt ist die älteste und schönste Musik auf diesem Planeten. Aber wilde Klanglandschaften sind nicht so ohne Weiteres zu haben – und wenn wir sie überhaupt hören wollen, müssen wir ihnen sorgfältig Beachtung schenken und Ehrfurcht entgegenbringen.

Viele Menschen halten es »auf dem Land« (ganz zu schweigen von der echten Wildnis) und fern von der urbanen Welt schlicht nicht aus. Meine Frau Kat und ich vermieten ein Ferienhaus auf unserem Grundstück im Weinbaugebiet des Sonoma County, und vor ein paar Jahren kam ein junges Paar aus New York City, um dort ein ruhiges spätsommerliches Wochenende zu verbringen – das die meisten unserer Gäste auch tatsächlich erleben. Als ich gegen 6.30 Uhr am nächsten Morgen – einem atemberaubenden und strahlenden Tag – unser Haus verließ, um in der morgendlichen Stille einen Waldlauf zu machen, sah ich, wie das Pärchen reisefertig gekleidet sein Gepäck, das am Fuß der Treppe stand, in den Wagen lud. Die beiden wirkten ziemlich beklommen. »Was ist los?«, fragte ich, entsetzt darüber, dass sie so hektisch aufbrechen wollten. »Es ist uns zu ruhig hier«, erwiderte die Frau mit einer Spur von Angst in der Stimme. »Wir konnten nicht schlafen, und obwohl wir alle Fenster geschlossen hatten, haben wir ständig diese verdammten Grillen gehört. Wir checken aus und fahren nach San Francisco. Dort haben wir ein Zimmer in der Innenstadt reserviert, mitten im Geschehen.« (Nach diesem Vorfall habe ich der Sammlung von CDs mit urbanen Klanglandschaften, die neben dem Gästebett steht, eine Reihe von Aufnahmen aus New York, Chicago, Lissabon, Paris und von ein paar Schnellstraßen in L. A. hinzugefügt.) ¶



Bernie Krause: Das große Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur, (Orig.: The Great Animal Orchestra), Verlag Antje Kunstmann, erschienen 2013