Ein Interview mit Martina Gedeck.
Wenn Schauspielerinnen und Schauspieler sich Musikprojekten widmen, dann ist das manchmal eine nette, wenig aufwendige Abwechslung zum Film- und Theaterbetrieb. Manchmal ist es aber auch Ausdruck einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einer anderen Kunstform, deren Zeichen und Zeitlichkeit. »Ich habe durch die Musik eigentlich gelernt, dass Worte mehr sind als das, was sie transportieren«, erzählt Martina Gedeck, eine der großen deutschen Schauspielerinnen (Rossini, Bella Martha, Das Leben der Anderen, Elementarteilchen). Vor kurzem stand sie in Beat Furrers Oper Violetter Schnee auf der Bühne der Berliner Staatsoper, im Mai folgt ein Else Lasker-Schüler-Abend mit David Adorján (Cello) und Avi Avital (Mandoline) in Duisburg und Zürich. Und irgendwann kommt dann vielleicht Schubert … Ein Gespräch über musikalische Sozialisierung, das präzise Spiel auf der großen Bühne und Lieblings-Filmmomente mit Musik.
VAN: In der Uraufführung von Beat Furrers Oper Violetter Schnee an der Berliner Staatsoper hatten Sie eine Sprechrolle. Wie bereiten Sie sich darauf vor, auf einer Opernbühne zu sprechen?
Martina Gedeck: Man muss in beiden Fällen die Stütze benutzen, gut artikulieren, die Stimme sollte im richtigen Raum ›sitzen‹. Trotzdem ist die Körperspannung beim normalen Sprechen eine ganz andere, als beim Sprechen auf der großen Opernbühne. Bei der Oper ist der Körper mehr Instrument des stimmlichen Ausdrucks, beim Film ist es umgekehrt. Ich muss die Texte anders verinnerlicht haben als beim Film: Durch das Sprechen und durch den Inhalt dessen, was ich sage und was ich dabei empfinde, verändert sich die körperliche Haltung. Und da muss man sehr deutlich sein auf der Bühne. Mir scheint die Körpersprache auf der Bühne zeichenhafter zu sein. Es gibt so etwas wie eine Art Nachhall, nicht so eine Unmittelbarkeit wie beim Film. Der Weg zum Menschen ist ein längerer, man muss ihn ›mitnehmen‹. Dadurch verändert sich auch das Sprechen. In Violetter Schnee war das nochmal zugespitzt, weil ich dort auf Takt sprechen muss. Ich hatte wenige kurze Auftritte, aber ich musste immer sehr präzise sein, weil ich mit den Sängern in einer Art Dialog war.
Geht die Konzentration auf das Sprechen auf Kosten der schauspielerischen Darstellung?
Das gleichzeitig zu bewältigen gehört zur Kunst des Schauspielers und der des Sängers. Meine Dreharbeiten sind relativ ›klassisch‹, es sind keine Filme, die improvisiert sind, bei denen man irgendwas redet und der Kameramann läuft mit. Da gibt es auch eine Zeitschiene, in der wir uns bewegen. Zum Beispiel: Ich muss meinen Satz zu Ende gesprochen haben, wenn ich an der Tür ankomme. Auf diesen fünf Metern muss ich also meinen Text unterbringen. Natürlich gibt es innerhalb dessen eine gewisse Freiheit, ich kann den Schritt verlangsamen, eine Pause machen, das bleibt mir überlassen. Letztlich ist es aber auch eine ganz präzise Arbeit, die Kamera fährt in einem bestimmten Tempo mit, so dass wir gemeinsam mit diesem Text ankommen müssen. Das ist im Grunde dasselbe Prinzip, nur in Miniatur.

Aber Sie können mit weniger Konzentration sprechen als zum Beispiel ein Koloratursopran bei einer anspruchsvollen Arie.
