Ein sehr heißer Sommertag. Am Hauptbahnhof in Köln bleiben wegen der Hitze Züge stehen. Hinter dem Fenster der S-Bahn, die einen weiten Bogen um die Stadt Richtung Westen schreibt, gehen die Wohnblöcke bald in Wäldchen und Felder über. Schneller als gedacht ist man hier sehr weit draußen. Ein paar Kids hören auf dem Sitz gegenüber HipHop auf ihrem Handy. Das Sample unter dem Stück könnte von Can sein. Mein Blick fällt auf die Anzeige mit den nächsten Stationen, und wirklich, da steht Weilerswist, das Dorf, in dem die Band lange Zeit ihr Studio hatte und in dem heute ihr Bassist Holger Czukay immer noch als Produzent arbeitet. Zwei Stationen vorher steige ich aus, Erftstadt, in the middle of nowhere. Und irgendwie ist das fast schon symbolisch: Zwischen dem legendären elektronischen Studio des WDRs in Köln und einem der ehemaligen Zentren des experimentellen Rocks treffe ich Markus Stockhausen, einer, der geradezu exemplarisch stilistisch zwischen den Stühlen sitzt, zwischen Neuer Musik, Klassik, Jazz, Rock und völlig freier, intuitiver Musik. Vor dem Bahnhof wartet er schon. Dass er gerade 60 Jahre alt geworden ist, sieht man ihm nicht an. Klar, da sind die inzwischen grauen, nicht mehr schulterlangen Haare. Trotzdem wirkt er, wie er mich da herzlich lächelnd begrüßt und meint »jetzt fahren wir noch ein Stück« (Wie? Noch weiter aufs Land?), überraschend jugendlich: groß, schlank, wache braune Augen. Auf der Weiterfahrt zu seinem Hof, den er vor vielen Jahren zusammen mit einem anderen Musiker gekauft hat, frage ich ihn, wie es ihn in diese Gegend verschlagen hat.

»Mein Vater wohnte ja rechtsrheinisch, in Kürten. Mir war es immer wichtig, linksrheinisch zu bleiben.«   

Sehr schnell sind wir also bei dem Thema, das wohl bei jemandem wie ihm unvermeidlich ist: der berühmte Vater. Karlheinz Stockhausen, Ikone der Neuen Musik, einer der Begründer der elektronischen Musik, Komponist des siebenteiligen Opern-Zyklus‘ Licht. Oft wird sein Name an diesem Nachmittag noch fallen; es ist nicht zu übersehen, wie wichtig der Vater als Musiker, aber auch als Denker für seinen Sohn war und noch weiterhin ist, und das trotz eines nicht immer einfachen Verhältnisses.

Markus Stockhausen, Skulpturenpark Wuppertal (2009) • Foto Karl-Heinz Krauskopf
Markus Stockhausen, Skulpturenpark Wuppertal (2009) • Foto Karl-Heinz Krauskopf

Wir sind angekommen. Das umgebaute Bauernhaus mit dem großen Stall, der als Probe-, Aufführungs- und Versammlungsraum dient, ist als Insel im Grünen der denkbar größte Gegensatz zur schlecht gelaunten Hektik der Großstadt eine knappe Stunde zuvor. Und wieder sticht eine Ähnlichkeit mit dem Vater ins Auge: So wie der den 1960ern im Bergischen Land in einem einsamen Haus, umgeben von unberührter Natur  wohnte, so hat sich Markus ebenfalls auf dem Land niedergelassen. Doch das sind Äußerlichkeiten. Denn so wie hier, auf dem Hof, eine völlig andere, offen-familiärere Atmosphäre als auf dem versteckten Anwesen des Vaters in Kürten herrscht, so spielt und schreibt Markus seit über 40 Jahren eine Musik, die zwar oberflächlich betrachtet auch dem Einfluss des Vaters verpflichtet ist, schon lange jedoch zum eigenwilligsten und (der Begriff ist hier ausnahmsweise keine Platitüde) schönsten gehört, was die hiesige Jazzlandschaft zu bieten hat.

