Längst haben historisch informierte Musiker den Boléro erreicht und das Barock komplett erobert – droht nun der interpretatorische Stillstand? Nicht, wenn sich die »Szene« von der Lagernostalgie verabschiedet und von einem Begriff: Die Kategorie »Alte Musik« hat ausgedient – meint Volker Hagedorn.
Vor einer Woche wurde in VAN nach der »Zukunft der Alten Musik« gefragt, im Gefolge eines kleinen Berliner Symposiums. So eine Frage impliziert, dass man eine mehr oder weniger fest umrissene Szene, einen bestimmten Teil der Musikkultur vor sich hat, und außerdem, dass er bedroht ist. Im Text von Elina Albach und Folkert Uhde ist die Rede von »Barockmusik« und jener »Szene« von Musikern der historisch informierten Musikpraxis, die auf so etwas wie eine »Protestbewegung« der 1960er und 70er zurückgeht, und davon, dass es ihr jetzt an Impulsen, Ideen und attraktivem Profil fehle – auch als Folge ihres Erfolgs, denn »die Alte Musik ist im traditionellen Konzertleben angekommen und aufgegangen.« Unumgänglich sei »eine Neudefinition unseres Genres, unserer ›Szene‹ und unserer Haltung«, um weiterhin »relevant zu bleiben«.
Damit befindet man sich in der paradoxen Situation, etwas retten zu wollen, das es nicht mehr gibt, obwohl mehr Musiker als je zuvor historisch informiert mit passendem Instrumentarium die Musik bis ungefähr 1750 realisieren, die mit »Alter Musik« stillschweigend gemeint ist. Dieses Repertoire, stets um Ausgrabungen und Wiederentdeckungen erweitert, haben sie zumindest in Europa fast vollständig übernommen. Orchester wie die Philharmonia Zürich haben eigene festinstallierte Barockensembles gebildet, andere laden sich auch für Mozart Größen der historischen Praxis ans Pult oder machen sie sogar zu Chefdirigenten wie Andrew Manze in Hannover. Andererseits gibt es kaum noch Musiker, die sich ganz der Barockmusik verschrieben haben, umso mehr solche mit universeller Ausrichtung, die auch historisch informiert spielen.
Obwohl aber die »Lager«, die es mal gab, längst in Auflösung begriffen und Festivals für Alte Musik keine Widerstandsnester mehr sind, ist da immer noch dieses »wir«, so, als habe man gemeinsam auf den Barrikaden gestanden. Von hier aus lässt sich zufrieden auf eine gelungene Revolution blicken, mit der Fahne »Alte Musik« in der Hand, an der kein Gegenwind mehr zerrt. Verständlich, dass gerade Freischaffende die Geborgenheit einer »Szene« schätzen, aber man kann es sich da auch bequem machen, mit oder ohne »Haltung«. Und manches ist zwangsläufig bequem geworden: Den Rausch, an den Quellen zeitgenössischer Interpretationshinweise Neuland zu erschließen, haben die Pioniere erlebt; nach ihnen lernte man von Lehrern, Aufnahmen, by doing, »wie man es richtig macht«. Das klingt oft gut und selten überraschend.
Als anno 2014 zwei der besten deutschen Barockorchester, das Freiburger und Concerto Köln, die Brandenburgischen Konzerte neu vorlegten, waren sie sich in der nüchternen Konzeption so nahe wie in der Stagnation: Wohin noch aufbrechen, wenn man sich bestens auskennt und keinen mehr grundsätzlich überzeugen muss? Im common sense hat sich manche Kontur und Dringlichkeit abgeschliffen, auf hohem Niveau. Dass eine so gute Geigerin wie Isabelle Faust, die mit dem FBO Mendelssohns Violinkonzert aufregend wörtlich nahm, Bachs Violinsonaten (mit Kristian Bezuidenhout) jetzt seltsam unverbindlich spielt, könnte auch daran liegen, dass es in den Partituren des 19. Jahrhunderts noch viel mehr freizulegen gibt, etablierten Klangbildern entgegen. Und das, obwohl die period players die 1750-Grenze schon vor dreißig Jahren überschritten und vor acht Jahren mit Jos van Immerseel triumphal den Boléro (1928) erreichten.
Aber all die Frischluftstöße, von Gardiners Beethoven bis zu Herreweghes Bruckner, von Minkowskis Symphonie fantastique bis zu Hengelbrocks Parsifal, sind hier keineswegs in der Mitte angekommen. Es gab und gibt ein paar Annäherungen (etwa mit François-Xavier Roth als Gürzenich-Chef), sonst haben sich viele Tariforchester, anders als beim Repertoire des 18. Jahrhunderts, fest ins philharmonische Polster gelehnt. So, als reiche es doch wohl, dass ihnen Bach »weggenommen« wurde und sie für Mozart mal ein bisschen Vibratoverzicht leisten. Da kommen noch alte Lager zum Vorschein. Und die Pianisten sind mehrheitlich weit davon entfernt, einem Frédéric Chopin die Schlaginstrumente zu ersparen, als die moderne Flügel neben seinem singenden Pleyel erscheinen. Der ist ja auch zu leise für mehr als 1000 Zuhörer.
Müssen es so viele sein? Auch das ist ein Ansatz, über neue Konzertformate nachzudenken, die Chopin so gut täten wie den Brandenburgischen. Als neulich das junge Ensemble la festa musicale einige dieser Konzerte mit einer Auftragskomposition von Benjamin Scheuer und Texten von mir kombinierte (ich spreche an diesem Punkt befangen, aber praxisnah), hat keiner an »Alte Musik« gedacht. Wir brauchen diese Kategorie nicht mehr. Sie kann auch nicht gerettet werden, indem man per PR-Defibrillator »Alleinstellungsmerkmale« aktiviert oder auf die Barockgeige starrt wie auf eine Birkenstocksandale, die durch Re-Branding attraktiv gemacht werden muss. Wir brauchen keine Imagepflege, sondern Irritationen. Warum nicht mal Bachs d-Moll-Konzert für drei Cembali, gespielt an drei Érards? So, wie es Chopin, Liszt und Hiller am 23. März 1833 den staunenden Parisern präsentierten. Total authentisch… ¶