In Mexico City kann man Wasser von 7-Eleven in hantelförmigen Flaschen kaufen. Im Urlaub kaufte ich eine und schickte ein Bild von ihr an Michael Maierhof – gerade einer der originellsten Komponisten und ein meisterhafter Manipulator der klanglichen Eigenheiten von Plastik. Sollte ich ihm eine Flasche mitbringen? »Sieht super aus, könnte beispielsweise als 3D-Objekt funktionieren. Bitte bring’ eine mit, wenn du Platz in deiner Tasche hast«, schrieb er.
Einige Wochen zuvor habe ich Maierhof zum ersten Mal in seiner Wohnung nahe der Reeperbahn in Hamburg getroffen. Ich hatte sein Stück Splitting 32.3 gehört, für zwei Perkussionisten, die mit elektrischen Zahnbürsten auf deren Verpackung spielen, Zahnbürse als Bogen, Verpackung als Cello. Das Stück ist geprägt von geräuschhaften Elementen und komplexen Obertonstrukturen. Ich frage ihn wie seine Idee, Plastik als Resonanzboden zu verwenden, entstanden ist. »Irgendwann habe ich von meiner Bank eine elektrische Zahnbürste als Werbegeschenk bekommen. Aus Dankbarkeit habe ich dann tatsächlich eine Zahnversicherung abgeschlossen! Es war eine Oral B – und meine eigene Zahnbürste wollte ich nicht benutzen zum Experimentieren, aber diese lag herum und ich habe angefangen, ohne Bürste, nur mit dem Metallstab, Gegenstände anzuregen. Ich dachte: ›Oh, das hat eine Kraft.‹ Er holt eine alte Zahnbürstenverpackung, fährt mit den Fingern ihre Konturen nach und zeigt mir die Möglichkeiten der Klangproduktion.
In Maierhofs Kompositionen kann man hineinsinken wie in ein heißes Bad, gleichzeitig haben sie aber etwas Erfrischendes, als wäre die Badewanne plötzlich mit Eiswürfeln gefüllt. Splitting 36.4 für Klavier hat eine metallisch-kratzende Intensität, die von Sinustönen durchkreuzt wird – und von Stille. Shopping 4, sein vielleicht bekanntestes Werk für drei Luftballonspieler, ist geprägt von einer ganzen Reihe treibender Texturen und splitterhafter Klänge. In der Mitte des Stücks erklingt ein mikrotonaler, klagender Teil, der an die Musik des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi erinnert. Ich frage Maierhof, wie er diese Klänge entwickelt hat. Er habe zuerst Plastiktüten aus dem Supermarkt ausprobiert, dann aber jemanden mit einem Luftballon vorbeilaufen sehen und realisiert, dass man mit Ballons mit weniger Aufwand ähnliche Klänge hinbekommen könne, weil deren Spannung und Masse höher sei. »Als ich Maierhof zum ersten Mal traf, habe ich den Fehler gemacht, seine Musik mit der von Helmut Lachenmann zu vergleichen«, sagt Brian Archinal, ein Perkussionist und Dozent an der Berner Hochschule der Künste. »Und er widersprach: ›Nein, das hier ist nicht die Dekonstruktion eines Instruments, sondern die Konstruktion eines neuen Instruments.‹«
Festzustellen, Maierhof schreibe Musik für Alltagsgegenstände, ist korrekt und gleichzeitig eine nicht ganz faire Verkürzung seines Talents. Der Ausdruck weckt Bilder von provokanten Experimenten aus der Fluxus-Ära. Maierhof hat sich aber bis in tiefste Details mit dem Klang und seiner Produktion beschäftigt und auch selbst an und mit seinen Instrumenten gearbeitet, auf traditionelle und weniger traditionelle Art. Das gilt auch für die Form seiner Stücke: Seine Musik sei »wie die von Conlon Nancarrow, was ihre strukturelle Klarheit angeht«, sagt mir der Perkussionist Victor Barceló.