Nach einem kleinen Rundgang über den Hof sitzen wir im Schatten einer Linde auf einer Holzbank und schauen auf das Kartoffelfeld in der Nachmittagssonne. Wenn Markus von seinem Leben erzählt, ist da sehr viel Ruhe, Gelassenheit. Immer wieder drängt sich mir der Satz auf: Der ist mit sich selbst im Reinen. Geht es um das Verhältnis zu seinem Vater, schwingt sehr viel Bewunderung und Dankbarkeit mit, obwohl Markus nach der Scheidung seiner Eltern hauptsächlich bei seiner Mutter aufwuchs. Dafür förderte sein Vater ihn umso mehr musikalisch – mit einer Erwartungshaltung, an der mancher zerbrochen wäre; Markus hingegen hat sie schon als Teenager als Herausforderung verstanden. Mit sechzehn darf er zum ersten Mal bei einer Aufführung seines Vaters mitspielen, ein Jahr später beginnt er sein Studium an der Kölner Musikhochschule, unter anderem Jazz-Trompete bei Manfred Schoof. Dann geht es Knall auf Fall: Der Vater erarbeitet zusammen mit ihm sein halbszenisches 96-Minuten-Stück Sirius, das zur Eröffnung des Albert-Einstein-Planetariums in Washington als Auftrag der Bundesregierung im Beisein Helmut Schmidts 1976 uraufgeführt wird.

YouTube video

Es ist der Beginn einer außergewöhnlichen Zusammenarbeit. Denn in seinem für das nächste Vierteljahrhundert geplanten Opernzyklus reserviert der Vater jetzt für seinen Sohn eine der Hauptrollen: Markus spielt den technisch immens anspruchsvollen Instrumentalpart des Michaels, eine Art Christus-Figur. Bei manchen Stücken wie Examen aus dem Donnerstag muss er, während er spielt, auch tanzen; bei Michaels Reise, dem ersten Stück, das 1978 für Licht entstand und eigentlich einem klassischen Trompetenkonzert ähnelt, hätte er auch noch zusätzlich zu dem Solo-Part die Rolle des Dirigenten übernehmen sollen – eine Idee, die sich dann als nicht realisierbar herausstellte. »Er hatte sich, sagen wir mal, verstiegen in seine Vision, was alles möglich wäre.«, sagt Markus über die damalige Zeit. »Aber es zeigt so ein bisschen den Charakter meines Vaters, das Unmögliche versuchen. Und auch aus mir alles rausholen, was rauszuholen war. Auch das hat mich zu dem gemacht, was ich bin.«

Zur selben Zeit, als er mit den Kompositionen seines Vaters um die Welt tourt, wird Markus auch in der Jazz- und Klassik-Szene zum vielversprechenden Newcomer. 1981 erhält er den Preis des Deutschen Musikwettbewerbs und 1983 für die Jazz-Platte Continuum, auf der er im Trio mit dem Keyboarder Rainer Brüninghaus und dem Schlagzeuger Fredy Studer spielt, den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Tatsächlich hat das Album bis heute nichts von seiner Faszination verloren. Von Markus‘ Flügelhorn geht ein strahlender Glanz und zugleich eine fast unschuldige Innigkeit aus, eine Mischung, bei der man gut verstehen kann, dass der Vater in ihm die Verkörperung für seinen idealistischen Michael sah.

Anfang der 1980er scheinen Markus also alle Türen offen zu stehen. Kurioserweise spielt er damals auch auf den Alben eines Sängers aus dem Ruhrgebiet mit, dem von allen Seiten attestiert wird, dass er eigentlich gar nicht singen kann – was ihn nicht davon abhält, wenig später zum Star zu werden. Auf dem Soundtrack zu Uns reicht das nicht und Zwo von Herbert Grönemeyer ist auch Markus‘ Trompete zu hören.

Wenn es darum geht, seine eigene Musik zu machen, entscheidet er sich für keinen dieser Wege. Zwar spielt er auf Druck seines Vaters, für den Jazz »Frühstücksmusik« ist, vorerst keinen Jazz mehr, sondern vor allem dessen Stücke. Daneben aber gründet er jetzt sein eigenes Ensemble: »Kairos«, dem auch sein Halbbruder, der Keyboarder und Komponist Simon, angehört. Die Musik, die hier entsteht, nennt er intuitiv – ein Begriff, den sein Vater nicht zufällig im Jahr 1968, in einer Zeit der Bewusstseinserweiterung, erfand. In Werken wie »Aus den sieben Tagen« sollten kurze meditative Texte oder poetische Spielanleitungen zu einer neuen Art des Musizierens führen, bei dem die Musiker Kontakt zu ihrem Unter- bzw. Überbewusstsein aufnehmen und frei von Idiomen aus dem Augenblick heraus agieren. So heißt es in Treffpunkt: Alle spielen denselben Ton // Führe den Ton, wohin Deine Gedanken / Dich führen / Verlasse ihn nicht, bleibe bei ihm / Komme immer wieder / zum gleichen Ort zurück.«

