Christian Gerhaher

Text · Titelfoto © Jim Rakete, Sony Classical · Datum 17.2.2016

Christian Gerhaher hat mit dem Freiburger Barockorchester in Köln gesungen, wir treffen uns zum Interview am Hotel, früh am morgen danach und sprechen im Auto auf dem Weg zum Flughafen und dann noch dort. Es geht leider nicht anders, nicht weil Gerhaher auf Paparazzi-Style steht, sondern weil es diese eine Einschränkung gibt: dass er, wenn ein Konzert am Abend ist, tagsüber nicht viel Energie verstreuen darf, weil er sie abends braucht um die Spannung zu halten für zwei Stunden.

Das weiß, wer die glücklich gelungene Dokumentation des Bayerischen Rundfunks gesehen hat, die ihn auch an solchen Tagen begleitet und die viel von der Last zeigt, die das manchmal für ihn ist, diese Aufgabe eines Auftritts. Man sieht einen, der erst die Zweifel, die Kraft, den Willen aufbringt, um an unnennbaren Feinheiten zu arbeiten – die Noten zu hinterfragen, zu durchdringen bis zu einem Punkt, an dem fraglich ist, ob die Leute was er macht und will überhaupt verstehen können. Dann aber setzt er sich dem Risiko eines Auftritts vor Publikum aus, exponiert sich, ohne natürlichen Drang dazu.

Ich frage Christian Gerhaher als erstes, wie ihm der Film gefallen hat, er fand ihn gut, aber für ihn ist das nicht so einfach: »Es reicht schon für einen Sänger, dass man seine Stimme ständig hören muss; doch da gewöhnt man sich dran. Dann aber noch sein Gesicht in der Glotze zu sehen, ist furchtbar. Wir wurden zu einer ersten Vorführung eingeladen. Ich musst ein bisschen trinken, damit ich’s ertragen kann. Dann fand ich das als Film aber wunderschön.«

Max Slevogt, Das Champagnerlied
Max Slevogt, Das Champagnerlied

VAN: Ist es schwieriger, vor einem ganzen Orchester auf der Bühne zu stehen?

Christian Gerhaher: Ja, ich mache das nicht so oft. Und das Repertoire bin ich auch nicht gewohnt. Acht Arien an einem Abend, das ist viel. Es ist schwieriger zu kommunizieren als mit meinem Pianisten (Gerold Huber, d. Red.), den ich seit 28 Jahren kenne. Aber dieses Orchester ist ganz speziell. Es gibt keinen Dirigenten, der Kontakt ist so einfach, bei Auftakten oder Generalpausen muss man nicht steuern oder sich konzentrieren. Klar, bei Mozart klappert es auch manchmal, wegen der vielen subkutanen Tempowechsel, schnellen Passagen, einer sehr lebendigen Dynamik und dann: wegen der Ungenauigkeiten im Gesang. Das Orchester muss sich immer ein bisschen zurückhalten – wenn nicht gerade eine Monsterstimme singt –, und dadurch kann man sich nicht immer gut hören.

Ist mit dieser Konstellation auch eine andere Form der Selbstwahrnehmung verbunden mit dieser Gruppe hinter sich? Sind sie da mehr front man?

Nein, das eigentlich nicht. Dieses Dastehen und Beäugt werden bildet dieselbe Situation. Das heißt: es fällt mir einfach manchmal schwer, auf die Bühne zu gehen – obwohl es natürlich auch oft eine Freude sein kann.

Was ist besser: Aufnahmestudio oder Bühne?

Am liebsten habe ich Proben. Da fehlt die Aufregung der Aufführung, mit diesen Versagensängsten, Versagensmöglichkeiten; man kann ja wahnsinnig viel falsch machen auf der Bühne. Aufnahmen begreife ich als weit gestreckte Aufführung, da sitzt also auch ein Publikum im Hinterkopf dabei. Sie sind tatsächlich auch entsprechend anstrengend. Und: Eine Aufnahme ist ein schmerzlicher Prozess, weil man immer nur das momentane Können, einen gewissen Grad der Durchdringung abbildet, auch wenn oft der Eindruck eines total gestalteten Werkes vorherrscht. Das Ergebnis entspringt zwar dem maximalen Willen, aber der ist natürlich auch im Wandel begriffen. Deshalb kann man es manchmal schon bedauern, dass das dann so festgehalten ist.

