Einem One-Hit-Wonder haftet immer etwas Tragisches an. Der Rapper Vanilla Ice beispielsweise, dessen Hit Ice, Ice Baby von 1990 bekanntlich auf einem Sample des Queen-Songs Under Pressure basierte, moderiert seit 2010 eine Heimwerker- und Haussanierungssendung beim Sender DIY Network. Ähnlich tragische One-Hit-Wonder-Biographien lassen sich in der klassischen Musikgeschichte finden – bisher hat nur noch niemand danach gesucht. Wir holen das an dieser Stelle nach. Los geht’s mit Platz 10.

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Platz 10:

Hector Berlioz (1803-1869): Symphonie fantastique (1830)

1827 kam eine englische Schauspielgruppe nach Paris – und präsentierte dort mit großem Erfolg Shakespeares Hamlet. Hector Berlioz verfiel der Schauspielerin Harriet Smithson, die die Rolle der Ophelia gespielt hatte, mit Haut und Haaren, richtete glühende Briefe an sie – doch zunächst ohne jegliche Reaktion. Aus Kummer darüber komponierte er 1830 die Symphonie fantastique, in dem sich die Träumereien, Leidenschaften, Irrungen und Wirrungen des bald wahnsinnig werdenden Verliebten anhand eines immer wiederkehrenden, mal triumphierenden, mal tödlich verletzten Motivs musikalisch widerspiegeln. Ja, Berlioz komponierte auch große Opern wie Benvenuto Cellini und Les Troyens. Gebracht hat es nichts. Auch verlief die spätere Ehe mit Harriet, ja, er hat sie dann noch bekommen, alles andere als glücklich.

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Platz 9:

Johann Strauss (Vater) (1804-1849): Radetzky-Marsch (1848)

Märsche sind an sich schon etwas Furchtbares. Aber dass es der Vater des großen Walzer-Königs Johann Strauss (Sohn) nur zu einem einzigen Hit brachte, das ist schon tragisch genug. Noch tragischer die spätere Rezeption: Zu den schmettrigen Klängen des Radetzky-Marsches hüpften in einer Fernsehwerbung der 1980er- und 1990er Jahre nämlich regelmäßig totgekochte Maiskörner aus einer Dose, um vermutlich so etwas wie »Frische« zu signalisieren. Vergeblich.

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Platz 8:

Jerry Bock (1928-2010): Wenn ich einmal reich wär aus dem Musical Anatevka (1964)

Das Musical Anatevka ist momentan in einer wirklich schönen Inszenierung von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin zu sehen, wobei die Choreographien von Otto Pichler – Stichwort: zappelnde Rabbis zu schmissiger Musik mit »jiddischen Melismen« – die eigentliche Sensation sind. Schon ganz zu Beginn des Stückes singt Tewje sein Wenn ich einmal reich wär. Zwar gibt es auch andere schöne Nummern, doch einzig diese Melodie überlebte. Kein anderes Werk aus der Feder von Bock schaffte es später auch nur annähernd, größere Aufmerksamkeit zu erhaschen. Und so bleiben von Tewjes »o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum« lediglich die ersten beiden Silben übrig.

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Platz 7:

Gustav Holst (1874-1934): The Planets (1914-16)

Ein großes One-Hit-Wonder der Musikgeschichte! Ohne die musikgeschichtliche Linie von Wagner, Bruckner, Rachmaninow zu unserem Planeten-Holst wäre die Filmmusik Hollywoods nicht das, was sie ist: Nämlich immer nur – ja, ja, ja, außer John Williams, aber auch der hat vom Abendland gelernt! – ein aufgebauschter Abklatsch von dem, was schon einmal war. Holsts Planeten sind noch auf eine andere Weise visionär, schließlich war zur Zeit der Arbeit an diesem schön instrumentierten Orchesterwerk der seit 1930 als Planet geltende Pluto noch nicht entdeckt – und wurde von Holst folglich auch nicht »vertont«. Im August 2006 wurde Pluto der Planeten-Status wieder aberkannt, weil in der Pluto-Region außerhalb der Neptunbahn noch andere, ähnlich große Himmelskörper gefunden wurden. Also hat Holst alles richtig gemacht, wiewohl andere Werke, wie seine St Paul’s Suite, immer, ja wirklich immer hinter den kriegerischen Gewaltakten von Mars und den herrlich beschwingten Melodien von Jupiter zurückstehen werden.

