Das Ineinandergreifen von Musik und politischer Aktion erreichte mit den politischen Turbulenzen der 60er und 70er Jahre seinen Höhepunkt. Von Bob Dylans With God on Our Side bis zu Sam Cookes A Change is Gonna Come – während des Kalten Krieges glaubten die Menschen selbst angesichts der drohenden Vernichtung unseres Planeten noch immer daran, die Welt durch Musik zu einer friedlicheren und gerechteren machen zu können. Und obwohl der von Cookes angekündigte Wandel zumindest in Teilen kam – nämlich in Form der Bürgerrechtsbewegung – bedeutete das Ende des Kalten Krieges keinesfalls weltpolitische Stabilität.

Trotzdem predigen Künstlerinnen, Schriftsteller und Musikwissenschaftlerinnen nach wie vor, Musik habe die Kraft, das politische Geschehen zu beeinflussen. Die Ode an die Freude ist längst zum Klischee einer Einheits- und Brüderlichkeits-Hymne verkommen und wird als solche gern von allen möglichen Regierungen, demokratischen und weniger demokratischen, angestimmt. Überhaupt gilt klassische Musik per se als Gemeinschaft stiftende Kraft. Barenboims West-Eastern Divan Orchestra wird im Westen einhellig für seine stete Demonstration des Glaubens an die Möglichkeit einer friedlichen Welt gefeiert. Dass gerade das Ideal vom Weltfrieden kulturell auf einer eindeutig westlichen Tradition fußt, war im Nahen Osten schon öfter Grund für Kritik. Kann Musik allein jemals eine erfolgreiche politische Aktion sein?

Foto Julius Schmid (Public domain), via Wikimedia Commons
Foto Julius Schmid (Public domain), via Wikimedia Commons

Peter Manuel schrieb hierzu 2017, dass »die 1950er-70er-Jahre eine Art Höhepunkt für eine Reihe internationaler gesellschaftspolitischer Bewegungen darstellten, die, obwohl vielfältig, von gemeinsamen Werten des liberalen säkularen Humanismus der Aufklärung geprägt waren«. Manuels Artikel bezieht sich auf »das Ende der Geschichte«, einen Begriff, der 1992 vom amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Francis Fukuyama geprägt wurde. Der wiederum hatte behauptet, dass die freie Marktwirtschaft und die liberale Demokratie den Endpunkt des menschlichen Fortschritts darstellten – die Aufklärung wurde Realität. Nachdem das »Ende der Geschichte« in der Folge neun Jahre lang von Philosophen und Schriftstellern gleichermaßen diskutiert wurde, fing in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts – insbesondere durch den 11. September und den Finanzcrash 2008 – das aufklärerische Modell des säkularen humanistischen Einheitsgedankens mehr und mehr an zu bröckeln.

Es scheint daher überraschend, dass viele von uns in der Musikwelt Tätigen weiterhin an der Vorstellung festhalten, dass Musik tatsächlichen Wandel anstoßen kann – sei es durch Festival-Themen wie »Identität« beim Lucerne Festival im vergangenen Jahr, durch Protest-Aktionen wie Greenpeaces Requiem for Artic Ice, bei dem verschiedene Ensembles vor Shells Londoner Firmenzentrale auftraten, oder das aktuelle »Beethoven Pastoral Project«, eine Umweltbewusstseinskampagne, die die Naturverbundenheit des Komponisten zur Verbreitung seiner Ziele nutzen möchte. Das Projekt »will aus dem in der Pastorale formulierten romantischen Naturbegriff heraus Aufmerksamkeit für das Thema ›Mensch und Natur‹ heute schaffen und eine aktive Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen des Umweltschutzes und den Zielen des Pariser Klimaabkommens anregen.«

Das alles sind Projekte mit hehren Zielen, aber sie sind eben nicht gleichzusetzen mit politischem Handeln. Diese Projekte setzen die Ideen der Aufklärung, eines kollektiven Humanismus fort, und das angesichts einer Welt, die sich trotz oder wegen der Globalisierung zunehmend sozial und politisch ausdifferenziert, in der Gräben tiefer werden und Scheren weiter aufklaffen.

Die klassische Musik vertraut, wie viele andere Genres auch, auf die universelle Schönheit der Musik. Wenn Sie einmal durch Künstlerseiten auf Facebook oder die Kommentare unter Youtube-Videos scrollen, werden Sie feststellen, wie viele noch heute Mozarts »universelle Wahrheit« loben oder der transzendenten Kraft seiner Musik seelenheilende Wirkung zuschreiben. Wenn dies dazu führt, dass man Mozarts Musik beim Hören noch mehr genießt – warum nicht? Was Mozarts »universelle Wahrheit« aber nicht kann, ist, Grundlage für einen konkreten politischen Wandel zu sein.