Max Slevogt, Szenes aus Don Giovanni
Max Slevogt, Szenes aus Don Giovanni

In Porträts von Ihnen kommt immer wieder dieser Aspekt der Verantwortung zur Sprache, und die Last, die Sie dadurch spüren. Haben Sie in Ihrer Zeit als Hochschullehrer Sänger/innen ausgewählt, bei denen sich dieses Verantwortungsbewusstsein ähnlich zeigt?

Nein, ich wollte nie Rosinen picken oder mir ein Bild machen, was aus dem oder derjenigen werden sollte. Erstens sollte man jeden unterrichten, wenn man an einer Hochschule tätig ist. Zweitens kann man einfach nicht vorhersehen, was aus einem Sänger wird. Wie sich andere Leute der Kunst nähern, das ist auch und vor allem deren eigene Sache. Wenn ich unterrichtet habe, dann bat ich darum, mir eine Dreiviertelstunde lang zu folgen, einfach deswegen, weil man im Laufe des Sängerlebens eine Flexibilität entwickeln muss, auf Wünsche einzugehen, von Dirigenten, Regisseuren, hinsichtlich des Repertoires.

Sie setzen sich nicht mit der Charakterbildung auseinander?

Um Gottes Willen, das sind alles erwachsene Leute, das wäre mir peinlich und auch zutiefst unangenehm.

Und wenn es um Probleme wie Nervosität geht, Auftrittsangst, da gibt es keine Tipps?

Nein.

Reicht Ihnen selbst die Freude, die sie am Beruf haben, wiegt sie die Ängste auf? Oder ist es eine Aufgabe, die sie sich nicht aussuchen konnten?

Ich habe mir das ausgesucht, das ist gar keine Frage. Es gibt aber schwierige Zeiten, gerade ist wieder eine. Nicht jeder wird diese Verantwortung verstehen. Man könnte ja sagen, mein Gott, das ist nur ein Konzert. Aber wenn ich irgendwann routiniert, pauschal, durch einen Abend gehen würde, dann wäre es schlecht. Diese Verantwortung hat man: Wir müssen uns als Darsteller in den ernsten Künsten gesellschaftlich von jeder Unterhaltung abgrenzen. Natürlich darf es Spaß machen, unterhaltende Elemente können vorkommen, aber grundsätzlich muss die Situation der Künste eine der Reflexion über den Geist und daraus entstehender Genuss sein. Da gibt es kein Zurücklehnen und ›entertain me‹. Es darf einfach keine Dekoration und keine Unterhaltung sein.

Dennoch aber sieht man das immer wieder, in Programmierungen und Präsentationen von Veranstaltern, vor allem von privaten Veranstaltern: wie versucht wird, die Menschen mitzunehmen‹, ›an der Hand zu nehmen‹, und zwar auf eine unseriöse Weise. Das, finde ich, sollten wir alle unbedingt zu vermeiden versuchen, denn das könnte die Lebensgrundlage der Künste in unserer Gesellschaft aushöhlen.

Wird es für Sie schwieriger, da gute Engagements zu finden?

Man muss sagen, in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Situation ideal wie fast nirgendwo anders. In Amerika oder auch teilweise in England wird Musikleben durch Sponsoring finanziert, da ist der direkte Erfolg das Allerwichtigste.

Wie haben es seit 400 Jahren dort, wo wir das als Investitionen, nicht als Subvention verstanden haben, geschafft, dass sich die Künste frei entwickeln und Risiken eingehen können. Und das passiert nicht mit einem Unterhaltungs-Anspruch, mit der Suche nach kurzfristigem Erfolg. Aber genau mit so einem Anspruch könnten die privaten Veranstalter irgendwann die grundlegende und seriöse Arbeit öffentlich finanzierter Institutionen in Frage stellen, letztlich gefährden.