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Platz 6:

Charles Gounod (1818-1893): Méditation sur le premier prélude de Bach (Ave Maria) (1859)

1859 nahm sich der französische Komponist Charles Gounod Johann Sebastian Bach zur Hand. Über die Klänge des ersten Präludiums aus dem ersten Band von Bachs Wohltemperierten Clavier setzte er eine Melodie mit Ave Maria-Text. Das Ergebnis mag man »kitschig« nennen. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (1928-1989) schrieb einmal: »Kitsch ist fast immer abgesunkene Romantik oder heruntergekommener Manierismus, deren Attitüden festgehalten werden, während die Substanz erloschen ist.« Später bezeichnete Dahlhaus dann das Ave Maria von »Bach/Gounod«, wie Musiker immer gerne flugs es ausdrücken, als »Kitsch«. Dahlhaus lag falsch, denn weder ist die Romantik Gounods »abgesunken«, sondern inbrünstig, noch ist hier irgendetwas »erloschen«. Das Ave Maria funktioniert auf Standesämtern wie auf kirchlichen Hochzeiten bis heute fulminant, wenn nur die verkaterten Pianistenfreunde des Pärchens oder der alkoholkranke Organist nicht wären… Der Fairness halber sei erwähnt, dass Gounod im Ave Maria-Jahr 1859 auch noch die Uraufführung seiner gar nicht mal so schlechten und durchaus nicht selten gespielten Oper Faust erlebte.

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Platz 5:

Carl Orff (1895-1982): Carmina Burana (1935-36)

1934 entdeckte Carl Orff die Textsammlung der Carmina Burana für sich. Diese Zusammenstellung von Liedern und Gedichten aus dem 12. Jahrhundert war erst 1847 im Druck erschienen und faszinierte Orff maßlos. Später schilderte Orff, ihn hätten die »Bilder und Worte der Sammlung geradezu überfallen«. Zu den Bildern und Worten fügten sich sofort auch musikalische Ideen, wie das »Mittelalter« in moderner Form – mit dem von Orff bekanntlich bevorzugten Schlagwerk im Vordergrund – denn klingen könnte. Ausschweifende Tänze, die quasi das Feuer von einstigen Wegelagerern lebendig in Musik aufscheinen lassen, betörende Gesänge, die irgendwo in einem mittelalterlichen Dorf mal so oder ähnlich von einem Liebenden gesungen wurden – oder fast rituelle Beschwörungen heidnischer Götter: all das sollte aus der Sicht von Orff Musik werden. Vergeblich! Denn als »Ohrwurm« – wer hat so etwas als Ohrwurm? – überlebte einzig und allein der leicht faschistoide Eingangschor O Fortuna. Selbst »Gentleman-Boxer« Henry Maske schmückte seinen Arena-Einzug eine zeitlang mit diesem Chor-Massaker, bis Orffs Rechteinhaber ihm die Verwendung untersagten. Folglich musste Maske Conquest of Paradise des griechischen New-Age-Produzenten Vangelis verwenden. Doppelt tragisch.

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Platz 4:

Samuel Barber (1910-1981): Adagio for Strings (1938)

2004 wählten die Zuschauer der BBC Samuel Barbers Adagio for Strings (1938) zum »traurigsten Musikstück der Welt«. Bei der weltweit übertragenen Gedenkveranstaltung für die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 gelangte Barbers One-Hit-Wonder-Hit zu noch größerer Popularität. Aus Verzweiflung darüber, nichts anderes von Belang komponieren zu können, versuchte Barber selbst 1957 einen Neuaufguss. Sein ursprünglich aus einem Streichquartett stammendes Adagio bearbeitete er für Chor – und setzte den lateinischen Messe-Text Agnus Dei darüber, ähnlich wie bei Gounod, nur halt mit gänzlich selbstverschuldeter Musik. Eine Sakralisierung einer eigentlich als säkular erdachten Musik also. Nette Idee, aber zu spät.

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Platz 3:

Johann Pachelbel (1653-1706): Kanon D-Dur (1694)

Vermutlich zur Hochzeit vom ältesten Bruder Johann Sebastian Bachs, nämlich des Organisten Johann Christoph Bach (1671-1721), entstand Pachelbels absolutes One-Hit-Wonder, die berühmteste Quintfall-Sequenz aller Zeiten [nachträgliche Korrektur des Autors: die Erinnerung trog, tatsächlich sind es reine Quarten!], der von unzähligen Schulorchestern vergewaltigte Kanon – vergesst die dazugehörige Gigue! – in D-Dur. Auf die einfache, ja im Grunde legendär zu nennende Harmoniefolge bezogen sich später – viel später – unter anderem die Bee Gees, David Bowie und die Pet Shop Boys. Pachelbels fulminante Magnificat-Vertonungen werden demnach wohl für immer im unsichtbaren Orkus des musikgeschichtlichen Vergessens mäandern.