Ich habe das West-Eastern Divan Orchestra letzten Sommer in der ziemlich vollen Waldbühne in Berlin spielen hören, mit über 20.000 Menschen im Publikum. Wie viele von ihnen sprachen unter dem sonnigen Berliner Himmel über den Frieden im Nahen Osten? Wenige. Es wurde viel über die Getränke-Logistik diskutiert, und die hinter mir sitzende Gruppe schien sich vor allem dafür zu interessieren, wie »alt und fett« ein Schauspieler geworden war, den sie im VIP-Bereich erspäht hatte. Die Katastrophe der westlichen politischen Intervention im Nahen Osten, das Vertrauen in die klassische Musik als eine Form des Aktivismus – beide teilen die gleiche Überzeugung: der westliche, liberale, säkulare Humanismus löst alle Probleme.

Die Vorstellung, dass Musik die Welt verändern kann, erlaubt es ihren Fürsprecher_innen, ansonsten recht faul und blind zu bleiben. Charles Kaye, der Direktor des World Orchestra for Peace (gegründet 1995 zum 50. Geburtstag der Vereinten Nationen), sagte einmal: »Wenn wir armen Musiker aus 35 Ländern auf einer Bühne zusammenkommen und dieselbe Sprache sprechen können, warum nicht auch die Politiker?« Vielleicht hat er Recht, und wenn Trump, May, Assad und Putin sich mit Instrumenten statt mit Kampfflugzeugen bewaffneten und ein Quartett gründeten, würde das vielleicht etwas ändern. (Die Tatsache, dass Condoleezza Rice eine großartige Pianistin ist, legt allerdings nahe, dass selbst Quartettspiel den vieren wenig helfen würde). Aber die Antwort auf Kayes Frage lautet: weil die internationale Diplomatie nie nur eine einzige Sprach spricht, weil es einen signifikanten Unterschied zwischen dem Wagner-Spielen und der Lösung politischer Konflikte gibt. Darüber hinaus gibt es Menschen, die die sehr sichtbare, fast zeremonielle Plattform des klassischen Konzerts nutzen, um mit einer Aussage, die jeder unterschreiben würde – dass der Weltfrieden eine gute Sache ist – und der dadurch gewonnenen Zustimmung ihr Ego zu pushen. Noch bizarrer ist, dass jemand wie Valery Gergiev ein »Orchester für den Frieden« dirigiert oder in den Ruinen des Römischen Theaters von Palmyra spielt, nachdem dieses durch Bombenangriffe schwer beschädigt wurde und kurz zuvor Schauplatz von durch Kindersoldaten des sogenannten Islamischen Staates ausgeführten Massenerschießungen war. Wie geht das zusammen: Putin unterstützen und sich gleichzeitig für einen undefinierten und ausgesprochen vagen Frieden unter den Menschen einzusetzen?

Klassische Musik ist nicht die einzige Kunstform mit diesem Problem (obwohl sie, was das historische Gepäck angeht, vielleicht am schwersten zu tragen hat). Zeitschriften über Tanz und elektronische Musik spielen seit einigen Jahren eine Rolle in der »Rave-Revolution« in der Ukraine, wo eine bestehende Tanzkultur seit dem Jahrtausendwechsel gleich zwei Revolutionen mitbekam. Man begann, über Tanz und Rave als politischen Akt, als Ausdruck des Widerstands zu schreiben. Es mag zwar politische Implikationen haben, aber die Musik leistet nicht wirklich politische Arbeit. Die Menschen haben vor jeder Revolutionen getanzt und werden es auch nach ihnen tun, und abgesehen von der Tatsache, dass Menschen dabei eine temporäre Gemeinschaft bilden, ist Clubbing nicht besonders politisch. Es gab Menschen, die in der Ukraine wirklich auf einen politischen Wandel drängten – und zwar diejenigen, die den Maidan besetzten, auch noch, als auf sie geschossen wurde.

Der Irrtum über die »universelle Sprache Musik« hat gleich zweierlei Auswirkungen: Wir manifestieren damit nicht nur den westlichen Exzeptionalismus (sowohl musikalisch als auch ideologisch), sondern die Musik lenkt uns auch ab von wirklicher politischer und sozialer Organisation, vom eigentlichen Aktivismus. Ich kann die Vorträge und Workshops, an denen ich teilgenommen habe, in denen politische Aktion durch Intellektualität und das Auf-die-Straße-Gehen durch Am-Kopf-Kratzen ersetzt wurden, nicht mehr zählen, so viele sind es. Ich habe nichts gegen Diskurse und auch nichts dagegen, die Affinität einer Komponistin oder eines Komponisten zur Natur aus ihrer oder seiner Musik heraushören zu wollen. Projekte, die diese Ideen fördern, werden letztendlich mehr Gutes als Schlechtes bewirken. Aber es gibt vielleicht ein Echo von Trumps merkwürdigem Ausspruch »we write symphonies«, wenn wir uns zuschreiben, ein Allheilmittel für die Leiden der Welt gefunden zu haben. Eine Wagner-Oper ist kein Friedens-Statement. Und die politischen Herausforderungen sind zu unterschiedlich, um sie mit einer Idee lösen zu können.¶