Wenn dann kühn verkündet wird: ›Wir machen jetzt Mahler‹, und dann steht da eindrucksvoll »Mahler 1« auf dem Plakat – das ist für mich kein Wagnis. Schwierigere Werke wie Mahlers 6. oder 7. Sinfonie hingegen wird man da eher nicht finden. Aber jedes Sinfonieorchester jeder mittelgroßen Stadt braucht seinen Raum der Bedeutung, in dem, ohne dadurch in Erklärungsnöte zu geraten, Musik gemacht werden kann von der klassischen Moderne bis zu heutigen radikalen Werken, innerhalb dessen man längerfristig denkt, und diesen Sachen die Zeit gibt, Bestandteil unseres Konzertlebens zu werden.

Max Slevogt, Der Sänger Francisco d’Andrade, Zeitung lesend
Max Slevogt, Der Sänger Francisco d’Andrade, Zeitung lesend

Was heißt das für die Musik von heute?

Das heißt, dass es mich ärgert, wenn jemand Elemente aus einem Genre nimmt, das sich prinzipiell der Unterhaltung verschrieben hat und sie gestaltend in die schönen, wahren, guten Künste einbringt, um das für sich gewinnbringend einzusetzen, schlicht, um besser anzukommen. Das finde ich unseriös, und da sehe ich unsere Musikkultur in Gefahr. Ein anderes Beispiel: Das Museum Of Modern Art in New York hat so einen fantastischen Bestand moderner und klassisch moderner Kunst. Aber immer, wenn ich mir zeitgenössische Kunst anschaue, habe ich das Gefühl, dass das Radikale fehlt, das man doch erwartet. Klar, es sind Elemente, Materialien und Bezüge hinzugekommen – aber alles, was eventuell verstört, wird dann so geschönt, dass es verkaufbar wird, wenn etwas verrostet ist, wird es versilbert. Und Dekoration und Unterhaltung sind Hauptmerkmale der Nicht-Kunst. Man kann mich da für spießig oder orthodox halten, aber ich möchte von einer Kunst etwas grundsätzlich in Frage Stellendes und Existenzielles erfahren, nichts Dekoratives.

Ist Christian Gerhaher da spießig oder orthodox? Oder spricht er einfach von seinem Inneren ausgehend? Wenn er die Musik meint, dann hat man manchmal auch den Eindruck, es passe auch auf ihn selber. Ist er manchmal reine Unterhaltung? Es fällt schwer, ihn sich auch privat ohne das Beobachten vorstellen, dieses Zweifelende im Dienste der Verfeinerung. Die Bühnensituation verstört ihn, soll die Musik es auch. Aber braucht das Volk nicht Heilung? Wir wollen über Mozart sprechen.

Es gibt aus der populären Musik, im Songwriting und der Instrumentierung immer wieder Tendenzen, den Ausweg aus der Massenkultur über den Folksong, die Vereinfachung zu unternehmen. Da beobachtet man auch diese klassische Sängerpersönlichkeit.

Es hat sich vom Volkslied aus immer in Richtung Verfeinerung entwickelt. Wenn es andersherum ging, wenn es mehr Volkslied sein sollte, als es in Wirklichkeit war, dann sind da nostalgische Einflüsse im Spiel, das halte ich nicht für sinnvoll. Ich sehe dagegen bei David Bowie oder bei The Cure Kunstauffassungen, an denen mir nichts fehlt, aber ein Rückzug im Sinne einer Nostalgie bringt die Kunst nicht weiter. The Cure sind ein wirklich gutes Beispiel, die haben mit Folksong-ähnlichen Sachen angefangen und wurden dann in einer eigenen, neuen Weise immer härter, konturierter, einer Weise, die mit Folksong nur mehr wenig zu tun hatte.

Max Slevogt, Szene aus Mozarts Zauberflöte (Papageno)
Max Slevogt, Szene aus Mozarts Zauberflöte (Papageno)

Wenn Sie Mozart singen, diese Arien, die ja sehr stark unterhalten, schauspielerisch sind, was begegnet ihnen als Sänger da künstlerisch?

