Das Rossini Opera Festival zu Pesaro ist immer noch ein Vorzeige-Modell in Sachen Werkerschließung am lebendigen Gegenstand

Text Uwe Schneider · Titelbild Le siège de CorinthE (Luca Pisaroni, Nino Machaidze) © Studio Amati Bacciardi · Datum 16.8.2017

Von den gar nicht so zahlreichen Musikfestivals, die sich dem Schaffen eines einzigen Komponisten widmen, ist dasjenige im italienischen Pesaro ein besonderes. Man zählt bereits den 37. Jahrgang, der sich dem Oeuvre Gioacchino Rossinis, des 1792 in der Adriastadt geborenen Komponisten, verschrieben hat. Von dessen etwa drei Dutzend Opern haben sich auf den Bühnen kaum mehr als eine Handvoll im festen Repertoire gehalten. Doch die im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts begonnene Rossini-Renaissance hat mittlerweile dazu geführt, dass inzwischen alle Werke wieder aufgeführt und eingespielt wurden. Entscheidend dazu beigetragen hat das 1980 in Pesaro gegründete Rossini Opera Festival, das mehr ist als ein beliebiges Sommerfestival für die Reichen und Schönen. Von Beginn an hat man hier führende Interpreten des italienischen Belcanto erleben können, Montserrat Caballé, Marilyn Horne, Ruggero Raimondi, Chris Merritt, Rockwell Blake, Claudio Scimone und Claudio Abbado prägten die erste Phase des Festivals ebenso wie auch später der im vergangenen März verstorbene Dirigent Alberto Zedda, dem der diesjährige Jahrgang gewidmet ist.

La pietra del paragone; Aya Wakizono, Gianluca Margheri • Foto Studio Amati Bacciardi
La pietra del paragone; Aya Wakizono, Gianluca Margheri • Foto Studio Amati Bacciardi

Artikel jetzt twittern: Editorische Bemühungen gebündelt und theaterpraktisch überprüft. Der Bericht vom Rossini-Festival. 

Das sind nur einige der wichtigsten Namen, doch sie sind eng verknüpft mit einer konsequenten Renaissance der Werke Rossinis. Sie brachten in den 1980er Jahren, als noch die Faszination an Stimmen, an gesangstechnischer Raffinesse, an den Feinheiten von Phrasierungskünsten, Verzierungen und aberwitziger Ausgestaltung von Koloraturläufen im Zentrum eines Opernabends stand, fast vergessene Titel wie Ermione, Bianca e Faliero, Maometto secondo oder Il viaggio a Reims als Vokalereignisse zurück auf die Bühne. Als man 1994 schließlich die Fondazione Rossini gründete, wurden musikwissenschaftliche und editorische Bemühungen gebündelt und theaterpraktisch überprüft. Die Bemühung um historisch-kritische Grundsätze hat die Aufführungen mit der exemplarischen Edition des Gesamtwerks von Gioacchino Rossini bei Ricordi verbunden und im Bewusstsein der wissenschaftlichen Ergebnisse, ohne Kürzungen und Regisseurs-Eingriffe, zur Aufführung gebracht. Eine Accademia Rossiniana sorgt zudem für die Ausbildung des musikalischen Nachwuchses.

Gilt Rossinis Werk im deutschen Sprachraum noch heute Vielen als seicht und wenig gewichtig, und kennt man ihn hierzulande doch vor allem als Autoren von Buffas wie dem Barbiere di Siviglia, der Cenerentola oder der Italiana in Algeri, so kann man in Pesaro seit 1980 anderes erleben – Rossini als Komponisten, der den Übergang von der späten Opera seria hin zu den dramaturgisch dichteren Spielarten des Dramma und schließlich zu frühromantischen, großdimensionierten Vorläufern der Grand Opéra maßgeblich prägte. Es ist eine Revision vergleichbar derjenigen der parallel einsetzenden Renaissance an Händel-Opern, auch hier in Verbindung mit historisch-kritischer Aufarbeitung der Quellen. Doch es sind auch die Bühnenästhetiken, die hier Entscheidendes beitrugen. In Pesaro reicht die Palette von der historisierenden Ausstattung bis hin zu dem, was man in Italien für modernes Regietheater hält. In den letzten Jahren hatte ein Filmdiskurs die Inszenierungen geprägt; so gab es 2012 die Jugendoper Ciro in Babilonia in der Ästhetik monumentaler Historienstummfilme, 2011 war Adelaide di Borgogna mit unbeholfener Videospiel-Ästhetik vorausgegangen, 2013 folgte die Italiana in Algeri als verspielte James-Bond-Film-Parodie in bunter Popästhetik, 2016 der Turco in Italia als verquere Fellini-Hommage. In einem Land, das seit Jahren konsequent seine eigene Kulturtradition schädigt, indem es Theater, Orchester und Opernhäuser schließt und totspart, hat sich offenbar ein alternativer Referenzdiskurs über den Film gebildet. Das Rossini Opera Festival in Pesaro ist hier eine der letzten Bastionen der Live-Kultur, neben den Opernhäusern im repräsentativen Mailand und dem inhaltlich wieder erstarkten in Rom, von denen Ansätze zu einer Neuorientierung ausgehen.