Markus Stockhausen, Rimini (2014) • Foto Roberto Masotti
Markus Stockhausen, Rimini (2014) • Foto Roberto Masotti

Nur: Die intuitive Musik war alles andere als der Weg in die absolute Freiheit, als der er vielleicht auf den ersten Blick erschien. Denn natürlich war für den überzeugten Avantgardisten Stockhausen jede tonale Wendung, jedes Zitat verboten. Und auch der Text gab bereits eine klare Richtung vor. »Ich wollte aber keine geistige Einschränkung haben.«, sagt Markus heute dazu. So entsteht eine Musik des unmittelbaren Ausdrucks. Wenn man dann Markus‘ intuitive Stücke zum ersten Mal hört, wie bei einem Konzert mit dem Keyboarder Vladyslav Sendecki, dem Bassisten Arild Andersen und dem Schlagzeuger Patrice Héral, das unter dem Titel »Electric Treasures« erschien, ist man erst einmal überrascht. Kaum zu glauben, dass die Musiker diese 90 Minuten tatsächlich ohne jede Absprache oder Probe gespielt haben, so organisch und perfekt aufeinander abgestimmt wirkt das Zusammenspiel, bei dem sich jazzige Episoden zwanglos in Rock und dann wieder in avantgardistische Klangfelder verwandeln. Oder in Markus‘ Worten: »Du musst als Musiker ein Formgefühl haben. Und du musst wach sein.«

2001, mit Mitte 40, war dann der Wunsch, öfter und freier die eigene Musik weiterzuentwickeln, so stark, dass er sich entschloss, die Werke seines Vaters nicht mehr aufzuführen. Dessen erste Reaktion fällt für ihn typisch aus: »Das akzeptiere ich nicht.« Bis zu seinem Tod 2007 bricht er den Kontakt zum Sohn weitgehend ab.

Markus hingegen schreibt jetzt eine Weile lang verstärkt zum ersten Mal klassische Kompositionen für Solo-Trompete und unterschiedliche Besetzungen, die determinierte und improvisierte Elemente kombinieren; die Titel wie die Stücke mit ihrer unverhohlenen Tonalität kann man stellenweise kitschig finden: Sonnenaufgang, Sehnsucht, Tanzendes Licht, Das erwachende Herz. In ihren besten Momenten übersetzen sie aber die Magie, die von Markus Stockhausens Trompetenspiel ausgeht, in orchestrale Dimensionen. Und vor allem machen sie eines klar: Da kümmert sich einer ziemlich wenig darum, ob er nun der Sohn des »avantgardistischen Übervaters« ist; stattdessen hört er nur mehr auf sich selbst und seine eigene Spiritualität.

YouTube video

»Je weiter ich gehe, desto mehr staune ich über die unendliche Weisheit der Natur, wie alles aufeinander abgestimmt ist. Man kann nur voller Begeisterung und Ehrfurcht für die Schöpfung sein«, sagt Markus, während die Schatten auf dem Kartoffelacker vor uns länger werden. Und dann: »Wir sind alle Aspekte des Göttlichen. Das ganze Leben als göttliches zu begreifen, ist mir natürlich geworden.«

Zum Abschluss hören wir noch in seinem Arbeitszimmer das letzte Stück seiner neuen CD Far into the stars. Neben seinem Schreibtisch stehen Fotos, die seine Gedankenwelt und seine eigene Biografie gut umschreiben: Er als 19-Jähriger bei den Proben zu »Sirius« zusammen mit seinem Vater; daneben der Sufi-Philosoph Hazrat Inayat Khan, dessen Lehre darin bestand, den gesamten Kosmos als Musik zu begreifen. Er habe, erklärt er, bevor er die CD startet, zusammen mit den anderen Musikern seines neuen Quartetts Quadrivium eine Wanderung durch den frisch gefallenen Schnee gemacht; danach seien sie, ohne miteinander zu sprechen, ins Studio gegangen und haben den Track aufgenommen. Intuitiv, frei. Es sind zehn Minuten, wie sie exemplarisch für all das stehen, was das Werk von Markus Stockhausen so einzigartig macht: die lang gehaltenen Töne seines Flügelhorns, aus denen sich langsam ein Rhythmus und eine Melodie formen, sich hymnisch steigern, nach und nach wieder verschwinden und doch in ihrem Nachhall ein Strahlen zurücklassen. Strahlende Stille. ¶