Der Affekt entwickelt sich bei Mozart stark weiter, es kommt da zu einem Grad der Psychologisierung, der vielleicht später nie wieder erreicht wurde. Die Arien sind nicht nur Ausdruck einer vielfältigen, differenzierten Rollenkennzeichnung durch Mozart. Sie sind auch in sich nicht homogen, sie sind uneindeutig, es entwickelt sich darin immer alles neu. Bei der Registerarie des Leporello (»Madamina, il catalogo è questo«) beispielsweise kann man nicht sagen, was der Grundcharakter ist, er erzählt ironisierend und spöttisch von den vielen Liebschaften seines Herrn, aber er ist auch gemein dabei, bisweilen selbstbezogen, dann wieder melancholisch-resiginiert (»Voi sapete quel fa« / »ihr wisst schon, was er dann macht«).

Mozart, Don Giovanni, Akt 1: ›Madamina, Il Catalogo È Questo‹; Christian Gerhaher (Bariton); Freiburger Barockorchester, Gottfried Von Der Goltz (Leitung

Diese und folgende Titel aus

Christian Gerhaher, Mozart Arias (Sony Classical, 2015)
Christian Gerhaher, Mozart Arias (Sony Classical, 2015)

Don Giovanni singt ja selbst drei Arien, aber die sprengen alle drei den Rahmen dessen, was Arien bis dahin waren, nämlich ein retardierendes Moment der Reflexion. Bei Don Giovanni ist aber gar keine Reflexion, der ist total anarchisch. Diese Person lebt vollkommen im Moment, das zeigt sich in den Arien. Das Ständchen (›Deh, vieni alla finestra‹, Arie No. 16) ist ein Surrogat, etwas unechtes, das ist nur ein zusammengesuchter Erfahrungsschatz von früheren Affären, das hat nichts mit der Situation zu tun.

Mozart, Don Giovanni, ›Deh, vieni alla finestra‹; Christian Gerhaher (Bariton); Freiburger Barockorchester, Gottfried Von Der Goltz (Leitung

Die anderen beiden Arien sind auch keine Reflexion, sie treiben die Handlung voran. Die Champagnerarie, wenn Don Giovanni aufs Schloss lädt und es sich vorstellt – da überlegt er nicht, wie es sein könnte. Es ist vielmehr die vollkommene Materialisierung des Moments, so ist es auch bei »Metà di voi qua vadano«, das ja gar nicht mehr als Arie betrachtet wird, weil es überhaupt keinen reflektierenden Bezug zu Vergangenheit oder Zukunft hat, sondern im Moment die Handlung vorantreibt. Don Giovanni ist als Leporello verkleidet und hetzt Leporello die Menge auf den Hals. Da ist so eine unglaubliche momentane Agilität, eine Komik …

… eine Unterhaltung?

Nein, weil Unterhaltung, darunter verstehe ich etwas eskapistisches. Bei Mozart sehe ich aber nicht diese rosa Grundstruktur, sondern eigentlich ein unglaubliches Problematisieren.

Mozart, Don Giovanni, ›Metà di voi qua vadano‹; Christian Gerhaher (Bariton); Freiburger Barockorchester, Gottfried Von Der Goltz (Leitung

Hat diese Mozartsche Energie für Sie ein Pendant in der modernen oder der zeitgenössischen Musik?

Das kann ich schlecht beurteilen. Ich kann auch nicht sagen, dass ich Mozart verstehe, auch wenn das vielleicht viele vermuten – ich verstehe ihn bis heute nicht, aber vom Verstehen will ich auch gar nicht sprechen. Und daneben singe ich immer wieder Musik, die als misstönend, grundsätzlich verstörend, unangenehm wahrgenommen wird, bei der ich die Leute stöhnen sehe. Und bei dieser Musik kommt plötzlich der Moment, in dem sie mir ähnlich verständlich ist wie eine Mozart-Arie. Nehmen wir das Buch der hängenden Gärten von Schönberg, das ist mir genauso plausibel wie Mozart – oder eben ähnlich unverständlich.

Ich denke manchmal, dass selbst Leute mit einer unglaublichen Hörerfahrung und großem Urteilsvermögen sich etwas übernehmen, wenn sie ein Urteil fällen, nach nur einem Mal Zuhören. Man sollte versuchen, das Erstaunen über die Möglichkeiten und Inhalte der Kunst stärker hochzuhalten, und das schließt starre, abgeschlossene Urteile, einfach aus. Das Urteil ist doch vielleicht nur das Zwischenstadium einer sich äußernden Begeisterung. ¶