Es gibt in dem Sinne keine ›Fehler‹ die ich machen kann, wenn ich z.B. nicht sekundengenau spreche oder unterschiedliche Tonhöhen benutze, d. h. ich habe vielleicht technisch gesehen beim Spielen eine größere Freiheit. Die es aber nicht unbedingt einfacher macht, denn ich muss das Wesentliche körperlich und sprachlich in eine vollverständliche Form bringen und transzendieren und zwar ganz ohne Musik. Als Sängerin oder Sänger hast du einen unglaublichen Boden, den du als Schauspieler nie hast, weil du von der Musik getragen wirst. Du hast immer eine Orientierung. Du hast immer den Puls des Taktes, du kannst immer mitzählen, du weißt immer, wo du bist. Das gibt eine unglaubliche Sicherheit. Dein Instrument musst du beherrschen, und bis dahin ist es ein sehr schwieriger Weg. Aber wenn du die Technik einmal draufhast, dann ist das fantastisch. Deswegen können Sänger auch so abheben, sie sind in eine Kraft eingehüllt.
Sie haben angesprochen, dass der Weg bei der Oper vom Sänger oder Darsteller zum Zuschauer ein längerer ist als beim Film, wo die Kamera immer ganz nah dran ist. Müssen Sie da auch größer spielen?
Nein, du kannst auch ganz feine Akzente setzen. Wenn ich nicht einfach nur dastehe und den Satz sage, sondern in dem Moment authentisch bin, dann sieht man das eigentlich bis in die letzte Reihe. Ich konnte das immer ganz gut bei meiner Kollegin Anna Prohaska beobachten. Sie empfindet stark, ist aber gleichzeitig in ihrem Spiel sehr fein. Sie macht keine übertriebenen Gesten. Diese Präzision überträgt das Empfinden. Du kannst es dir nicht leisten, weder im Film noch auf der Bühne, einen ungefühlten Moment zu haben. Du musst im Grunde wirklich in jeder Sekunde auf der Bühne wissen, was du tust, warum du es tust, in welche Richtung du es tust, wen du ansprichst damit und was du sagen willst.
Erwarten Sie das auch von Instrumentalisten, wenn Sie ins Konzert gehen?
Ja, man muss nicht rumfuchteln und permanent irgendwie ›erklären‹, was es gerade bedeutet. Es sollte durchlebt sein. Das Sich-Öffnen ist das eigentlich Schwierige. Wenn du zu stark auf die Technik konzentriert bist, dann ist das schwierig.
Wie vertraut waren Ihnen die Codes und Strukturen der Oper?
Die waren mir überhaupt nicht vertraut (lacht). Ich bin da wirklich in etwas ganz Neues reingesprungen. Für mich war es zum Beispiel bei der ersten Probe wie ein Wunder, dass es zwei, drei Korrepetitoren gab, mit denen ich jederzeit arbeiten konnte. Ich bin es ja gewohnt, alleine zu arbeiten. Auf einmal waren da Leute, die mich gefragt haben ›und, was möchten Sie gerne machen‹? Ich hatte das Gefühl, dass man da schon sehr auf Händen getragen wird. Es gibt den wunderbaren Souffleur, den Assistenten des Dirigenten, den Dirigenten selbst … das ist geradezu luxuriös. Mir ist auch aufgefallen, dass man sich gegenseitig mehr stützt und hilft. Wenn eine Probe gut war, sagt man zueinander ›brava‹. Das kenne ich bei uns im Film nicht so. Da geht es sehr viel trockener zu und her.
Gibt es in Ihrer musikalischen Sozialisierung eigentlich so etwas wie ein Schlüsselerlebnis mit ›klassischer‹ Musik?
Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Initiationserfahrung: In meiner Familie hat klassische Musik keine große Rolle gespielt, aber ich habe als Kind Mozart sehr geliebt und mit neun Jahren meine erste Platte geschenkt bekommen. Die habe ich tausend Millionen Mal gehört …

… wissen Sie noch, was das war?
Ein Mozart Klavierkonzert mit Monique de la Bruchollerie, einer französischen Pianistin, die früh gestorben ist. Das war für mich so ein Urerlebnis: Während ich diese Musik hörte, wusste ich plötzlich vom ersten Satz an, was Mozart erzählt, worum es geht: Es ging um eine Frau, die Anführerin eines Volkes, einen Aufstand. Die Musik wurde zu einer echten Geschichte. Ich habe die Frau gehört, wie die Menschen reden, wie sie traurig sind. Das war eine Welt, die sich auftat, die mir vertraut war, und ich dachte, dass das so ist mit der Musik. Das kam mir ganz natürlich vor. Ich habe auch anderen verboten, die Platte zu hören. Wenn ich nachts aufwachte und meine Eltern hatten Gäste und als Hintergrundmusik meine Platte aufgelegt, bin ich rein und habe gesagt, ›das geht nicht, das ist nichts für den Hintergrund‹.
