
Was wird das ganz große Ding, der Talk of the Town dieses Jahres, fragten wir Anfang 2018 unsere Autor_innen. Gleich zwei von ihnen antworteten: Berlioz’ Requiem mit Ingo Metzmacher bei den KunstFestSpielen Herrenhausen. Aber auch abseits dieses Mammut-Projekts passiert in Hannover vom 18. Mai bis 3. Juni einiges mit zeitgenössischen Künsten: Tanz wird zur bewegten Ausstellung, Theater findet innerhalb einer Klanginstallation statt, Musik trifft auf Medienkunst, Schönberg und Rihm auf kanadischen Post-Rock – und das war noch längst nicht alles. Mittendrin: drei alte VAN-Bekannte, deren Porträts wir in diesem Themenspecial nochmal gesammelt präsentieren. Und obendrauf: Zwei ganz besondere Berlioz-Fans.

Bratschistin Tabea Zimmermann spielt die Reger-Suiten so schön, dass Kollege Nils Mönkemeyer fast vergisst, dass er diese Stücke eigentlich nicht mag. Gibt es ein schöneres Kompliment an eine Interpretation? Eine Reger-Suite wird Zimmermann auch am 1. Juni bei den KunstFestSpielen geben, außerdem Berio, Zimmermann und Ligeti. In VAN teilte die Bratschistin ihre Gedanken über Stille und Zeit – und ihre Verschwendung.
Gleich zweimal spielt Christian Tetzlaff am Abend des 24. Mai bei den KunstFestSpielen Herrenhausen: Einmal Beethovens Streichquartett op. 130 mit großer Fuge und Schostakowitschs op. 122 mit seinem Quartett und ein Late-Night-Concert mit der Sonate für Violine solo von Béla Bartók. Auch in VAN zeigte er Kondition und sprach mit Hartmut Welscher über fast alles: Über das »Christian-Tetzlaff-Phänomen«, Bartók, das poetische Sprechen mit Orchester und seine Facebook-Page, die sein Sohn für ihn führt …

Außerdem dabei: Komponist Simon Steen-Andersen mit einer neu produzierten Folge seiner Live Performance Serie Run Time Error, einer rasanten musikalisch-filmischen Rallye durch die Orangerie und ihre verborgenen Nebenräume am 29. Mai. Mit Mikrofon und Kamera belauscht Steen-Andersen die Musiker_innen des Decoder Ensembles. Jeder Bogenstrich, jeder Blick ist ein komponiertes und zugleich inszeniertes Ereignis. In der Aufführung ist der vorproduzierte Film-Loop auf zwei Leinwänden zu sehen und wird vom Komponisten per Joystick live wie ein Computerspiel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten gesteuert. In VAN erklärt der Komponist, warum er Stücke nicht gern erklärt und sprach über Pointen, Verfremdetes, Geradegerücktes und die Rückkehr zum Rock’n’Roll.

Berlioz’ Grande messe des Morts bezieht ihre eindrucksvolle Wirkung aus der Spannung zwischen imposanten Raumklangeffekten, die durch vier im Zuschauerraum verteilte Blechbläsergruppen, 16 Pauken und die riesige Chor- und Orchesterbesetzung erzielt werden und den stilleren Abschnitten. Obgleich Berlioz den traditionellen Text der Totenmesse weitgehend unverändert vertont, steht nicht der religiöse Kern der Totenklage im Mittelpunkt. Das Werk wechselt vielmehr zwischen dem eher offiziellen Charakter eines Memorials für die Toten der Julirevolution von 1830 und der persönlichen Trauer um die Gefallenen, die in den ruhigen Passagen ihren Ausdruck findet. In der Aufführung der KunstFestSpiele am 27. Mai mit der NDR Radiophilharmonie, dem Orchester der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, Werner Güra, Ingo Metzmacher, dem Bachchor, der Capella St. Crucis, dem Collegium Vocale, dem Johannes-Brahms-Chor, dem Jungen Vokalensemble, dem Kammerchor Hannover, dem Knabenchor Hannover, dem Mädchenchor Hannover und dem Norddeutscher Figuralchor wird der kontemplative Charakter noch einmal besonders betont, indem das Ende des Requiems unmittelbar in das Orchesterstück Stille und Umkehr von Bernd Alois Zimmermann mündet, das die unauflösbaren Widersprüche, die Berlioz in seiner Komposition entfaltet, in eine existentielle Dimension verlängert und verdichtet. Für VAN besuchte Volker Hagedorn zwei ganz besondere Berlioz-Fans: Monir Tayeb und Michel Austin, beide Anfang 70, die 1997 die Website hberlioz.com starteten, die mittlerweile mehr als 13.000 Dateien von teils singulärem Informationswert umfasst.