Bis heute hält der Erfolg des Festivals in Pesaro – mit einer Qualitätsdelle nach der Jahrtausendwende – an, und ab Mitte August trifft man in den Marken neben den größtenteils italienischen Badetouristen eine recht internationale Fangemeine des Festivals. Neben Recitals und Konzerten stehen alljährlich je drei Opern zentral auf dem Spielplan. In diesem Jahr die Neuinszenierung der 1826 für Paris entstandenen Tragédie lyrique Le siège de Corinthe und die Wiederaufnahmen der verkannten Komödie La Pietra del paragone und des der italienischen Frühromantik verpflichteten Dramma semiserio Torvaldo e Dorliska. Dieses Titelgespann lässt die Herzen entdeckerfreudiger Opern-Aficonados höher schlagen.

La pietra del paragone; Paolo Bordogna, Marina Monzò • Foto Studio Amati Bacciardi
La pietra del paragone; Paolo Bordogna, Marina Monzò • Foto Studio Amati Bacciardi

Zur Eröffnung also ein französischsprachiger Rossini, hinter dem sich eine drastische Überarbeitung seines italienischen Maometto secondo verbirgt. Die Vorstellung findet in einem etwas unwirklichen Ort statt, der seit langem zu den festen Spielorten des Festivals gehört, der Adriatic Arena. Am Stadtrand, zwischen Multiplexkino und Shopping-Mall, hat man hier mitten in eine Sportarena hinein ein holzverschaltes Auditorium gebaut, mit 1.500 Plätzen und – zumindest auf den vorderen von ihnen – erstaunlich guter Akustik. Vor dem mit einer Muschelhülle überspannten Waschbetonbau entbehrt das von zwei berittenen Carabinieri in Uniformen, die jedem Operettenfundus gut zu Gesicht stehen würden, beäugte Defilee der schmuckumwucherten Honoratioren beiderlei Geschlechts am Premierenabend nicht einer gewissen Skurrilität. Und auch wenn hier die großen Mediennamen der Klassikszene fehlen, so scheint dies ein Pflichttermin für alle zu sein, die wichtig sind oder sich dafür halten. Für reiche Witwen, graumelierte ältere Herren im Smoking und manch absonderliches Abendkleid.

Adriatic Arena • Foto Uwe Schneider
Adriatic Arena • Foto Uwe Schneider

Die breite Bühne bringt, wie in Salzburg, Chancen und Nöte für Regisseure. Für Le siège de Corinthe hat Carlus Padrissa für seine katalanische Eventtruppe von La Fura dels Baus, die seit Jahren konsequent die europäischen Bühnen mit ihrem Nichts an gekonnter Personenregie und verwackelter Videoästhetik überzieht, ein paar Mauern aus leeren Wasserflaschen bauen lassen. Bei Belagerungen wird das Wasser knapp, so wohl sein Gedanke. Die inhaltliche Beschäftigung mit dem Stück ist damit an diesem Abend schon fast am Ende angekommen, sieht man einmal vom bemühten Mitmachtheater im dritten Akt ab, in dem einzelne, unterschiedlich willige Zuschauer dazu aufgefordert werden, aufzustehen und mit Chor und Statisten ihre Arme im Takt der Musik zu schwingen, irgendwie für den Freiheitskampf oder doch für den Märtyrertod, das wird nicht so ganz deutlich. Alle Ansätze, das Werk zwischen den Polen von Gegensätzen spielen zu lassen (Leben – Tod, Feuer – Wasser) verpuffen sofort wieder. Der szenische Rest des Abends ist auf, vor und neben dem Orchestergraben ein Arrangement von Chor und Solisten. Rossinis Tragédie zwischen Orient und Okzident stellt über die Figurenkonstellation hinaus die Frage danach, was es bedeutet, den Feind zu lieben, was an diesem Abend ohne nennenswerte Reflexion bleibt. Doch das ist alles nicht wichtig angesichts der musikalischen Qualität der Aufführung. Roberto Abbado am Pult des ebenso beherzt wie routiniert spielenden Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, strukturiert die Musik, formt Tableaus, schafft lyrische Ruhepole und versteht sich auf die Mechanik von Tempo und Rhythmus der großen Ensembleszenen und Finali. Mit dem Amerikaner John Irvin und dem Russen Sergey Romanovsky präsentieren sich zwei jüngere Rossinitenöre, kraftvoll und höhensicher, stilistisch geschult und mit der nötigen Beweglichkeit in den Stimmen. Die georgische Sopranistin Nino Machaidze findet lyrische Ruhe in der Partie der Pamyra und hat die nötige vokale Gewandheit für ihre Koloraturausbrüche. Den Eroberer Mahomet stattet Luca Pisaroni mit der nötigen stimmlichen Autorität und feinen Zwischentönen aus.