Hat sich Ihre Arbeit als Schauspielerin durch Musik verändert?
Ich habe durch die Musik eigentlich gelernt, dass Worte mehr sind als das, was sie transportieren. Dass sie auch Klang sind. Dass sich das Empfinden im Klang, im Rhythmus, in der Modulation äußert, unabhängig davon, was die Worte bedeuten. Dass es immer um die Berührung geht, darum, dass man den Anderen im Wesen berührt, über einen anderen Weg als über die ›Geschichte‹, den Inhalt, den man erzählt. Ich glaube, das ist die große Kraft der Opernerzählung, überhaupt der Musik, dass die Menschen abgeholt werden, an einen anderen Ort gelangen und sich dort plötzlich als lebendig erleben. Das ist etwas, was nicht unbedingt mit einem Plot oder einer rationalen Abfolge von Worten zu tun hat. Im Film müssen wir oft triviale Dinge sprechen, das ist nicht immer die große Poesie, nicht wie im klassischen Theater. Ich habe von der Musik gelernt, solche Passagen aufzuschließen und das Triviale, was da oben drauf liegt, einfach mehr oder weniger zu ignorieren, oder zu sagen, ›das ist das Blatt auf dem Wasser, aber das Wasser ist das, worum es geht‹.
Gibt es bei Musikern auch mal Skepsis gegenüber der Verbindung von Musik und Text und der Arbeit mit einer Schauspielerin?
Anfangs habe ich schon manchmal die Erfahrung gemacht, dass Musiker, mit denen ich aufgetreten bin, gedacht haben: ›Jetzt kommt dieser blöde Text, wann können wir endlich wieder spielen?‹ Und dann fürbass erstaunt waren, dass die Texte etwas gemacht haben mit der Atmosphäre, mit den Menschen, auch die Musik bereichert haben, dass da eigentlich eine Potenzierung stattfindet, aus der beides zusammen plötzlich zu einem anderen, lebendigen und schönen Körper wurde. Ich finde es spannend, dass die strenge Form, in der die Musik stattgefunden hat, sich ein bisschen öffnet, dass der Konzertbetrieb vielfältiger wird und die Gewerke sich untereinander mehr begegnen.

Andererseits gibt es Dinge, die sich hartnäckig halten: die Wunderkind-Faszination, Sie haben ja einmal Clara Schumann gespielt, gibt es immer noch, den Perfektionismus, die Hierarchien. Wie erleben Sie die ›klassische Musikkultur‹ im Vergleich zum Film oder zum Theater?
Der Musiker muss sich so viel mit seinem Instrument auseinandersetzen, als Schauspieler kannst du noch mehr teilnehmen am normalen menschlichen Leben. So gesehen sind die Musikerin, der Sänger von Beginn an noch ganz anders darauf eingestellt, sich einer Disziplin und einer Form unterzuordnen. Das wissen alle, das ist wie bei den Tänzern, ein ungeschriebenes Gesetz. Wenn wir bei Violetter Schnee diesen Apparat nicht gehabt hätten, die guten Leuten, die es da gibt, dann wäre es gar nicht möglich gewesen und auseinandergeflogen. So ein hohes Niveau erfordert diese Strukturen. Was ich wichtig finde, ist, dass man trotzdem immer auf die Menschen, die da drinstecken, achtet. Wenn ein Intendant das macht, wird er erfolgreich sein. Natürlich muss er die Zügel in der Hand halten, aber er darf die ›Pferde‹ nicht schinden. Das ist überall gleich, im Theater ist es ein bisschen lockerer geworden, nicht mehr so rigide, im Film sowieso nicht, das ist ein ganz fluktuatives Medium, in dem man sich für sechs Wochen trifft und wieder auseinandergeht.
Was fällt Ihnen sonst noch auf, wenn Sie in der klassischen Musikkultur unterwegs sind?
