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Titelbild SYBREN STÜVEL (CC BY-NC-ND 2.0)

Andrew Manze, Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie Hannover

Ralph Vaughan Williams, Sinfonie No. 5; London Philharmonic Orchestra mit Ralph Vaughan Williams (Dirigent)

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Vaughan Williams, Humanist und Pazifist, stellte seine 5. Sinfonie in den dunkelsten Tagen des Zweiten Weltkriegs fertig. Sie wurde 1943 in London uraufgeführt und ist ein glasklarer Ausdruck des Vertrauens in die Menschheit – dass sie dazu fähig ist, die Güte aus den Trümmern der Alltagsrealität zu erretten. Den Subtext beiseite – sie ist auch ein wunderschönes Werk.

Meine Reaktion auf das Brexit-Votum war und ist immer noch: Scham, über den Hochmut Britanniens; Sorge, die EU und damit Europa könnten zerbrechen; Schock, dass die Britischen Wähler die Demagogie den vernünftigen Argumenten der Experten (Politiker*innen, Intellektuelle, führende Geschäfts- und Finanzmenschen) vorgezogen hat und glaubte, dass der Brexit angesichts der Probleme des Landes eine Hilfe ist. Wenn der Albtraum einer Visumspflicht verhindert werden kann, werden Musiker*innen immer die Grenze zwischen UK und EU passieren. Wie es der Kultur in einem verlassenen, umnachteten Großbritannien ergehen wird, muss man abwarten.


Charlotte Bray, Komponistin, Berlin

Charlotte Bray, That Crazed Smile; Oberon Trio


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Das ist eins aus einer Handvoll von Stücken, die ich als Ergebnis eines teilweisen Umzugs von London nach Berlin, 2011, geschrieben habe. Angesichts der Leichtigkeit des Reisens innerhalb Europas, in einer neugierigen Stimmung und nachdem ich zu Besuch in Berlin gewesen war und mich in die Stadt verliebt hatte, beschloss ich, meine Lehrtätigkeit, die mich an London band, aufzugeben und Freie Komponistin zu werden. Meiner Karriere war diese Entscheidung enorm förderlich. Ich konnte starke Arbeitsbeziehungen mit einer ganzen Bandbreite an internationalen Musiker*innen knüpfen.


Simon Halsey, Chordirektor beim London Symphony Orchestra / London Symphony Chorus, Ehrendirigent des Rundfunkchores Berlin

Benjamin Britten, War Requiem, Sanctus; Atlanta Symphony Orchestra und Robert Shaw (Dirigent)

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Ich bin entsetzt vom Brexit von allem, wofür er steht; aber die Tatsache, dass ich damit in der Minderheit bin, lässt darauf schließen, dass die Kommunikation versagt hat — dabei den Leuten, die Vorzüge der EU klar zu machen. Das müssen wir uns alle vorwerfen lassen; ich glaube, Großbritannien bleibt grundsätzlich ein anständiges und gutes Land — lasst uns versuchen, die Zukunft gut anzugehen. Die Botschaften von Beethovens 9. Sinfonie, von Michael Tippetts A Child of our Time und Brittens War Requiem zählen jetzt mehr denn je.


Philip Venables, Komponist, Berlin

Naomi Pinnock, Music for Europe; Ensemble Adapter

Andrew Hamilton, music for people who like the future; Neue Vokalsolisten

Ich habe zwei Stücke ausgewählt: Music for Europe von Naomi Pinnock, einer britischen Komponistin, die jetzt in Europa (Berlin) lebt, und music for people who like the future von Andrew Hamilton, der aus Europe (Irland) stammt, aber nun im Vereinigten Königreich lebt.

Music for Europe schaut in die Vergangenheit, schaut auf Traurigkeit. Sie ist wie ein Requiem für alles, was wir als britische Europäer*innen verloren haben. Naomis Stück ist von einem Paul-Klee-Text zu einem seiner Werke inspiriert: »Hoch und strahlend steht der Mond. Ich habe meine Lampe ausgeblasen, und tausend Gedanken erheben sich von meines Herzensgrund. Meine Augen strömen über von Tränen.« music for people who like the future dagegen hat eine zuversichtlichere Perspektive, einen lustigen, absurden Stil, genau wie ich es mag.

Der Text, den Andrew verarbeitet, kommt von Wagner, aus Das Kunstwerk der Zukunft und handelt von der Berührung zwischen Kunst und Leben. Die beiden können gar nicht getrennt werden – als Künstler müssen wir unsere Kunst und unsere Stimme benutzen, um gegen Nationalismus und Rechtsextremismus zu kämpfen. Protestiert laut!


Matthew Truscott, Konzertmeister des Mahler Chamber Orchestra

Henry Purcell, Timon of Athens, XIII. Curtain Tune; Florilegium Musicum Ensemble

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Mein erster Gedanke war: Es muss Purcell sein – Schöpfer einer der großartigsten Musiken, die unserer kleinen Insel je entstammt ist. Seine Musik bleibt unverkennbar in seinem Stil, während sie gleichzeitig die vielen europäischen Einflüsse aufsaugt und feiert, die bereits im späten 17. Jahrhundert das musikalische Leben Londons bereicherten: Französischer Tanz, italienischer Kontrapunkt und böhmische Virtuosität, auf ihrer ganz eigene Art »clog’d with somewhat of an English vein« (etwa: von einer englischen Ader eingefärbt), wie es der Zeitgenosse Roger North beschrieb.

Ok, also welches Stück? Dieses wundervolle Curtain Tune ist dunkel, aufwühlend, und so in etwa fühle ich mich auch über diese fehlgeleitete und schändlich verdrehte Unternehmung. Der Bass in der Grundlage bringt den Zuhörer dazu, sich der Unvermeidlichkeit der Zeit zu stellen und auch das Thema des Werkes ist irgendwie passend: Timon, ein Bürger Athens, Geburtsstätte der westlichen Zivilisation und Wiege der Demokratie, ist ein einsamer Menschenfeind, der irgendwie damit ringt, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er schafft es nicht. Ich hoffe, wir schaffen es. ¶