Als ich Maierhof nach seinen Einflüssen frage, nennt er: mathematische Axiome, Hip Hop und den Klang von Helikoptern, die von Oberschicht-Pendlern in Los Angeles benutzt werden. Sein beeindruckendes Stück Splitting 5 für Violine, Video und Tonband weckt in mir allerdings Assoziationen mit Fidelspiel in der Hochdruck-Atmosphäre der Venus und den Mashups von DJ Madlib. (Tatsächlich sind die Hip-Hop-Ausschnitte im Stück von Mos Def.) Im Video zu Splitting 5 gibt es fragmentarische Bilder von Flugzeugen und Dunkelheit: »Komischerweise mache ich in letzter Zeit Videos ohne Ton«, sagt er mir. Das Video zu einem späteren Werk, Splitting 34, besteht aus einer Vergewaltigungsszene aus Sergio Leones Es war einmal in Amerika, zerstückelt, das Bild verdoppelt und seitenverkehrt. Maierhofs Videos sollen eine visuelle Version seiner Musik sein – und das funktioniert. Wie die Musik haben sie eine angespannt-bedrückende, aber irgendwie auch ekstatische Qualität. In Splitting 34 gibt es keinen Klang. Er sagt mir: »Stille – Klang, Faszination – Abstoßung, Ekel – Anregung: Das geht immer zusammen und ich will immer beides.«
Maierhof ist in einer hessischen Kleinstadt namens Dietershausen aufgewachsen. Er singt zusammen mit seiner Mutter im Dorfchor, wo er auch Notenlesen lernt. Ansonsten ist das Elternhaus nicht musikalisch. »Wir haben keine Musik gehört, auch kein Radio«, sagt er. Er will Klavier lernen, aber die Eltern sind dagegen. Er fängt an zu malen. Auch hier kriegt er keinen Unterricht, also bringt er es sich selbst bei.
Einer seiner Schulfreunde spielt Orgel in der örtlichen Kirche und verschafft Maierhof von Zeit zu Zeit Vertretungsdienste. Da kämpft er sich durch Bach-Choräle und irgendetwas klickt bei ihm. Er studiert Mathematik und Musikpädagogik an der Universität im nahen Kassel, wo er richtig Klavierspielen lernt, dazu genug Flöte und Cello, um damit zu experimentieren. Nach seinem Abschluss zieht er nach Hamburg, wendet sich Kunstgeschichte und Philosophie zu und arbeitet gelegenheitsmäßig als Dirigent eines örtlichen Chors. Dort bekommt er seinen ersten Kompositionsauftrag für ein Stück, das er auf den Reklametexten eines Discounters basieren lässt.
Maierhof ist schwul, und wenn er über Hamburg spricht, spürt man die Zuneigung von jemandem, der seinen Platz gefunden hat. Das Gegenteil davon trifft auf Dietershausen zu – er habe seinen Heimatort verlassen müssen um »überleben« zu können, sagt er mir, es sei die »Hölle« gewesen. In St. Pauli trifft er Künstler, Modedesigner und später seinen Freund, mit dem er mittlerweile 16 Jahre zusammen ist. Kurzzeitig arbeitet er als Fahrradkurier und unterrichtet Klavier. Seit er in Hamburg ist, lebt er in der gleichen Wohnung.

Seinen ersten bezahlten Kompositionsauftrag bekam Maierhof mit 34. Die Zeit bis dahin nutzte er, um sein Interesse für andere Kunstformen auszubilden. Diese Offenheit in Verbindung mit seiner autodidaktischen Herangehensweise ans Komponieren prägen seine Musik. Er ist ein aufmerksamer Zuschauer, Zuhörer und Beobachter. An einem grauen Nachmittag schauen wir uns eine Ausstellung des Videokünstlers Omer Fast in einer Berliner Galerie an. Als wir einen Hinweis sehen, der vor pornographischem Inhalt warnt, sagt er: »Das müssen wir uns unbedingt ansehen.« Beim Gespräch im Café erinnert er sich an kleine Details, etwa die Anzahl der Leinwände in einem der ausgestellten Werke. An einem anderen Abend beschreibt er mir ausfühlich und peinlich genau eine Inszenierung von Lulu, die er vor kurzem gesehen hat.
»Das liebe ich an Kunst. Ich packe die Zahnbürsten aus und spiele damit. Ich habe das vorher nie angeguckt. Dann denke ich, Plastikbecher sind mir nicht rund genug, es gibt einen Übergang und dann klackt es immer. Ich brauche etwas Runderes, ich brauche eine komplexere Form, und dann liegt auf dem Schreibtisch gerade die Verpackung [der Zahnbürste]… und dann sieht man das und denkt: ›O Gott‹«.
»Sieht man es«, trifft es auf den Punkt, denn Maierhofs künstlerischer Arbeitsprozess gleicht am ehesten dem eines Malers. Er macht Pinselgesten mit seiner Hand und sagt: »Ich mache so und sehe: nein. Mache es wieder weg. Ich mache so, und, ja, das ist besser. Darin liegt die Chance, ein Stilgefühl zu entwickeln. Das ist alles Hören. Ich arbeite von vorne nach hinten. Und dann mache ich die Proportionieren – ›das ist zu kurz, das ist zu lang‹«.