Es gibt einen Fokus auf die Äußerlichkeit, den ich unnötig finde und auch unangenehm. Das ist lebensabgewandt, in so einen Perfektionismus zu rutschen. Irgendwann vor einigen Jahren ging das los, da fiel mir das auf, dass die Geigerinnen auf einmal alle wie Models und die männlichen Solisten plötzlich wahnsinnig cool aussahen, und dass sehr stark mit dem Look eines Künstlers Werbung gemacht wurde. Aber das ist die Zeit, so ist es woanders auch, so wird geworben. Ich glaube, das hat letztlich keinen Bestand. Wenn ich jemanden sehe, der perfekt spielt, bei dem aber Herz und Verstand fehlt, dann langweilt mich das. Diese Leute sind zwar erfolgreich, vielleicht werden sie eine Zeitlang nach oben gespült und haben eine gewisse Präsenz. Aber wenn jemand wie Martha Argerich auftritt, weiß man schon, was das für eine große Künstlerin ist. Da gehen auch die Herzen der Zuschauer hin, am Ende des Tages.
Ihr Kollege Charly Hübner hat vor kurzem Schuberts Winterreise gesungen. Könnten Sie sich das auch vorstellen, oder sind Ihnen solche Werke zu ›heilig‹?
Nee, also gerade die Winterreise kann man auch als Nicht-Sänger, zumindest wenn man eine bestimmte Technik hat, ausdrücken und singen, finde ich. Der Bierbichler hat die auch sehr schön gesungen. Wenn ich mich jetzt mehr mit Gesang beschäftige, was mich auch als Schauspielerin sehr bereichert, weil das Instrument Stimme nochmal eine andere Kraft bekommt, dann kann ich mir das schon vorstellen.
Haben Sie schon etwas im Kopf, was Sie gerne einmal singen würden?
Eigentlich nicht, die Winterreise ist schon toll, überhaupt die Schubert-Lieder. Vielleicht mache ich das mal.
Musik und Sprache können sich gegenseitig manipulieren. Ist das eine Gefahr?
Ja, da dient die Musik oft der Beruhigung, wenn Gedichte von Rilke mit Musik unterlegt werden, damit die Menschen keine Angst bekommen. Ich fand das erst nicht gut, aber dann haben mir viele Menschen gesagt, wie wunderschön sie das finden, wie sie das Gedicht sonst nie gehört hätten und dann kann das sein, finde ich. Ich finde, dass bestimmte Gedichte keine Musik brauchen. Aber danach oder davor, das ist die Ergänzung. Beides zusammen ist sich meist im Weg. Ich mag das auch im Film nicht, diese permanente untermalende Musik. Die Stille, das Wort, das geht dann verloren. Man muss allerdings sprechen können und das können viele nicht mehr.
Gibt es einen ›Musik-im-Film-Moment‹, den Sie besonders lieben?
Das war immer Tod in Venedig, auch wenn es etwas abgedroschen ist (lacht). Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich sehr jung und kannte das Adagio von Mahler gar nicht.
Und in Ihren eigenen Filmen?
Als mich Helmut Dietl für Rossini auswählte, war ich Anfängerin und völlig begeistert, dass er mich zur Crème de la Crème der deutschen Schauspieler einlud. Als ich dann aber das Drehbuch las, habe ich meine Rolle erst gar nicht gefunden, so klein war die. Drei winzige Szenen, in denen ich eine kleine Kellnerin spielte. Ich habe überlegt, was ich daraus mache. Und dann ist mir sehr viel eingefallen, musikalische Arbeit. Es ging darum, dass ich Gnocchi sage. Wir haben zwei Stunden gedreht, nur wie ich das sage und wann ich das sage. Und dann hat Dietl die Rolle etwas ausgebaut. Als ich den Film sah, hatte ich ein eigenes musikalisches Thema. Ich hieß Seraphina (=der Liebesengel) und es war ein Liebesthema. Er hat die Figur als Gegenbild zur Schickimicki-Welt, die er ja karikiert, aufgebaut. Und der große Eindruck, den diese Figur hinterlassen hat, hat damit zu tun, dass immer, wenn ich auftauchte, diese sanft bezaubernde Melodie kam und diese Figur davon wie eingehüllt war. Ich habe das als stimmig empfunden, weil es sensibel und gut gemacht war. ¶