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Platz 2:

Jules Massenet (1842-1912): Meditation aus der Oper Thaïs (1892-93)

Gibt man »Meditation« und »Thaïs« bei YouTube ein, so sieht man sich mit 176.000 Ergebnissen konfrontiert. Das reicht für ein Menschenleben, würde aber zu einem langsamen und schmerzvollen Tod führen. Dabei ist diese Zwischenmusik für Solo-Violine und Orchester – meist hört man das Stück mit Geige und Klavier – aus der Oper Thaïs natürlich wirklich hübsch. Von unbegabten Geigenschülerinnen dargeboten wird sie zu einer Krankheit, die für die eigentlich ganz spannende Ägypten-Oper von Jules Massenet keine gute Werbung ist.

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Platz 1:

Franz Xaver Gruber (1787-1863): Stille Nacht, heilige Nacht (1818)

Nicht nur, weil wir bald Weihnachten haben! Nein, Stille Nacht, heilige Nacht ist das wohl größte One-Hit-Wonder der klassischen Musik! 1818 komponiert singt es heute die ganze Welt. Leider. Der Hilfspfarrer Joseph Mohr verantwortete das, was wir heute »Text« nennen. Und Franz Xaver Gruber schuf die unvergessliche »Musik«. Kennen Sie noch andere Werke von Gruber? Nein, wir auch nicht. Zu allem Überfluss gehört Stille Nacht, heilige Nacht seit März 2011 zum »immateriellen UNESCO-Kulturerbe«. Sei’s drum. Für uns ist das Lied einfach nur das größte One-Hit-Wonder aller Zeiten.

Knapp nicht geschafft in unsere Top Ten haben es:

  • Bedřich Smetanas Moldau (1882). Dazu steht Smetanas Oper Die verkaufte Braut (1866) – als vermeintlicher zweiter Hit des Komponisten – zu häufig auf den Spielplänen der Opernhäuser, wiewohl die Oper keinen wirklichen Ohrwurm enthält.
  • Maurice Ravels Bolero (1928) hätte es von seiner Bekanntheit her eigentlich in die Top Ten schaffen müssen. Und tatsächlich pfeift der Spatz an und für sich, wenn es um Ravel geht, einzig und allein die Bolero-Melodie vom Dach. Doch Ravel war ein viel zu grandioser Komponist und wird vom Autor des vorliegenden Artikels zu sehr geschätzt, als dass wir ihn auch nur in die Nähe dieser etwas gemeinen Liste rücken wollen. Es lebe die Subjektivität!
  • George Bizets Carmen (1875)? Nein! Erstens enthält Bizets letzte Oper mehrere Hits, mindestens die Ouvertüre, die herrliche Sequidilla und die obligatorische Habanera. Zudem sind Je crois entendre encore und das Duett von Zurga und Nadir aus Bizets Perlenfischern (1863) zu schön, um Bizet einen One-Hit-Wonder-Komponisten nennen zu dürfen.
  • Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung: ja, aber… Boris Godunow ist erstens genial und wird zweitens doch nicht gerade selten gegeben.
  • Die Oper Andrea Chénier von Umberto Giordano: Großartiges Beispiel, eigentlich ein Muss für unsere Liste, aber knapp nicht dabei. Auch Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel (sagen wir mal »Platz 13«), Tomaso Albinonis Adagio g-Moll (wohl eh nicht von ihm), das E-Dur-Menuett aus dem Streichquintett G 275 von Luigi Boccherini (sein Fandango rockt auch ziemlich), Erik Saties Gymnopédie Nr. 1 (die Gnossienne Nr. 5 ist viel schöner), Carl Maria von Webers Freischütz (gäbe – angesichts von zwei häufig zu spielenden Klarinettenkonzerten – Ärger mit ganz lieben Kollegen), die Ouvertüre zu Michail Glinkas Ruslan und Ludmilla (wird eh als Oper fast nie ganz gespielt) und Edward Elgars Marsch Nr. 1 aus Pomp and Circumstance (hallo, Cellokonzert, hallo Nimrod aus den Enigma-Variationen und hallo, Salut d’amour?) haben es nicht geschafft.

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.