Ich erwähne, dass ich manchmal das Gefühl habe, bestimmte Texturen in seinen Stücken könnten länger dauern, so dass ich besser in ihrer Komplexität schwelgen kann. Das sei absichtlich, sagt er. »Wenn etwas zu lang ist, bin ich auch ein Thema. Ich als Hörer. Und das finde ich eigentlich super. Ein Shift, ein Perspektivwechsel. Und dann hole ich sie wieder rein, gebe ihnen was Anderes und es ist zu kurz. Das ist die Faszination von Kunst, die keiner verstehen kann, wenn er nicht selbst Kunst macht. Man steht im vollkommen leeren Raum vor allen Entscheidungsmöglichkeiten. Und du musst dich irgendwie entscheiden für irgendwas.«
Obwohl Texte über Neue Musik ständig betonen, dass Genres keine Bedeutung haben – Maierhofs Platz in der Szene ist schwer zu fassen. Das war und ist für ihn nicht gerade förderlich: Er ist weder ein konzeptualistischer Provokateur, noch ein Spektralist, der sich der Schönheit der Obertonwelt widmet, noch ein Improvisator, der am Rande der Szene agiert. Stattdessen ist er ein scharfsinniger Zuhörer, der detailreiche Partituren schreibt und dessen Botschaft – wenn es überhaupt eine gibt – ein subtiler Aufruf an die Welt sein könnte, den Plastikschutt, von dem unsere Welt bedeckt wird, einem höheren Nutzen zuzuführen. Sein Standpunkt kam nicht immer gut an: Im Jahr 2000 wurde ein Stück von Maierhof in Darmstadt uraufgeführt. Nach der Premiere schrieb jemand »Maierhof Scheißmusik« an die Wände des Konzertsaals und in herumliegende Bücher. »Ich bin vielen Widerständen begegnet«, sagt er mir. Die vor kurzem fertiggestellte Elbphilharmonie in Hamburg ist ein architektonisch beeindruckendes Prachtstück eines Konzertsaals, das den Steuerzahler 789 Millionen Euro gekostet hat. Zu seiner Schande gab es dort bislang keine Musik von Maierhof, der möglicherweise Hamburgs wichtigster Komponist ist. Er habe sogar Probleme gehabt, an Tickets zu kommen. In den Konzerten hätten dann die Zuschauer oft lieber Nachrichten geschrieben oder geplaudert.
Eine tief empfundene Freude an den Feinheiten seines Handwerks gibt die Kraft zum Arbeiten. »Wenn ich nicht jeden Tag komponieren kann, nervt mich das«, sagt er mir. Als ich ihm schließlich die Hantel-Flasche aus Mexiko gebe, erscheint ein breites Grinsen auf seinem Gesicht, er hält sie in der Hand und streckt sie in die Höhe wie ein Kind, das seine Eltern davon überzeugt hat, ihm ein Geschenk zu kaufen. Junge, talentierte Gruppen wie das Nadar Ensemble oder Ensemble THIS | Ensemble THAT haben in letzter Zeit immer mehr herausragende Aufführungen seiner Stücke gebracht. Maierhofs Musik steht auf der richtigen Seite der Geschichte.
Während unserem ersten Interview spricht Maierhof zwei Stunden lang über sein Leben und Werk, danach ist er sichtlich erschöpft. Er schlägt vor, dass wir zusammen zum Hafen laufen. Auf dem Weg machen wir ein wenig Smalltalk. Der Wind ist heftig und beißend. Wir gehen bis ans Ufer und schauen über das Hafengebiet. Ich merke an, dass das Gebäude der Elbphilharmonie ziemlich schön sei. Er stimmt zu, meint aber, dass er das weiß-grüne Schiff auf der linken Seite viel beeindruckender finde. Er meint die »Rickmer Rickmers«, das Segelschiff, das 1912 eine Route Hamburg-Chile bediente.
Das erinnert mich an etwas, das er eineinhalb Stunden vorher gesagt hatte. Der belgische Künstler Bas Jan Ader, der bei einem Versuch, den Atlantik in einem Segelschiff zu überqueren, verschwand, hat einen Film über sich selbst gemacht. Sein Kopf ist abgeschnitten, während er Blumen in den Grundfarben anordnet. Für ein Künstlerfoto hat Maierhof das Bild von Ader nachgestellt. Als ich es zum ersten Mal sah, dachte ich: »Man kann ihn ja kaum erkennen.« Jetzt denke ich: Man muss nur genau hinschauen. ¶