Le siège de Corinthe; Totale • Foto Studio Amati Bacciardi
Le siège de Corinthe; Totale • Foto Studio Amati Bacciardi

Ganz anders die Wiederaufnahme von La Pietra del Paragone durch Regiealtmeister Pier Luigi Pizzi am selben Ort. Die Bühne wird nun von einer aus Weiß und Glas bestimmten Luxusvilla samt Swimmingpool bestimmt und konsequent in der Ästhetik der 1970er Jahre geboten. Es ist ein ungewöhnliches Werk, das um acht Personen kreist und die Muster alter Typenkomödien und ihrer Proben auf die wahre Liebe mit einer Art Konversationsstück über Fragen des Schreibens und der Kunst vermischt. Die Kostümwechsel phantasievoller Siebzigerjahre-Mode sind zahlreich und das Sängerensemble junger Interpreten, die bereits ihre ersten größeren Erfahrungen auf anderen Bühnen gemacht haben, ist wunderbar aufeinander abgestimmt. Der Klamauk der unvermeidlichen Stürze in den Pool wechselt in den besten Momenten mit einer sommerlichen Gesellschaftskomödie. Aya Wakizono lässt mit ihrem vollen Alt als umworbene Marchesa aufhorchen, Davide Luciano ragt als wendiger Buffocharakter heraus und Maxim Mironov vertritt die Rossinitenorehre der Festivaltradition erstklassig. Daniele Rustioni setzt an diesem Abend mit dem Orchester der RAI auf kräftige Emotion, Vielfarbigkeit und rasante Abläufe, verzahnt die Nummern gekonnt und sorgt für viele schöne Details. Man amüsiert sich köstlich und Pier Luigi Pizzi sitzt sichtlich begeistert, die vielen gutgebauten Männerkörper genießend, die sich in seiner coolen Sommerkomödie immer wieder entblößen dürfen, in der ersten Reihe.

Torvaldo e Dorliska; Nicola Alaimo, Salome Jicia • Foto Studio Amati Bacciardi
Torvaldo e Dorliska; Nicola Alaimo, Salome Jicia • Foto Studio Amati Bacciardi

Den diesjährigen Höhepunkt bietet jedoch Mario Marones Inszenierung der Rettungsoper Torvaldo e Dorliska. Die Produktion von 2006 beging ihre gefeierte Wiederaufnahme im schmucken Teatro Rossini, einem hufeisenförmigen Logentheater aus dem frühen 19. Jahrhundert. Ein bedrohlich-verfallener Wald, eine übergroße Eisenpforte und die Ausläufer eines verfallenen Schlosses schaffen die Atmosphäre. Mit dezenter Ironie wird hier auf eine Idealromantik angespielt. Diesmal ist es der junge Francesco Lanzilotta am Pult des Orchestra Sinfonica G. Rossini, der die ganze Brillanz der Rossinischen Partitur entfaltet. Mit enormer Vielfalt der Ausdrucksmittel, mit Raum für kleine Instrumentalsoli, luftig atmender Agogik, homogenen Temporelationen und weiten Phrasierungen demonstriert er eine Meisterschaft der Instrumentation und der formalen Phantasie der Musik, die jedes Vorurteil pulverisiert. Kongenial wird dies auf der Bühne von seinen außergewöhnlich guten Sängern aufgenommen, allen voran von Salome Jicia, die bereits im Vorjahr als Donna del Lago begeisterte. Sie besitzt die komplette Belcantostimme, mit dunkel grundierter Soprantiefe, tragfähiger und ausdrucksstarker Mittellage, der nötigen geläufigen Gurgel und vor allem einem enormen Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten von lyrischen Weiten bis hin zu rasanten Verzierungen. Dmitry Korchak steht ihr mit tenoralem Glanz und Virtuosität nicht nach und Nicola Alaimo gelingt eine hinreißende Mischung aus auftrumpfenden Bösewicht und verhindertem Don Giovanni. Phänomenal die großen Ensembles mit ihren explodierenden Konsonanten und rasanten Parlandorhythmiken, die vor allem Carlo Lepore in bester Buffotradition beherrscht. In dieser Qualität dargeboten muss Rossini den letzten Skeptiker überzeugen.

Teatro Rossini • Foto Uwe Schneider
Teatro Rossini • Foto Uwe Schneider

Mit seiner Qualität von zielgerichteter Nachwuchsarbeit, mit sorgfältiger Editionsarbeit, Quellenstudien, dem Bewusstsein für Stilistiken und Spielweisen, dem Vertrauen in Text, Musik und dem Respekt vor der ursprünglichen Gesamtkonzeption der Werke durch ihre Autoren ist das Rossini Opera Festival in Pesaro ein Modell, das auch 2017 noch mehr Nachahmung verdient hätte. Man stelle sich vor, man würde nach diesen Kriterien die Opernliteratur des 19. Jahrhunderts aufarbeiten, so wie dies für die Oper des Barock vor etwa 50 Jahren begann …  Was das wohl für eine Erschütterung gäbe? ¶